Beherztheit – Aufbegehren aus der Ohnmacht gegen Unrecht und Missbrauch von Macht

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Beherztheit

Aufbegehren aus der Ohnmacht gegen Unrecht und Missbrauch von Macht

 

Hannah Arendt war sieben Jahre alt, als ihr Vater starb, im Oktober 1913, rund zehn Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wenige Monate vor dessen Tod hatte sie ihren Grossvater verloren, der in den Jahren der zunehmend belastenden Krankheit des Vaters für sie einen stärkenden „Spielkameraden“ bedeutet hatte. Der Verlust von Vater und Grossvater bewirkte, dass ihre Mutter, Martha Arendt in dieser Zeit der zunehmenden Masslosigkeit offizieller Gewalt und wachsender antisemitischer Übergriffe jede gesellschaftliche Aufgabe allein übernehmen musste. Eines der wichtigen „Gebote“, das sie ihrer Tochter lehrte, war, in der öffentlichen Schule, die sie besuchte, keinen Machtmissbrauch zu dulden, sondern aufzustehen und das Schulzimmer zu verlassen, wenn ein Lehrer eines der hilflosen Flüchtlingskinder, das zu den aus Russland nach Königsberg geflohenen jüdischen Familien gehörte, ungerecht oder herabsetzend behandelte. Sie solle zu ihr nach Hause kommen und den Ablauf genau schildern. Martha Arendt schrieb darauf an den Direktor der Schule einen erzürnten Brief und forderte, dass jedes Kind, unabhängig von Herkunft und gesellschaftlichem Status, den gleichen Respekt und die gleiche Unterstützung erlebe.

Die angstfreie Beherztheit ihrer Mutter, die mit grosser Überzeugung den politischen Widerstand Rosa Luxemburgs unterstützte, war eine der massgeblichen Prägungen, gegen welche Hannah Arendt keinen Widerstand leistete, im Gegenteil. In einem öffentlichen Gespräch sagte sie 1964, nach dem Erscheinen ihres Buches über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, in welchem sie ihre Überlegungen über die „Banalität des Bösen“ dargestellt hatte, sie habe sich „mit den Leuten“ auseinandergesetzt, nicht sehr freundlich, auch nicht sehr höflich. „Ich sage meine Meinung“.

Was für Hannah Arendt zählte, seit der Kindheit, war die eigene Verantwortung im Befolgen der inneren, persönlichen – nicht der gesellschaftlichen – Massstäbe des richtigen Handelns, mit den Mitteln der Sprache. Ihre Beherztheit, sich klar zu äussern, bezahlte sie auf schmerzliche Weise, insbesondere durch den Abbruch zahlreicher Beziehungen, die während Jahrzehnten als „Freundschaft“ gegolten hatten. Damals war Hannah Arendt 58 Jahre alt, als gesellschaftsanalytische Denkerin längst keine Unbekannte mehr, weder in den USA, wohin sie 1941 nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazi-Truppen emigrieren konnte, noch in Europa, wo sie 1933 aus Deutschland über Prag und Genf nach Paris flüchten musste. Bis zu ihrem Tod Anfang Dezember 1975 litt sie unter der Tatsache, die sie erlebt hatte: dass der spezielle Mut, der „Zivilcourage“ heisst, zwar dem Gewissen entspricht, aber an den Rand der Gesellschaft drängt. Dass wer diesen Mut nicht scheut, zur Feindin – oder zum Feind – erklärt wird.

 

Aufbegehren gegen Unrecht, das offiziell als „Recht“ erklärt wird

Vergleichbar mit der Erfahrung, als „Feindin“ abgestempelt zu werden, wie Hannah Arendt sie vor allem im jüdischen Kreis machte, ist – unter vielen anderen – jene von Frau B., die in einem der Innerschweizer Bergkantone, in welchem die Täler für „Fremde“ – insbesondere für Asylsuchende – noch enger und dunkler sind als für die dort aufgewachsenen Bewohner, ihren ständigen Einsatz für die hilflosen Entrechteten unentwegt umsetzt. Ob es um deren körperliches oder seelisches Leiden, um deren Wohn- und Arbeitsbedingungen oder um die Ausbildungszusammenhänge der Jugendlichen geht, ständig setzt sich Frau B. für eine Verbesserung unentwegt ein, obwohl sie im öffentlichen Raum, insbesondere von Seiten der Behörden, immer wieder verletzende Reaktionen erlebt. Für alle, die in ihrer „sprachlosen“ Ohnmacht nicht aufbegehren können, wenn fundamentale menschliche Bedürfnisse missachtet werden, ist sie die einzige Instanz, deren Aufmerksamkeit, Geduld und Verlässlichkeit mehr wie Hoffnung weckt. Obwohl sie oft siebenmal ohne reale Antwort bleibt, gibt sie ihre Schritte, die zu gehen sie als innere Verpflichtung empfindet, nicht auf. Dabei setzt sie nicht eine sprachliche Brillanz um wie Hannah Arendt, sondern die mütterliche Unmissverständlichkeit, die Martha Arendt mit ihren Briefen und Einwänden gegen menschlich nicht akzeptierbares Verhalten von „Mächtigen“ spüren liess.

Es ist eine Grundhaltung der Verpflichtung Menschen gegenüber, die sich – wie Kinder – nicht wehren können: eine ständige moralische Kraft, die als Beherztheit in ihr spürbar ist, ohne politische oder andere gesellschaftliche Erfolgsabsicht, d.h. ohne den geringsten „Gewinn“ für sich selber. Es geht Frau B. lediglich um eine alltägliche, bescheidene Korrektur unzumutbarer Lebensbedingungen und damit um die praktische Korrektur seelischen Leidens, das durch die Fortsetzung von Entrechtung und Erniedrigung destruktive Folgen haben könnte, als fatales Aufbegehren, das sich in Gewalt gegen andere Menschen oder in Suizidalität zuspitzen kann, wie dies immer wieder erlebt wird. Tatsache ist, dass ihr Einsatz für die verängstigten Asylsuchenden bewirkt, dass sie zur lästigen „Feindin“ der zuständigen Behörde erklärt wird, auch dies auf alltägliche, scheinbar unauffällige, jedoch auf überall spürbare Weise.

 

„Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden“

schrieb Ulrike Meinhof 1962. Vierzehn Jahre später, am 8. Mai 1976, wurde sie in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden. Als gesellschaftskritische Denkerin, als Pädagogin und Journalistin, als Atomwaffengegnerin, die zur RAF-Terroristin wurde, war sie für die Mächtigen eine Staatsfeindin, die es zu jagen und einzusperren galt. Gleichzeitig aber war sie für viele Sprach- und Machtlose eine Kämpferin für Demokratie und Menschenwürde, für viele ihrer linken Zeitgenossen und Zeitgenossinnen das tragische Opfer einer fundamentalistisch verhärteten und damit inhuman gewordenen eigenen Theorie des richtigen Handelns, einer Theorie, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte und damit selbst zum Instrument von Unrecht wurde.

Was ist „die Würde“ der Menschen? Das Wort klingt formelhaft und abgenutzt. „Würde“ ist zur Hülse geraten. Was die „Würde“ der Menschen ist, zeigt sich nicht zuletzt in der Zivilcourage des Widerstands gegen die Entwürdigung, resp. gegen die subtile, alltägliche oder totale Zerstörung der Würde. Ich frage mich, wie es möglich ist, dass sich heute viele Menshen freiwillig verdummen und verrohen lassen, dass sie dafür noch zahlen. Dass sie nicht einsehen, dass sie damit in ihre eigene Entwürdigung einwilligen.

Verrohung, Gefühlskälte und Beliebigkeit haben heute ein unerträgliches Ausmass angenommen. Ich denke, dass es dringlich ist, dass Menschen beherzt dagegen aufstehen, dass Zivilcourage unter wirtschaftlichem Druck nicht immer seltener wird. Es ist dringlich, dass viele gemeinsam gegen die subtile und offene Entwürdigung von Menschen protestieren, dass sie sich dabei Mut machen, dass wir einander mit Wärme und Humor, mit Unmissverständlichkeit und Hartnäckigkeit unterstützen. Dass wir uns einfach nicht daran gewöhnen, dass die einen Menschen Rechte haben und die anderen keine, dass die einen Menschen für sich beanspruchen, im Zentrum zu sein und daher die Ausgrenzung anderer als „normal“ hinstellen, dass die einen die anderen aus Machtkalkül, aus Parteieninteressen schlecht machen und an den Rand – oder über den Rand hinaus – drängen dürfen, ob es die Fremden seien oder die Drogenabhängigen beim Bahnhof Letten oder anderswo, ob es die Kinder oder die Jugendlichen oder die Frauen seien, ob es die sogenannt Unangepassten seien, ob es Asylsuchende oder Arbeits- und Glücksuchende seien, ob es alte und fürsorgeabhängige Menschen seien – all deren “Würde” muss doch ebenso unantastbar sein wie die von Menschen, die sich im “Zentrum” wähnen, die über Macht verfügen und sich unantastbar vorkommen. Würde kommt doch entweder allen Menschen zu, weil sie Menschen sind, oder keinem.

Daher, meine ich, ist Widerstand gegen Entwürdigung heute zu leisten, tagtäglich, als etwas kaum Nennbares, aber als unaufschiebbar Wichtiges. Dieser Widerstand zeigt sich in allen Formen des Zusammenlebens: immer in der Absage an jede Komplizenschaft mit Unrecht, das sich als Recht ausgibt.

 

Erinnern des Eigenen über das Fremde

Als Mitte der Neunzigerjahre die algerische Schriftstellerin Assia Djebar in der Schweiz ihr Buch “Le blanc d’Algérie” präsentierte sowie einen Film  “La Zerda ou les chants de l’oubli”, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte, fühlte ich mich auf merkwürdige Weise aufgewühlt, obwohl nichts aus dem Buch oder Film mich direkt betraf. Der Film, aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung über die Sprache (resp. über die Namengebung), über die Kontrolle der Bedürfnisse, eine Geschichte der mangelnden Anerkennung, der Unterwerfung und der unendlichen Demütigung. Die Demütigung, das wurde deutlich, bestand und besteht in der Verunmöglichung der Eigendefinition der Bedürfnisse und der Art und Weise deren Erfüllung. „Verun-möglichung“ bedeutet, dem Wortsinn gemäss, Unterbindung von Möglichkeit. Was als Möglichkeit unterbunden wird, soll nie Realität werden. Zumeist resultiert Verunmöglichung aus dem Missbrauch von Macht, als Folge von Herrschaft. Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch generiert und in Herrschaft ausartet, wurde mir bei der Betrachtung des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar, und ich war davon erschüttert. Über das Fremde konnte Eigenes erinnert werden.

Im Nachdenken über Assia Djabar’s Präsentation erinnerte ich mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch “Les damnés de la terre” ausgegangen war, diesem Manifest des 1924 in der französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns, der in Frankreich Philosophie und Medizin studiert hatte, während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance mitkämpfte und anschliessend als Psychiater in Algerien während drei Jahren eine psychiatrische Klinik leitete, worauf er in einem öffentlichen Brief an den französischen Generalgouverneur demissionierte und sich der Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss. 1961 erschien Fanon’s Buch in Paris, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, in welchem dieser die europäischen Länder, die “Mutterländer”, aufruft, sich in Fanon’s Buch zu vertiefen, damit sie verstehen, was auf sie zukommt, nämlich die Frucht der Demütigung, nämlich die während Generationen  zurückgehaltene Wut, die sich lange nicht als Gewalt gegen das “Mutterland” und dessen Herrschaft zu richten wagte, sondern im kolonisierten Land internalisiert und in sog. “Bruderkriegen” ausgetragen wurde. Sartre schrieb im Vorwort, dass “der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt, das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”. Er versuchte deutlich zu machen, worum es Fanon ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive Neurose zu heilen, die von den Kolonialherren durch die Einführung des “Eingeborenenstatus” geschaffen worden war, eines Status der Beherrschung und der Unmündigkeit, jenem ähnlich, der für die Kinder defininiert wird. Das zutiefst Neurotisierende daran war, dass mit dem “Eingeborenenstatus” zugleich der Status des “Menschen” gefordert und verleugnet wurde, mit anderen Worten, dass von den Kolonisierten einerseits verlangt wurde, dass sie sich wie Angehörige des “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten, marschierten, als Soldaten kämpften, Steuern bezahlten, auch Schulen besuchen und studieren durften, dass sie sich aber andererseits immer ihrer Abhängigkeit und ihrer Minderwertigkeit bewusst bleiben sollten. Wollten sie den Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten sie zu Komplizen der Kolonisierung werden.

Um die kollektive Neurose zu heilen, gibt es, nach Frantz Fanon, nur die Gewalt. Fanon rief mit seinem Buch zur Gewalt auf, zum Mut zur Gewalt. “Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstosses oder einer friedlichen Übereinkunft sein”. Und Fanon fuhr fort, dass so, wie sich die Kolonisierung unter dem Zeichen der Gewalt abspielte und erzwungen wurde, sowohl äusserlich in der Organisation des Landes, wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten, die Dekolonisierung nur durch Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne der Prozess der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess der Identitätsfindung, der letztlich unabschliessbar ist.

Sind Fanon’s Thesen geeignet, um zu erklären, was in Türkisch-Kurdistan, in Kosova oder in Gaza sich Ausdruck verschafft, was aber auch die Israelis als Nation bewegt? Ich weiss nicht, wer Fanon’s Buch noch kennt. In den sechziger Jahren, als es erschien, wirkte es wie ein Fanal. Ich war damals knapp über zwanzig. Der Aufruf zur Gewalt, die Gewalt selbst erschreckte mich, ein ständiger Widerstand zu verstehen beherrschte mich. Gleichzeitig aber ahnte ich, dass der mit Gewalt verbundene Aufstand die kollektive Sprache für jene Auflehnung war, die ich selbst seit meiner Kinderzeit als Notwendigkeit empfand, für die ich einen Ausdruck suchte und auch auf unterschiedliche Weise fand, je nach den Möglichkeiten, über die ich vorweg verfügte. Ungehorsam, Widerspruch,  Fluchten (“fugues”), andere symbolische Formen des Ausdrucks, künstlerische, oder literarische, dann auch internalisierte Gewalt, etwa ein schwerer Unfall, stets der Versuch von Gegenentscheiden zu jenen der Vorfahren bezüglich meiner Entwicklung und Bildung, erneute “fugues” und Eigenentscheide, allmählich eine politische Eigendefinition in völliger Abkehr von der von den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen als Programm aufrechterhielt, damit eine Absage an die Modelle der bürgerlichen Sicherheit, Zustimmung letztlich nur noch zur Auflehnung gegen Herrschaft, gegen den Missbrauch der Kinder, gegen den Missbrauch der Menschen in allen Bereichen, daher wiederum Zustimmung zur Kreativität, zur – letztlich – gewaltfreien Auflehnung der Schwachen im eigenen Land und anderswo, welche durch die Auflehnung stark werden. Doch dies ist keine lineare Entwicklung, sondern ein Weg mit Barrikaden, mit Spalten und Abbrüchen.

 

Das gelebte Leben

Es gibt Zeiten der Ermattung, in denen es scheint, dass die Kraft zum Widerstand gegen die innere Kolonisation abhanden gekommen ist. Alle Befähigung scheint verbraucht zu sein, und keine Erinnerung daran stellt sich ein. In diesen Zeiten geht das Gefühl von Realität verloren, auch das Gefühl für den Rythmus der Zeit, selbst das Gefühl für Recht und Unrecht. Die Unterwerfungszugeständnisse, die in solchen Zeiten gemacht werden, demütigen in einem Ausmass, dass Frustrationen und Selbstentfremdung den Menschen sich immer kleiner und ohnmächtiger fühlen lassen. Um des puren Überlebens willen lässt er/sie die Kolonialmacht gewähren, begehrt nicht mehr auf, aber spürt, wie diese ihn/sie im Innersten auf lebensbedrohliche Weise besetzt. Der Verlust der Widerstandskraft lässt die unbewusste Erinnerung an früheste Abhängigkeitsverhältnisse wach werden, als selbst das Weinen nichts fruchtete.

Was tat damals das Kind? Es war fähig zur Kreativität, es setzte seine Imagination ein, und das Unbewusste aktivierte Kräfte aus dem Möglichkeitsraum. Wenn ich an Hecken vorbeigehe und wildes Sperlingsgezwitscher vernehme, kommt es mir vor wie das verzweifelte Hungerweinen der Kinder. Es ist beklemmend, ich spüre meine Ohnmacht, doch da befreit sich plötzlich ein einzelner Vogel aus dem undurchschaubaren Gewirr, manchmal eine ganze Schar. Ich gehe erleichtert weiter, irgendwie zeigt sich so,scheint mir,  in welchem Mass der Kampf um die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse einhergeht mit dem Kampf um das Erringen der eigenen Definitionsmacht und um das Entrinnen aus Zwängen, und wie dieser Kampf dem persönlichen wie dem kollektiven Prozess der Dekolonisierung entspricht. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen”, schreibt Adorno in den “Minima Moralia”.

Aber was ist das “richtige Leben”? Selten lässt es sich anders denn im Rückblick erkennen, nach dem Aufspüren, Erfühlen und Erkennen der Orte der Erinnerung. Es ist ein Weg, der in der Kindheit beginnt, dessen Anfänge aber viel weiter zurückliegen, in den Kindheiten der Eltern und Grosseltern und deren Eltern, dessen Verlauf und Geschichte bei jedem Sturz und bei jeder Ermattung spürbar wird, wobei er über das Erinnern und Bewusstwerden nach und nach weniger ängstigt, ob er schmal und steinig sei oder manchmal gar lustvoll. Fehlentscheide aus Unkenntnis gehören dazu, ungeeignetes und falsches Schuhwerk, Übereiltheit oder gar Blindheit beim Gehen, immer wieder Flucht, Umwege und Irrwege.All dies ist ermüdend und kräftezehrend. Doch Eros ist das Kind nicht nur der Penia, sondern auch des Poros, ausnahmslos in jedem Menschen. Wenn das Leben vorweg – mehr oder weniger – gelingt, dann, meine ich, als Zustimmung zu einer zwar kolonial geplünderten, jedoch wiederaufbaubaren und reparierbaren Welt. Im Lauf des Gehens werden nicht nur die Mängel des Weges bewusst, sondern auch Genugtuung über das Ausstehen- und Überwindenkönnen  von Hunger, Durst, Einsamkeit und Erschöpfung, und ab und zu sogar wunderbar ein Gefühl der Rast und der tiefen, befreienden Erholung, eine Erfahrung von Glück.

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