Variationen von „Autonomie“ oder: Über das Leiden an der Heteronomie

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Variationen von „Autonomie“ oder: Über das Leiden an der Heteronomie

 

Als in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1980 vor dem Zürcher Opernhaus, dem Symbol der Kultur-, Macht- und Geldelite der Stadt, jene „Bewegung“ ihren Anfang nahm, die während fast dreier Jahre nicht nur Zürich, sondern die meisten grösseren Schweizer Städte erschütterte, da ging es der Jugend in ihrer unmissverständlichen Auflehnung gegen das Establishment um „Autonomie“. Was verstand sie unter „Autonomie“? Vordergründig verlangte sie selbstverwaltete Jugend- und Kulturzentren, so das AJZ an der Limmatstrasse in Zürich, das zum städtischen „Gegensymbol“ wurde, um welches mit der Zeit eine erbitterte Schlacht zwischen den darin verschanzten Jugendlichen und den mit Wasserwerfern und Gummigeschossen bewaffneten „Ordnungshütern“ tobte. Doch hinter der vordergründigen Forderungen stand mehr, nämlich der Anspruch der Jugendlichen auf Respekt vor ihren Bedürfnissen, vor ihrer eigenen Kultur und ihrer eigenen Sprache, kurz, auf das, was der Jugend „selbst zukommt“, was ihr, auf Grund ihres Menschseins und ihres spezifischen Alters, eigentlich „zugeteilt“ ist, aber durch die herrschenden Machtverhältnisse verwehrt wird.

„Autonomie“ hat, wenn der ursprüngliche griechische Wortsinn ernstgenommen wird, tatsächlich die Bedeutung, die in den sogenannten „Jugendunruhen“ gemeint war, ist doch „nomos“ vom Verb „nemein“ abgeleitet, das „zuteilen“ und „zukommen lassen“ bedeutet, sodass „nomos“ in erster Linie „das Zugeteilte“ und erst in einer weiteren Bedeutung „das Gesetz“ heisst. Interessant ist, dass vom gleichen Verb nicht nur „nomos“, sondern auch „nemesis“ stammt, was „gerechter Tadel“ oder „Zorn“ bedeutet und in der griechischen Mythologie in der Gestalt der „Nemesis“, der Göttin der Vergeltung“, personifiziert wurde. Tatsächlich zeigte es sich in der Geschichte immer wieder, dass das Streben nach Autonomie sowie Zorn und Strafe nah beieinander sind, geht es doch beim „Zuteilen“ um nichts Geringeres als um Macht, resp. um die Fähigkeit, selber Entscheide zu treffen, das Handeln zu bestimmen und aus eigener Kompetenz, in Absprache mit anderen, die Verhältnisse zu ordnen. Gerade die Jugend, die in vielerlei Hinsicht nicht nur von den Eltern, sondern von der Erwachsenengesellschaft überhaupt abhängig und dadurch Objekt einer – äusserlich fast alles umspannenden und fast alles bestimmenden – Heteronomie ist, spürt, wie sehr ihr Bedürfnis, ihre eigene Handlungsfähigkeit auf die Probe zu stellen, auf den angstbesetzten Widerstand der Machthabenden stösst. Und da dieser Widerstand sich im Besitz von Mitteln weiss, von Geld wie von jeder Art von „Waffen“, werden diese Mittel eingesetzt, rücksichtslos und unverhältnismässig, um das Autonomiestreben zu brechen. Dies eben ist Gewalt. Gewalt kann zumeist kurzfristig das, wozu sie eingesetzt wird, erreichen, doch längerfristig erweist sie sich als Mittel des Verlusts und der folgenschweren Destruktion, ob sie sich gegen Kinder und Jugendliche oder gegen ganze Völker wende. Der Kampf um Autonomie, den die albanischen  Kosovari gewaltfrei zu führen gedachten, den sie aber infolge der serbischen Macht- und Gewaltstrategien mit der traumatisierenden Vertreibung ihrer Bevölkerung und Tausenden von Toten bezahlen mussten, ist ein jüngstes Beispiel der unheilvollen Verstrickung der Bedeutungen von „nemein“.

Autonomie zu erlangen, das wird nicht allein durch äussere Widerstände und Verhinderungen erschwert. Beim einzelnen Menschen ordnen sich alle körperlichen, psychischen und intellektuellen Lernprozesse in das Streben nach Autonomie ein, aber immer wieder hemmen Angst und Selbstzweifel, Gewissensbisse, Fehlentscheide und Selbstverhinderungen mögliche Schritte, die zu mehr Selbgestaltung oder zu einem freieren Beziehungsleben und Handlungsspielraum führen könnten. Das Unbewusste stellt sich dem freiheits- und tätigkeitshungrigen Ich und dem bewussten Selbst (autos) ständig als die „andere“ (heteros) Macht entgegen, als die Macht der internalisierten Geschichte seit der frühesten Kindheit, die wiederum Resultat der Geschichte der Eltern und Grosseltern ist, eine weit zurückzuverfolgende vielschichtige Heteronomie. Ob sich diese, wie beim einzelnen Menschen, als die fordernde oder verhindernde Macht der im Unbewussten gespeicherten Mangelerfahrungen und psychischen Verletzungen manifestiere, oder ob sie sich als autoritäre, repressive äussere Hierarchie oder gar als Fremdherrschaft zeige, immer ist sie Ursache von Leiden. Diesem Leiden stellt sich das Bedürfnis nach Autonomie als Gegenkraft entgegen, in allen Variationen, im Trotz, in der Auflehnung und schliesslich, was das Ziel ist, in der allmählich gelingenden, sich auch im Scheitern bewährenden Selbstzustimmung und Selbstbestimmung.

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