„Die revolutionärste Tat ist, laut zu sagen was ist“. Eröffnungsrede der Installation „Inside & Outside the Tube in Adliswil am 18. 4. 1998

„Die revolutionärste Tat ist, laut zu sagen was ist“.

Eröffnungsrede der Installation „Inside & Outside the Tube in Adliswil am 18. 4. 1998

 

 

Die Feststellung stammt von Rosa Luxemburg, die den Mut, „laut zu sagen, was ist“, mit ihrem Leben bezahlen musste. Sie wurde 1919 durch eine Horde rechtsradikaler Deutschnationaler in Berlin ermordet und in den Landwehrkanal geworfen. Dieses Verbrechen markierte den Anfang der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Herrschaft des straflosen Unrechts, Jahre vor der Machtübernahme Hitlers.

„Die revolutionärste Tat ist, laut zu sagen, was ist“. „Laut“ bedeutet öffentlich. Wer in aller Öffentlichkeit sagen kann, „was ist“, kann die gesellschaftliche Realität beeinflussen, kann sie eventuell sogar verändern. Weil in der Sprache eine Veränderungsmacht liegt, ist die Sprache das wichtigste politische Instrument. Daher beanspruchten während Jahrhunderten ausschliesslich die Vertreter der herrschenden Schichten den öffentlichen Raum. Immer war die öffentliche Stimme  jenen verwehrt, die als rechtlos betrachtet wurden und über welche die herrschenden Schichten verfügten, wie es ihrer Willkür oder ihrem Kalkül entsprach. Während Jahrhunderten waren daher die abhängigen Schichten der Bevölkerung, die Arbeiter in den Fabriken und in der Heimindustrie, die arme Landbevölkerung, die Hausangestellten, die Soldaten, die Fremden, die Kinder, bis in die jüngste Zeit auch die Frauen jeder Schichtzugehörigkeit, kurz all jene Menschen, die sich den sogenannt „übergeordneten Interessen“ unterzuordnen hatten, in die Stummheit verbannt, weil nur so jegliches Unrecht, das ihnen im Namen dieser sogenannt „übergeordneten Interessen“ angetan wurde – Ausbeutung, Willkür, Ungerechtigkeit, Missachtung ihrer Bedürfnisse, Respektlosigkeit, selbst grausame Behandlung – geschehen konnte.

Das Verlassen der Stummheit, der Schritt in die Öffentlichkeit war nie leicht. Immer war es die Unerträglichkeit des Unrechts, die Verzweiflung, die es unvermeidlich machte, endlich „laut“ zu sprechen, d.h. für viele hörbar zu sagen: „Auch ich bin ein Mensch, auch ich beanspruche Respekt, auch ich gehöre zur Gesellschaft der Menschen, die alle Respekt und Rechte beanspruchen, aus dem einen Grund: weil sie Menschen sind. Ich ertrage es nicht länger, gedemütigt und erniedrigt zu werden.“

Immer bedurfte es dazu des Muts, da die Folgen unabsehbar waren, und immer bedurfte es auch der gegenseitigen Unterstützung mehrerer sowie der Stärkung der Schwächeren durch die Stärkeren, der Koalition der scheinbar Rechtlosen mit Menschen, deren Rechte unbestritten waren. Nur so konnte auch in der Vergangenheit das zustande kommen, was eine „revolutionäre Tat“ genannt werden kann: etwas, was die Gesellschaft aufrührt, eventuell gar tatsächlich auf grössere Gerechtigkeit hin verändert.

So verhält es sich mit den Menschen, die heute, stellvertretend für viele, die stumme bleiben, sich mit dieser Installation vernehmbar – „laut“ – in die Öffentlichkeit wagen. Es sind Menschen, die infolge von Krieg, von lebensbedrohender Gewalt, von äusserster Not und Perspektivelosigkeit nicht weiter in ihrer Heimat leben können und in der Schweiz, in diesem Land, das in der Welt als Land der Humanität und des grossen Reichtums gilt,  Zuflucht suchen. Es ist wahr, es geht uns hier gut, auch wenn der Unterschied zwischen jenen Schweizerinnen und Schweizern, die in grossem Überfluss leben, und jenen, deren Budgets kleiner geworden sind und denen die Zukunft Angst macht, zunehmend grösser wird. Die Männer, Frauen und Kinder aber, die im Durchgangszentrum Adliswil für eine Übergangszeit Aufnahme gefunden haben, leben in unvergleichlich prekäreren Verhältnissen, nicht nur in materieller Hinsicht. Das Prekärste ist, dass sie als rechtlos gelten, dass über sie einfach verfügt wird, dass die meisten offiziellen Vertreter und Vertreterinnen der Schweiz ihrer Person und ihrer Geschichte gegenüber zum vornherein mit Misstrauen und Ablehnung begegnen. In den sog. „Empfangstellen“ an der Schweizer Grenze – in Kreuzlingen, Basel, Genf und Chiasso – ist die Befragungsatmosphäre so, dass sie kaum zu sprechen wagen, geschweige zu erzählen, was sie in der Heimat durchmachten und was der wirkliche Grund ihres Wunsches ist, in die Schweiz zu kommen. In der Haltung der meisten Behördenvertreter und -vertreterinnen zeigt sich jene respektlose, gefühllose Überheblichkeit, die immer das Merkmal von Herrschaft war und ist. Diese Haltung, verbunden mit der Macht, über menschliche Schicksale zu bestimmen, über Menschen zu verfügen, sie für unerwünscht, für asylunberechtigt zu erklären, sie auszuweisen, ja sogar unter Zwang, mit Handschellen gefesselt, obwohl sie nichts verbrochen haben, „auszuschaffen“, bedeutet Gewalt. Gewalt, wo immer sie sich zeigt, besteht im Missbrauch der Macht über Menschen.

Ich will ein Beispiel erzählen: Am 10. Februar dieses Jahres meldete sich ein vierzehnjähriger Bub aus Albanien in der sog. Empfangsstelle Kreuzlingen. Am Tag zuvor war er in die Schweiz eingereist, unbegleitet, allein. Er hiess Xhevair Dura. Insgesamt sieben Tage verbrachte er an diesem stacheldrahtumzäunten, unfreundlichen Ort, der von allen Flüchtlingen, die ich kenne und die mir von ihrem Aufenthalt dort erzählt haben, als Ort der Entmutigung, als ängstigend und einschüchternd geschildert wird. Bei jenen, die in ihrer Heimat in Lagern oder Gefängnissen waren, wurden dort beklemmende Erinnerungen wach. Wie wirkt ein solcher Ort erst auf ein Kind? Während seines Aufenthalts in Kreuzlingen wurde Xhevair einmal von einem Beamten oder einer Beamtin des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF) kurz befragt, vermutlich eher oberflächlich: die Befragungen werden nach einem pauschalen Muster vorgenommen.  Am 17. Februar erfolgte die Zuweisung an den Kanton Zürich, Xhevair verbrachte die Nacht im Durchgangszentrum an der Rieslingstrasse und wurde am nächsten Tag, am 18. Februar, also genau vor zwei Monaten, dem Durchgangszentrum Adliswil zugeteilt, das unter der Leitung von Thomas Schmutz auf die Betreuung unbegleiteter Jugendlicher spezialisiert ist. Xhevair wurde in die Sonderklasse des Durchgangszentrums eingeteilt. Er durfte, wie es seinem Alter entspricht, zu lernen beginnen, zusammen mit Gleichaltrigen aus den verschiedensten Herkunftsländern. Vielleicht konnte dies wirklich einen Neuanfang bedeuten? Was sich jedoch als Hoffnung regte, was wie eine Chance aussah, dauerte kaum drei Wochen. Am 6. März teilte ihm das BFF per Post den negativen Asylentscheid mit, mit der Erklärung, Albanien gehöre zu den „save countries“, mit anderen Worten, dort lasse es sich „in Sicherheit und Würde“ leben. Dem Kind wurde eine Frist bis zum 20. März gesetzt, um sog. „freiwillig“ auszureisen. Aber wollte Xhevair das? War das gut für ihn? Hatte er deswegen den Abschied von Zuhause auf sich genommen, seine Angehörigen, Freunde, vielleicht seine Tiere, mit denen er gespielt hatte, hatte er deswegen alles zurückgelassen? Hoffte er, es würde vielleicht doch nicht wahr sein? Auf jeden Fall begann er am 12. März, nach Gesprächen mit Walter Riedweg und Mauricio Dias, am Projekt mitzuarbeiten, dessen Installation wir heute öffentlich feiern. Obwohl Xhevair schüchtern war, wusste er, dass er etwas zu sagen hatte, dass er mit seiner Stimme zum Gelingen des Porjekts beitragen wollte. Es lag ihm am Herzen. Doch am 30. März musste er gemäss einer Weisung das Durchgangszentrum verlassen. Er wurde einer begleiteten albanischen Jugendwohngruppe in Zürich, an der Elisabethenstrasse, zugeteilt. Wieder ein Wechsel, wieder eine Entwurzelung. Wie viele Entwurzelungen erträgt ein Kind? Wie viele Entwurzelungen erträgt ein Mensch? Trotz der neuen Aufenthaltssituation wollte er am Projekt weiterarbeiten, und er nahm sich vor, jeden Nachmittag, von Montag bis Donnerstag, zu diesem Zweck weiter nach Adliswil zu kommen.

Am 2. April , nachts um zehn Uhr, tauchten an der Elisabethenstrasse drei zivil gekleidete Beamte der Fremdenpolizei auf. Sie verhafteten den Vierzehnjährigen, steckten ihn in irgendeine Zelle, bis er drei Tage später, am 5. April, per Flugzeug nach Tirana ausgeschafft wurde.

Ist ein Unrecht, das im Namen des Gesetzes erfolgt, weniger Unrecht? Die Schweiz hat internationale Konventionen ratifiziert: zuletzt – nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention –  die Konvention über die Rechte des Kindes. Was Xhevair Dura angetan wurde, in diesem Jahr 1998, in diesem Monat April, ist ein Hohn auf die Kinderrechtskonvention, ist ein Hohn auf die Glaubwürdigkeit jeder bundesrätlichen Unterschrift unter ein auf Humanität verpflichtendes Dokument. Dass das Recht eines Kindes auf Schutz seiner Grundbedürfnisse, dass zum Beispiel sein Recht auf einen Vormund, der die Würde seiner so ungeschützten Persönlichkeit verteidigt, mit Verachtung übergangen wird, und dies im Namen des Rechtsstaates Schweiz, ist eine Schande, ist ein Skandal, ist ein offiziell begangenes Unrecht.

Xhevair Duras Stimme  blieb erhalten. Seine Stimme, wie die Stimme aller, die Sie aus den hier installierten Röhren hören, ist ein Appell an Sie alle, Unrecht, das im Namen des Gesetzes geschieht, nicht einfach geschehen zu lassen, sondern dagegen zu protestieren. Menschen sind verschieden in Bezug auf ihre Herkunft und in Bezug auf ihr Aussehen, aber sie sind nicht verschieden in Bezug auf das Menschsein. Eine aus den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien vertriebene, schwer traumatisierte Frau, deren Ausschaffung ebenfalls bevorsteht, sagte mir: „Du kannst alles verstehen, wenn Du es dir wirklich vorstellst.“ Uns sie bat mich, meine Vorstellungskraft zu Hilfe zu nehmen, um ihren Widerstand gegen die Ausschaffung zu unterstützen.

Lassen Sie die Vorstellungkraft wirken, lassen Sie sie zu, versetzen Sie sich an die Stelle dieser Menschen, übernehmen Sie ihren Platz. Sie werden zu verstehen beginnen, dass sie nichts Ungehöriges wünschen. Sie wünschen lediglich, als Menschen respektiert zu werden. Sie wünschen, dass dieses Bedürfnis nicht mit Gewalt erstickt wird. Sie wünschen, als Menschen unter Menschen zu leben.

 

Maja Wicki / Zürich, 18. 4. 1998

 

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