Zeitverhältnisse – Kindheitsbilder der Zeit

Zeitverhältnisse

Kindheitsbilder der Zeit

Weiterbildung UniS Bern / Herbst-Winter 2008

 

  1. Vorlesung

 

(…) „Niemals eine Atempause wie in Ur

Da ein Kindervolk an den weissen Bändern zog

Mit dem Mond Schlafball zu spielen – (…)“[1]

 

  • Wie wird in der Kindheit die Zeit wahrgenommen? Wie wird die Zeit erlebt?

Einen weiten Weg müssen wir bereit sein zu gehen, tastend zurück in die Vorzeit jeglicher Zeitempfindung, in die Vorzeit der Erinnerung und der Sprache, in die Vorzeit des Wissens. In welchem Urgefilde war die Kindheit? Was bedeutete die Zeit?

Die Zeit war ein transgenerationelles Geflecht, eine Gleichzeitigkeit der dem neuen Leben übertragenen Ahnengeschichte und dessen Entwicklung innerhalb weniger Monate im verschlossenen Raum des Mutterbauchs, in deren Wärme, im Summen der warmen Blutkanäle, in deren pulsierendem Plätschern und Sausen, im Zeitrhythmus des pochenden Herzens der Mutter, pausenlos geschaukelt vom Atem der Mutter, genährt mit der Wärme ihres Körpers, angeheizt manchmal schier bis zum Verbrennen von glühender Lust am Rand des kleinen Innenraums, in anderen Fächern, vielleicht bei der Gleichzeitigkeit von Vaters Eindringen und Pulsschlag, oder fast erstickend, fast verhungernd, wenn mit Unbeachten getragen, oder von atemerstickender Angst eingeengt und sich selber überlassen, im Dunkel gefangen unter der klemmenden Not der Mutter aus Erschöpfung oder aus Angst vor der nächsten und der bevorstehenden Zeit, so oder so im ständigen Wiegen der Mutter getragen, im  stärkenden oder beklemmenden Gespräch mit der Sprache ihrer Seele, dann, als zu klein der mütterliche Innenraum wurde, freigelassen, losgestossen aus Atem- und Blutsymbiose ins vielfach hilfebedürftige, geheimnisvoll unbekannte, nicht wählbar gestaltete, kostbar besondere, eigene Ichleben in der eigenen Haut, die nun verletzbarer Halt wurde, dieses feine eigene Hauthaus, aus der Genesis geschaffen (sowohl im Sinn von gr. „gennan“ – erzeugen, hervorbringen und gr. „gignesthai“ – entstehen, geboren werden), diese feine Umgrenzung des Ich nach Aussen, wie vor der Geburt das Dasein unter der Mutterhaut, unverwechselbar besonders, einzigartig, das feine Geflecht der sinnlichen Wahrnehmung über dem – nun – eigenen pulsierenden Herzen und dem Ateminstrument der Lungen, mit dem Zeichen des eigenen Geschlechts, das dem Ausstossen des Verdauten wie der sinnlichen Hungerstillung im Ablauf sich folgender Stunden dienen wird, mit den sich öffnenden Fenstern und Türen der Sinne – Augen, Nase, Mund und Ohren -, mit deren je eigenen, langsam erwachenden Fähigkeit der Vermittlung von Helligkeit, Farben und Dunkelheit, von Gerüchen und Geschmack, von Klängen und Tönen, von Hunger, von Freude und von Angst, dieser präzisen Übersetzung der Empfindungen der Seele und der cerebralen Funktionen über den dialogischen Kontakt mit dem Blick, mit der Bewegung der Hände, dem Betasten und Fühlen und allmählich, zusätzlich zur spürbaren Sprache von Haut und Atem über die hörbare Sprache mit dem wunderbaren Tonregister, das über Bronchien und Mund den Dialog mit der Mutter fortsetzt, nicht mehr in ihrem Inneren, sondern nun aus dem von ihr getrennten, aber noch tief mit ihr verbundenen eigenen Körper, allmählich dann Austausch mit anderen Menschen auf unterschiedliche Weise, mit dem Vater, mit weiteren Gesichtern und Gestalten, die allmählich neben einander oder gegen einander das Kind umringen – all dies auf unverwechselbare, eigene, persönliche Weise, die das Kind als Individuum kennzeichnen lat. („individuum“ – das Unteilbare, Ungeteilte, aus der Negativform des Verbs „dividere“ – teilen), jedoch auch in der sich fortsetzenden Entwicklung verwandt mit Völkern von Ahnen auf Mutter- und Vaterseite – vierhundertvierzigtausend – bis zurück zum Anfang des Menschseins zu Beginn der zählbaren Zeit, gleichzeitig in allem vernetzt und geleitet durch die eigene Zeit, Atemzeit, Tag- und Nachtzeit, Existenzzeit im Dasein und Hiersein, durch die persönliche Raumzeit.

So ist die erste Zeit des persönlichen Ich im geschenkten, nicht wählbaren, zwar genetisch und anthropologisch erklärbaren, zugleich aber geheimnisvollen innersten Teil des In-der-Welt-Seins zu finden, im Innenraum des Entstehens der Lebenszeit, im Mutterbauch. Hier ist der Beginn der seelischen und körperlichen Entwicklungsgeschichte, der  inneren Zeit des Ich, auf welche die weitere Entwicklungsgeschichte folgt, die mit der Geburt einsetzt, wenn die nach den äusseren Zeitmassstäben berechnete Zeit mit dem eigenen Atem eine Sekunde zählt, dann einen Tag, der einen Namen trägt – Geburtstag -, auf den die Kindheitsjahre folgen, Geburtstag Jahr für Jahr – die lange Geschichte im persönlichen Hauthaus, die zum Raum und Ort der Lern-, Beziehungs- und Handlungsaufgaben wird, als Teil der zuerst zählbaren und nah bekannten anderen Menschen, dann der unzählbar vielen, die je eine eigene Geschichte haben.

„Einmal verschlossen

in der Geburtenbüchse der Verheissungen

seit Adam

die Frage schläft zugedeckt

mit unserem Blut“[2].

 

Eine Kinderstimme am Telefon der Praxis, Knabenstimme: „Meine Mutter ist krank. Sie ist gefallen vor Angst, heute im Park, mit dem kleinen Bruder an der Hand. Eine Frau gab mir im Park Ihre Nummer, ich weiss nicht wer Sie sind.  Wann kann die Mutter zu Ihnen kommen? Heute Abend? Nicht ich komme mit ihr, der grössere Bruder wird die Mutter begleiten. Wo können er und die Mutter Sie finden? Bitte sagen Sie mir, ich schreibe auf, langsam bitte, Buchstaben bitte.“  Der Knabe, der um Hilfe für seine Mutter angerufen hatte, war acht Jahre alt, der „grössere Bruder“ zählte zwölf Jahre, die Augen überweit geöffnet, kein Lächeln, nichts kindhaft Leichtes, die Stimme klar und trotzdem fast tonlos schwer. Die Mutter mit bitterem, dumpfen Gesicht, auch sie ohne Lächeln, kaum grösser, aber zehnmal schwerer und wie verloren neben dem Knaben, der ihre Seele zu tragen schien wie einen Berg. Er war Kind und gleichzeitig hatte er nie Kind sein dürfen.

Wie er im Sessel sass, getrennt von der Mutter, doch untrennbar von ihr als ihr Sohn, der ihr als Begleiter und Übersetzer diente, wurde langsam seine Stimmer vor Weinen erstickt. Er schluchzte und weinte wie ein Kind weint, weinte voller Erschrecken, dass er das Weinen nicht anhalten konnte. Und die Mutter? Sie blickte ihn an, selber hilflos klein und herrscherisch alt, vielleicht zum ersten Mal bewusst der Grenze zwischen ihr und ihrem Kind. Er konnte nun weinen, was sie sich selber nie zugestanden hatte – und ebenso wenig ihrem Kind. Mehrmals während des Gesprächs betonte sie, dass das schwere Hautleiden, das sie plagte, unmittelbar nach der Geburt des ersten Sohnes begonnen hatte, dass damals die Armut noch schwerer zu lasten begann, nach dem ersten Knaben noch zwei weitere Kinder plus Ehemann und sie, zusammengepfercht in einem einzigen Zimmer im niedrigen Haus der Schwiegereltern, in welchem noch zwei Brüder ihres Mannes mit Frau und Kindern in je einem Zimmer lebten, ohne Einkommen, kaum zu essen, und gleichzeitig die stete Präsenz der Besatzungspolizei mit Schlagstöcken und Geldforderungen. In der Schweiz angelangt mit der Hoffnung, besser leben zu können, doch ohne Sicherheit, dann der Ausschaffungstermin und die von den Behörden geforderte Rückkehr in die Heimat, aus der sie geflohen war – all die Angst, die den Sohn und die Mutter besetzt hielten. Wie und wo leben, wenn die Angst den Atem erdrosselt und kein Leben möglich erscheint?

Auch damals stellte sich mir die Frage, die sich immer wieder stellt: Welche Art von Zeiterfahrung braucht ein Kind, damit der Lebensimpuls, der während der Monate im Innenraum der Mutter sich zum persönlichen Leben entwickeln konnte, unter den zahlreichen nicht wählbaren Lebensbedingungen lebbar wird und lebbar bleibt? Können vielfältige Angst und Noterfahrungen mit dem Zeitdruck, der damit einhergeht, zusätzlich zu jenem, der von Erwachsenen auf das Kind übertragenen wird, das Kindsein so beeinflussen, dass Überleben und geistige Wachheit zur Notwendigkeit werden und dass ein allzu frühes Pflichtgefühl das langsam und spielerisch erkundende innere Wachstum überdeckt? Geht eine Infragestellung des Lebenswertes, damit des Ich-Wertes des Kindes mit diesem auferlegten, nicht wählbaren Mangel an angstfreier und pflichtenfreier Kindheitszeit einher? – oder eine Verstärkung? Was bewirken früheste Erfahrungen dessen, was Beziehung heisst – mit der Mutter, dem Vater, mit Grossmutter, Ersatzmutter usw. – im Zeitempfinden des Kindes? Wie wird erlebt, was ausserhalb der Familie aufgenommen wird – die Dunkelheit und die Sonne, das Schattenspiel, das Wasser, die Bäume, die Vögel, die Katzen und die anderen Tiere? Wie erfolgt das Einschlafen und wie das Aufwachen? Wie kann gespielt und wie kann entdeckt werden? Wird die Schule erlebt, das Lernen, die anderen Knaben und Mädchen, die andere Zeiterfahrung?

„Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit / mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen. /  O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen … / Und dann hinaus: die Strassen sprühn und klingen / und auf den Plätzen die fontänen springen / und in den Gärten wird die Welt so weit -. / Und durch das alles gehen im kleinen Kind, / ganz anders als die andern gehen und gingen -: / O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, / o Einsamkeit.

Und in das alles fern hinauszuschauen: / Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen / und Kinder, welche anders sind und bunt; / und da ein Haus und dann und wann ein Hund, / und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen -: / o Trauer, ohne sinn, o Traum, o Grauen, / o Tiefe ohne Grund.

Und so zu spielen: Ball  und Ring und Reifen / in einem Garten, welcher sanft verblasst, / und manchmal die Erwachsenen zu streifen, / blind und verwildert in des Haschens Hast, / aber am Abend still, mit kleinen, steifen / Schritten nachhaus zu gehen, fest angefasst -; / o immer mehr entweichendes Begreifen, / oh Angst, o Last.

Und stundenlang am grossen grauen Teiche / mit einem kleinen Segelschiff zu knien; / es zu vergessen, weil noch andre, gleiche / und schönere Segel durch die Ringe ziehn, / und denken müssen an das kleine bleiche / Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -: / o Kindheit, o entgleitende Vergleiche. / Wohin? Wohin?“[3]

Wohin führen die weiteren Schritte? Wie und was können spätere Erfahrungen – Veränderungen, Trennungen, Verlust, Ersatz u.a.m. – zur persönlichen Entwicklung beitragen? Was heisst Ersatz? Bleibt das Ich intakt, zu dessen Innenzeit und Seinswert es keinerlei Ersatz gibt? Oder sind Verlust- und Ersatzerfahrungen gar nicht heilbar, höchstens erkennbar und dann – eventuell – akzeptierbar als zeitgeprägte Geschehnisse? Können sie durch das Erkennen korrigierbar werden, da die innere Zeit im Moment des Erkennens das, was war, in ein neues Licht der Gegenwart versetzt: dessen, was ist und sein wird?

Hinter allen Fragen, die sich zu den Geschehnissen und Entwicklungen der Kindheit stellen, steht immer die Zeit und das Verhältnis zur Zeit, zur auferlegten und erlebten Zeit wie zur berechneten Zeit, das sich hinsichtlich der kommenden, unbekannten Zeit in Angst oder in Neugier und Gelassenheit verdichten kann.

Die Fragen verweisen auf Sarah Kofman[4], wir wollen auf sie eingehen. Ihre autobiographischen Notizen[5]  mit der Benennung der überlebensbedingten Strapazen ihres Ich und den damit verknüpften Emotionen vermochte sie erst nach langen Jahren der intellektuellen Flucht in theoretisch-philosophische und zeitanalytische Denkübungen, dann in die mitfühlende Aufarbeitung des Berichts von Robert Antelme[6] über dessen Erfahrungen[7] sowie nach einer  sich über zehn Jahre erstreckenden Psychoanalyse zu formulieren. Die Notizen sind knapp, präzise, aufwühlend, als habe sie bei deren Niederschrift unter Zeitdruck gestanden.

Sarah Kofman war acht Jahre alt gewesen – mit diesem Zeitpunkt, 1942, setzen ihre Erinnerungen ein -, als der Vater, Rabbiner Bereck Kofman, geb. in Sobin, Polen, in Paris von der französischen Polizei gefangengenommen, der Gestapo übergeben und über Drancy nach Auschwitz abtransportiert worden war, als ihre Mutter, sie und ihre fünf Geschwister auf kaum zählbaren Fluchtwegen in Frankreich hin- und her unterwegs waren, von einander getrennt, versteckt, mit anderen Namen versehen, knapp überleben konnten, sie mit der Mutter bei einer Art Ersatzmutter untergetaucht wurde, wodurch sich eine aufwühlende und verstörende Spaltung der Mutter-Beziehung wie der Ich-Beziehung ergab, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzte. Erinnerungen an den streng religiösen, aber emotional reichen und gesicherten Jahresablauf mit den Rollen von Vater und Mutter vor der nazideutschen Besetzung Frankreichs, dann an den traumatisierenden Abbruch der festen Zugehörigkeit zu einer sicheren Herkunft, an alles, was nur noch Verunsicherung, Fremdheit, Hunger nach Zugehörigkeit und Sicherheit bedeutete, jedoch keine Sicherheit zuliess, an alles, was die seelische Spaltung bewirkte. Mitten in der Kindheit war es zu einem Abbruch im inneren Zeitgefüge der Kindheit gekommen, ohne dass diese einen anderen Namen hatte, doch der Name und das, was der Name tatsächlich bedeutete, stimmten nicht überein.

Die beiden Bücher – „Paroles suffoquées“ und „Rue Ordener, Rue Labat“ – schrieb Sarah Kofman mit dem Bedürfnis, dem eigenen Erkunden, Aufarbeiten und Wissen Ausdruck zu geben. Nachdem sie sich eingehend mit Freud und mit Nietzsche befasst hatte, mit der Aussagekraft der Bilder und der Bedeutung von Kunst, ging sie auf knappem Raum auf die Abfolge ihrer eigenen Erinnerungen ein, durch welche die gelebte Zeit für sie etwas Unauslöschbares und Andauerndes darzustellen begann, das durch die kleine Anzahl an Jahren umso bedeutender und gewichtiger wurde.

Rätselhaft und von grosser Belastung war für mich zu wissen, dass Sarah Kofman kurz nach Erscheinen von „Rue Ordener, rue Labat“ aus dem Leben schied. Warum war sie so gnadenlos gegenüber der eigenen Lebenszeit? Warum gestand sie sich keine mehr zu? – warum brach sie selber den Lebenslauf ab? Hatte sie sich zu sehr in die Theorie des Schreibens versetzt, die sie zehn Jahre vorher mit ihrer Arbeit über E.T.A. Hoffmanns Kater Murr[8] auf das Schreiben der Autobiographie konzentriert hatte, durch welche zwar „ein Selbst konstruiert werde“, wie sie festhielt, „jedoch das eigene Ich verloren gehe“? War bei Sarah Kofman mit dem definitiven, schriftlichen Festhalten der vergangenen, erlebten Zeit ein Abbruch und Abschluss der weiteren, noch möglichen eigenen Existenzzeit geschehen? Es ist beklemmend, ohne Antwort zu bleiben auf die Frage, warum in ihr die Kraft der kindlichen Neugier auf das Unbekannte der noch nicht gelebten Zeit nicht wieder geweckt werden konnte, warum sie sich selber diese Lebenskraft nicht länger zugestand.

Kinder und junge Menschen, welche in jüngster Zeit auf irgend eine Weise Verluste und Gewalt erlebten, welche die Kriege in Tschetschenien, im ehemaligen Jugoslawien und in Kosovo, die nationalistisch oder ethnisch und religiös begründete Lebensbedrohung, Vertreibung oder Verfolgung in Kurdistan, in afrikanischen Ländern, in den palästinensischen Gebieten, in Afghanistan und Irak, in so vielen Ländern der Erde überlebten und auf Fluchtwegen in andere Länder gelangten, auch hierher in die Schweiz, weisen individuelle psychische Verletzungen und Spaltungen auf, zum Teil Leiden wie Sarah Kofman sie in ihrer Kindheit erlebt hatte und woran sie in späteren Jahren zerbrach.

Ein anderes Beispiel mag dies zusätzlich veranschaulichen: Alen war elf Jahre alt, als er durch eine Sozialarbeiterin an mich überwiesen wurde. Der Vater war von wohlhabender Herkunft gewesen, und die Ehe zwischen ihm und seiner Mutter, die aus einer armen Rroma-Familie stammte, war aus wirklicher Liebe entstanden, gegen den Widerstand der väterlichen Familie. Von 1992 bis Februar 1996, d.h. während des ganzen Bosnienkriegs und über diesen hinaus, hatte Alens Vater in serbischen Konzentrationslagern schwerste Folter erlebt. Die Mutter war selber vom zwölften Altersjahr an vaterlos gewesen, durch die gesellschaftlichen Bedingungen und die Armut oft erniedrigt und stets hungrig, ohne Schulbildung, aber von grosser Lebenskraft und Klarheit. Während des Kriegs war sie mit dem Kind durch Bosnien geirrt, schliesslich dank eines Hilfswerks nach Deutschland gelangt, ohne dass ihr dort Bleiberecht zugestanden worden wäre. Nach Kriegsende, als sich mit Hilfe des IKRK das Paar wieder fand, jedoch in Bosnien nicht leben konnte, gelangte es mit dem Kind in die Schweiz und bat um Asyl, doch vergeblich. Der Krieg sei längst zu Ende, war die Begründung. Schlaflos, unruhig und kraftlos vor Angst erlebten Alens Eltern die Nächte und Tage; der Negativentscheid des Bundesamtes war definitiv. Wie sich die Ungewissheit und Hilflosigkeit auf das Kind auswirkte, beschäftigte sie nicht.

Alen blickte mich durch seine Brille gross an. Er übergab mir eine Zeichnung, die er gemacht hatte: ein von Geschossen durchlöchertes Haus ohne Tür und Fenster, von dem aus ein Weg beginnt und abbricht, mit einem Soldaten an der Seite des Hauses, der ein Gewehr vor sich hält, irgendwo ein Apfelbaum mit breitem Stamm. Was für Alen grossen Wert und Sicherheit bedeutete, hatte er nicht mit einem Bild festgehalten, sondern mit Zahlen in kleinen Vierecken. „Alles wurde getötet“, sagte er leise, Boby, mein Hund, 1; meine Hasen, 4; mein Sandkasten, Hühner und Kücken und Hahn, 120; Vögel 150, Tauben meine; meine Rinder, 250“ –  eine ganze Welt, die getötet wurde, von welcher nur noch Zahlen und Worte übrig blieben, Bezeichnung und Anzahl. Senkrecht neben dem Apfelbaum und neben dem durchlöcherten Haus hatte Alen einen Wunsch festgehalten, wie ein Ausrufezeichen. Neben dem Baum stand „ich habe mir einen Terrier gewünscht“, und neben dem Bild des Hauses „ich habe mir noch ein Land gewünscht“.

Mit dem Wunsch der Vergangenheit verwies der Knabe auf die Zukunft der Vergangenheit, die zerstört worden war, die er jedoch wach halten wollte. Er wirkte in seiner Ernsthaftigkeit älter als die elf Jahre, die er gelebt hatte, und zugleich kleinkindlich, voller Vertrauen hilfesuchend, geprägt durch eine verwirrende Gleichzeitigkeit von grosser Traurigkeit ob der Verluste und von der Sicherheit irgendwie möglicher Wunscherfüllung, von Tod und von Leben. „Alles wurde getötet“, sagte er, „mit Gewehren, mit Bomben. Mein kleiner Hund Boby, von Soldaten erschossen“. Doch seines Lebens war er sicher gewesen, die Mutter an seiner Seite hatte Sicherheit bedeutet, sie hatte ihn getragen und hatte ihn geschützt. Auch in der Schweiz bedurfte er ihrer Nähe, nicht tagsüber, aber in der Nacht, wenn Albträume ihn aufschreckten und er sich bei ihr einzunisten suchte wie ein Küken unter dem warmen, mütterlichen Flügel.

Dass seine Mutter ihm keine Sicherheit mehr vermitteln konnte, dass sie nun selber angstbesetzt und schlaflos war, das belastete ihn zutiefst. Noch mehr belastete ihn, dass sein Vater, den er während Jahren nicht gesehen hatte und den er sich vorgestellt hatte wie einen starken Fürsten, zu ihm und zu seiner Mutter als kranker Überlebender zurückgekehrt war, so krank, dass zwischen den nächtlichen Angstträumen und der täglichen Angst des Vaters nicht unterschieden werden konnte. Die Altersdifferenz zwischen Kind und Erwachsenen hob sich ob der sich überkreuzenden Tag- und Nachtangst auf, es gab keine Differenz mehr zwischen Alens Wunschtraum nach Sicherheit und der tatsächlich fehlenden Lebenssicherheit der Eltern. Durch den Entscheid der Behörden, dass sie die Schweiz verlassen mussten, waren sie in ihren Vorstellungs- und Entscheidungsmöglichkeiten wie gelähmt. In ihren inneren Bildern gab es kein Zurück und kein Voran, kein Bild einer möglichen Zukunft, nachdem ihnen diese in der Schweiz nicht zugestanden wurde. „Überall die Erde baut an ihren Heimwehkolonien“[9], hatte Nelly Sachs geschrieben.

In therapeutischer Hinsicht erschien es mir damals dringlich, das Zeitgefühl des Kindes wie jenes seiner Eltern aus der Angstblockierung zu lösen, die das aktuelle Zeitempfinden besetzt hielt und jenes, das auf die Zukunft ausgerichtet war, verdüsterte. Kind und Eltern bedurften in erster Linie der existentiellen Sicherheit. Ich versuchte zuerst auf der Menschenrechtsebene eine Korrektur des Entscheids der Asylbehörde zu erreichen. Als auch diese verwehrt wurde und die Zeit vor dem Ausschaffungstermin auf wenige Tage geschmolzen war, blieb nur noch die Möglichkeit, Geld zu beschaffen und eine neue Flucht zu organisieren. Damals erschien Dänemark noch aufnahmebereit zu sein. Eine Fahrt durch die Nacht, Telefongespräche mit der Menschenrechtskommission in Kopenhagen, dann noch während Jahren eine Fortsetzung des – wenigstens telefonischen – Kontakts. Der Familie wurde schliesslich der Flüchtlingsstatus gewährt. Die durchgestandene angstbesetzte Zeit konnte Vergangenheit werden, das Zeitempfinden liess den Augenblick zu, allmählich auch den Blick auf die Zukunft. Alen ist inzwischen ein junger Mann und macht bald Abitur, er spricht Dänisch und Englisch, hat auch seine Deutschkenntnisse nicht verloren; wir hatten häufig einen Telefonaustausch, immer wenn er dessen bedurfte.

Vielleicht weiss Alen inzwischen, dass, selbst wenn die Zeit kaum erfassbar ist, die Wahlmöglichkeiten, die uns zustehen, auf kreative Weise genutzt werden können, dass die geschehene, erlebte Zeit als vergangene Zeit zwar durch die Erinnerung zu Bildern wird, die Dauer bedeuten, dass jedoch das ausschliessliche Beherrschtwerden durch die dunkeln Bilder der erlebten Gewalt und der Verluste – der Traumata – eine Veränderung erfahren kann, einen heilenden Prozess durch deren allmähliche Einordnung in andere Zeiterlebnisse und Zeiterfahrungen, die während Jahren verdrängt worden waren, die jedoch die stärkende, helle Präsenz in der Erinnerung bewahrt hatten.

Für Alen – viel stärker als für seine Eltern – wurde es im Lauf der Jahre spürbar, dass die aktuelle Zeit und die noch bevorstehende von den belastenden Erfahrungen der Kindheit nicht besetzt werden müssen, dass diesen ein Platz in der inneren Bibliothek der Erinnerungen zugeordnet werden darf, ohne dass deren Verdrängung nötig ist, dass dadurch die Möglichkeit neuer Existenzerfahrungen sich wieder öffnen kann. Die noch offene Zeit lässt sich so, wie es in der frühesten Kindheit möglich war, durch den Augenblick des Erkennens in ein Licht versetzen, das diesem Augenblick selber entspricht, und zugleich in einen Raum, der wieder weit und sicher erscheint: jenen der Zuversicht, dass das, was auf unbekannte Weise auf uns zukommt – Zukunft -, uns zusteht, solange wir selber zulassen, den eignen Rhythmus des Atems mit jenem der Zeit zu verbinden und diesen bewusst zum Übergang werden zu lassen zwischen dem, was war, und dem, was sein wird – unabhängig vom dem, was durch negative Prognosen der Weltentwicklung wie ein virtueller Taifun auf bedrohliche Weise Ideologien, Medien und ganze Völker mit Ängsten zu unterwerfen versucht.

 

  • Übergänge

Individuelle und kollektive Erfahrungen in Zeit, Örtlichkeit und Raum zwischen Gesetzmässigkeiten und Freiheit[10]

“So wie die Wellen roll’n zum kiesbedeckten Strand

so eilen unsre Stunden an ihr Ziel.

Wetteifernd überdeckt ein jedes Wellenbad

Das vor ihm eilende in stetem Wechselspiel ” [11]

 

Als ich die Zeilen aus Shakespear’s Sonnett 119 wieder las, weckten sie in mir Erinnerungen an Momente des Übergangs im Werden und Vergehen, wie der Dichter sie festzuhalten vermochte. Es ist einerseits „le passage du temps”, die flüchtige Zeit und der Augenblick, der als Gegenwart wahrgenommen werden kann und wofür die am Strand verebbenden und sich gleichzeitig erneuernden Wellen seit abertausend Jahren sinnbildliche Zeichen sind, Zeichen für das Ineinanderwirken von Raum und Zeit.

Zeichen und Bild haben die Bedeutung der symbolischen Vermittlung eines Wissens, das dadurch vermittelt werden kann und Sinn bekommt, so wie das griechische „symbolon“[12] es in seiner Wortbedeutung zum Ausdruck bringt. Doch was der sich ständig erneuernde Rhythmus der Meereswellen als Zeichen widerspiegelt, nimmt bloss einen Teil der Bedeutung von Übergang auf. Ein anderer Teil findet sich im Bild der Brücke.

Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Enkelkind an der Hand über die Spreuerbrücke in Luzern ging und ihm in der Pause meiner Lehrtätigkeit an der dortigen Uni den alten Übergang über die schnell fliessende Reuss zeigte, der mich in meiner Jugend mit seinem schützenden Dach und Geländer, gleichzeitig mit den Bildern von Leben und Tod, die sich unter dem First der Brücke finden, zutiefst beeindruckt hatte. Gleichzeitig war mir damals durch die Veränderungen im universitären Unterrichts- und Prüfungssystem bewusst geworden, wie sehr die Hochschulen durch den Wechsel vom kantonalen resp. regionalen in ein europäisches Studiensystem Übergänge erlebten, welche das noch kaum Vergangene und das Kommende in jeder Art von Aus-Bildung für die Erforschung und Bewältigung der zahlreichen menschlichen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und weiteren Probleme verbinden, buchstäblich als Verbindung von Erfahrung und übernommenem Wissen, von Erkunden, neuem Wissen und Entwurf einer beruflichen Umsetzung. Dabei wurde mir die Vielschichtigkeit von Übergang bewusst, die Klärungsnotwendigkeit dieses Begriffs, der mir wie ein Fächer in der Hand erschien. Beginnt er sich zu öffnen, so fügt sich Teil an Teil zum dichten und vielfach vernetzten Halbkreis, mit Zeichen, Farben und Inhalten, mit Nuancen und Schatten, die an die zeitlichen wie an die örtlichen und räumlichen, an die körperlichen und an die psychischen Teile von Lebenserfahrungen erinnern, sowohl des je individuellen menschlichen Lebens wie der kollektiven Lebenszusammenhänge, die sich alle stets verändern. Die bewusste Erfahrung einer Veränderung bewirkt, dass diese als Übergang wahrgenommen wird.

Um all dies geht es beim Begriff  Übergang  resp. Übergänge: ein grosses Thema, das uns in Zusammenhang der Zeiterfahrungen beschäftigt, gerade hinsichtlich des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenwerden, von der Jugend zum Älterwerden und Altsein. „Da muss sich manches Rätsel lösen” überlegte sich Faust, als er sich die Aufgabe stellte, Fragen aus dem Zweifeln und Zögern sich zum Erkennen und Handeln lösen zu lassen. „Doch manches Rätsel knüpft sich auch” gab Mephisto zu bedenken. In welchem Mass wird sich erweisen.

Wie werden wir vorgehen? In analytischer Hinsicht erscheint es mir wichtig,

  • zuerst auf die begrifflichen Bedeutungen resp. auf die Wortzusammenhänge von Über-gang, Über-gänge und über-gehen einzugehen,
  • dann auf die örtlichen und räumlichen sowie insbesondere auf die zeitlichen und existentiellen Zusammenhänge, die mit Übergängen verbunden sind,
  • schliesslich noch kurz auf die Frage, was sich dem, was Übergang bedeutet und worin sich Übergänge kennzeichnen, entzieht oder was ihm zu widerstehen versucht.

 

  1. “Da muss sich manches Rätsel lösen”: Wortgeschichten

Die Frage stellt sich, welche Wortbedeutungen sich mit Übergang resp. mit Übergängen verknüpfen, und wie sie sich zu jenen von übergehen verhalten? Besteht nicht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Substantivs – ob im Singular oder im Plural – und des Verbs?

Die sprachanalytische Untersuchung ist faszinierend. Jedes Wort war in formeller und inhaltlicher Hinsicht dem kulturellen Zeitablauf ausgesetzt und hat eine etymologische Geschichte, eine Herkunftsgeschichte mit Mutter- und Vaterstammbaum, durch welchen die Ursprünge und die Verwandtschaften, die Entwicklung und die Funktion des Wortes sich erklären lassen, wodurch auch die je persönliche Verwendung des Wortes eine andere Bedeutung erhält. Doch jedes Wort hat letztlich nicht nur diese kulturgeprägte Geschichte, sondern ist auch Übersetzung resp. Übertragung des lebenszeitlichen, je aktuellen Denkens und Empfindens jedes Menschen, ist somit Ausdruck der in ihm seit der pränatalen Zeit durch Klangerfahrungen gespeicherten, geheimen und lautlosen inneren Sprache, die mit Erlebnissen und mit Bildern gemäss einer eigenen Grammatik verknüpft ist.

Schon im mittelhochdeutschen und althochdeutschen Sprachgebrauch wurde das heutige Verb gehen unter „gên – gân – gang” verwendet, um Bewegung und Fortbewegung auszudrücken. Beides ist aufs engste verknüpft mit der Bedeutung von Zeit, die stets ver-geht. Gemäss der etymologischen Forschung lässt sich ausserhalb des Germanischen das Grundwort „ghai”, worauf „gên” ruht, nicht mit Sicherheit nachweisen, wobei jedoch das „i”, das darin vorkommt, ein Restbestand der in den indogermanischen Sprachen weit verbreiteten Wurzel ist, die im lateinischen  „ire” – gehen zum Ausdruck kommt und die im Deutschen beinah untergegangen ist, ausser in der Vergangenheitsform ging – gingen. Interessant scheint mir die Tatsache, dass das Substantiv Gang – der Gang sich aus dem Partizip Perfekt des Verbs gehen abgeleitet hat resp. aus dem Mittelwort der Vergangenheit, so dass deutlich wird, dass es sich beim Gang schon um ein Resultat des Gehens handelt, somit um eine Kenntnis des Gehens. Ausdrücke wie „der aufrechte Gang“, der „beherzte Gang” oder der „erniedrigende Gang” verweisen auf eine ganze Geschichte, die für die menschlichen Kräfte als stärkend oder als erschöpfend dargestellt wird. Dass das gleiche Wort eine zeitliche wie eine örtlich-räumliche Bedeutung hat, welcher eine Zwischenfunktion zukommt  – der Übergang, um den es sich heute handelt und über den wir nachdenken, aber auch der Durchgang, der Hausgang und andere Gänge mehr –, macht deutlich, wie sehr das Verb gehen sich einerseits in der Zeitlichkeit der Fortbewegung äussert, andererseits im menschlichen Raum und Ort, der eine Dauer darstellt.

In der Bedeutung von Über-Gang finden sich die Aspekte des Zeitlichen und zugleich Räumlichen sehr klar. Ob über, abgeleitet aus dem althochdeutschen „ubar” und „ubiri” (analog zum englischen „over“) als Adverb oder als Präposition verwendet wird, immer drückt es eine Art Mittelfunktion aus: einerseits im Sinn der Vermittlung zwischen zwei Teilen – wie etwa bei übersetzen, überlegen,  übergeben, übernehmen etc. -, andererseits im Sinn des Beseitigens eines Widerstands zwischen einem Hier und Dort – z.B. bei überwinden, übertreffen, überrollen, übersteigern, auch bei übergehen. Die Bedeutung von über ist somit vielfältig, sowohl Synonym von zwischen wie Gegensatz zu unter, vielfältig und eventuell zwiespältig. Um Klarheit zu schaffen, bedarf es immer des Einbezugs des Wortes in einen Kontext

Die Nichtübereinstimmung wird auf packende Weise deutlich zwischen der verbalen und der substantivischen Verwendung von über, so bei übergehen und bei Übergang.. Während übergehen häufig eine Art der negativen Beurteilung einschliesst – etwa Regeln übergehen, ein Verbot übergehen, eine Grenze übergehen –, vergleichbar der Bedeutung von nicht beachten oder nicht befolgen, geht mit dem Substantiv Übergang etwas Beachtenswertes einher, das nicht negativen Beiklang hat, aber in Hinblick auf eine Fortsetzung des Gehens resp. des Gangs mit Schwierigem verbunden ist, das der verbindenden, haltbaren Form bedarf. Das französische Wort „passage” entspricht am genauesten der vielfachen Bedeutung, die mit dem deutschen Wort Übergang und Übergänge einhergeht: im Singular wie im Plural zugleich Parabel und Parameter der existenzbedingten individuellen wie der kollektiven Erfahrungen in Zeit, Örtlichkeit und Raum zwischen Gesetzmässigkeiten und Freiheit. Darauf werden wir nun näher eingehen.

 

  1. “Doch manches Rätsel knüpft sich auch” – Parabel und Parameter

Parabeln sind Beispiele oder Gleichnisse, die dem Umschreiben oder Verdeutlichen von Worten dienen, während Parameter als Hilfsgrössen beim Abmessen des Messbaren gebraucht werden. Die Bedeutung von Übergang resp. Übergängen wird beidem gerecht. Um dies zu verdeutlichen, werde ich drei Beispiele wählen. Im ersten werde ich auf die Brücke eingehen, d.h.  auf die örtlich-räumliche Bedeutung von Übergang, die schon einleitend erwähnt wurde; im zweiten auf Augenblick und Gegenwart, damit auf die Bedeutung von Übergang und Übergängen im individuell-existentiellen Zeitempfinden sowie in der kollektiven Zeitordnung. Drittens werde ich auf das eingehen, was sich der Tatsache des Wagnisses, der Mutprobe und der Flüchtigkeit entgegenstellt, die den Übergängen – den „passages” – innewohnen, und als Beispiel die Schrift, das menschliche Werk überhaupt knapp thematisieren.

 

2a.  Der sachliche resp. materielle Teil: Übergänge örtlich-räumlich

Seit ältester Zeit menschlicher Kulturen sind die Brücken in allen Teilen der Erde Übergänge von einem zum andern Ufer über Gewässer und Schluchten, d.h. über bedrohliche Abgründe. Auf beiden Seiten in der Erde verankert, stellen sie Halt dar über der ängstigenden Leere. Deren Entstehungsgeschichte und deren Funktion wurden in Sagen, manchmal auch in Liedern und Bildern von Generation zu Generation übermittelt, sind es doch oft Übergänge von erstaunlichster Kunstfertigkeit und Dauer, deren Bau unter den Zeitbedingungen, wie sie waren, kaum erklärbar ist. Mephistophelische Bündnisse wurden dabei vermutet, wie z.B. bei der Stiebenden Brücke, die 1198 aus Holz über der Reussschlucht im Gotthardgebiet entstand und die im 16. Jahrhundert durch einen kühnen Steinbogen ersetzt wurde – die Teufelsbrücke –, die sich als sicherer Übergang für Menschen und Tiere mit allen Lasten, die sie schleppten, bewährte. Oder die Kapellbrücke von Luzern, die 1333 als Fortsetzung der 1265 entstandenen Hofbrücke gebaut worden war, beide als Teil der Stadtbefestigungen zu Wasser und zugleich als Promenaden-Übergang für die Bewohner und Bewohnerinnen der sog. Grossstadt auf dem rechten und der Kleinstadt auf dem linken Ufer. Auch für die Durchfahrt der Schiffe wurde damals gesorgt. Bei der noch immer vorhandenen Peterskirche war damals die Brücke etwas erhöht und wies eine Lücke im Palisadengürtel auf, die in der Nacht durch ein Wassertor, den Grendel, geschlossen wurde. Die Giebelbilder im Innern der Brücke wurden ab 1611 beigefügt; das Dach wurde mit über 40’000 Ziegeln belegt, wie die Chroniken belegen, in denen auch von den Verkürzungen und zahlreichen Reparaturen dieser Brücke berichtet wurde, die als Übergang über die Reuss für die Stadt in stärkerem Mass noch als die anderen Brücken quasi als Parameter ihres Wertes galt – bis zum schnellen Wiederaufbau nach dem jüngsten Brand Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts.

Die Geschichte der Brücken – der Holzbrücken, der Steinbrücken oder der Hängewerkbrücken bis zu den Eisen- und Betonbrücken –  sind Parabeln für Übergänge von Herrschern, Dienern und Soldaten, in Europa von den römischen bis zu den napoleonischen und weiter, welche die Erweiterung von Landbesitz und Macht anstrebten, für jene von Händlern und Handwerkern, die mit Ware und Geld oder mit Wissen und Können von Süden nach Norden und von Norden nach Süden, oder von Osten nach Westen und von Westen nach Osten zogen, oder für jene von Abenteurern – heute von Touristen -, von Gelehrten und von Pilgern, welche nicht zu einem materiellen, sondern zu einem immateriellen Zweck der Übergänge über Abgründe und über Wasser bedurften, auch für jene der Flüchtlinge, die vertrieben von ihrem Land und Boden auf der Suche nach einem anderen Zuhause waren resp. auch heute noch sind.

Brücken sich zugleich Übergänge für Menschen von Ort zu Ort wie auch Parabeln und Parameter der grossen gesellschaftlichen Entwicklungen in allen Bereichen, die immer Übergänge sind von etwas, was war, zu etwas, was sein wird: vom Handwerk zu jener der Industrialisierung, der zunehmend verfeinerten Technologie und des wachsenden Marktes, in jeder Hinsicht vom messbaren Mass zunehmend zur Masslosigkeit, sowohl in den zeitlichen wie räumlichen Forderungen der Beschleunigung von Tempo und Gewinn wie von formeller Optimierung. Teile dieser Entwicklung werden deutlich durch die Autobahnbrücken und Eisenbahnbrücken, welche sich über die zahlreichen alten Brücken schwingen und, zusätzlich zu den Tunnels unter den Bergen, heute neben- und übereinander die Täler diesseits und jenseits der Alpen überrollen.

Die Frage stellt sich, ob Brücken noch als Übergänge bezeichnet werden können, wenn sie das Mass des Erträglichen für die Menschen, die am Rand der Brücken leben, übergehen? Wie werden Übergänge erlebt, wenn das von wo und das wohin in Windeseile durch das nächste abgelöst werden? Ist im Zeitalter der Virtualität der Prozess des Werdens, der mit jenem des Gehens nah verknüpft ist und der durch die Übergänge erlebt wird, überhaupt noch zugelassen, da jegliches Zeitmass abhanden gekommen ist? Was bedeutet heute noch Zeit und was bedeutet zeitlich-räumlicher Übergang im Existentiellen?

 

 

2b. Der komplexe Teil: Übergänge in der individuellen und in der kollektiven Zeit

Auch diese Frage führt weit zurück, bis zu den ältesten Fragen nach der Zeit in der europäischen Kultur, zum Buch Kohelet in der alten Bibel, gleichzeitig zu den altägyptischen und vorsokratischen Fragen und weiter, später zu Augustin’s Confessiones, weiter zu Leibniz und Descartes, zu Kant und Hegel, zu Bergson und Nietzsche, zu Husserl und Heidegger, überhaupt zur Neuzeit, zur Verbindung von Existenzphilosophie, Physik und Psychoanalyse, zur Relativitätstheorie  – bis zu uns, die wir heute die Frage nach den Übergängen stellen, jede Frage ein Übergang zur nächsten Frage, für jeden Menschen auf je persönliche Weise, entsprechend dem eigenen Wahrnehmen des Augenblicks, im Ermessen der Bedeutung wie der Flüchtigkeit der Gegenwart, in welcher Zukunft vorweg zur Vergangenheit wird. Ich wiederhole Augustins Frage: „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiss ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre”[13].

Erinnern Augustins Überlegungen an die eigenen ersten Erfahrungen der Zeit in der Kindheit? Wir wissen, es gibt keine Erinnerungen an den Übergang vom Säugling zum krabbelnden und gehenden Kleinkind, doch Erinnerungen an den Übergang vom Kleinkind an der Hand Erwachsener zum ständig weiter wachsenden Schulkind lassen sich wecken, mehr noch vom Schulkind zur Jugendlichen oder zum Jüngling mit den aufwühlenden Erfahrungen über die Veränderungen des eigenen Körpers, auch mit den drängenden und ungeduldigen oder angstbesetzten Erweiterungen des Erkundens und Wissens bis zum Erwachsenwerden. Erwachsen sein und älter werden, bis zu den späten Jahren, bedeutet nie Stillstand, weder der körperlichen noch der geistigen Entwicklung. In zeitlicher wie in räumlicher, in erkenntnis- wie in wissensmässiger Hinsicht geht das Werden ständig weiter, geht über in Vertiefungen, in Wechsel und in Verluste mit gewählten oder mit auferlegten Erfahrungen, eine sich fortsetzende Verbindung von körperlichem Abbau und innerem Wachstum.

Vielleicht sind Vergleiche zulässig mit dem Lichtwechsel von der Nacht über den frühen Morgen zum Tag, und vom Tag über den Abend zur Nacht, vielleicht ist jede Art von Erwachen nach dem Schlaf als Übergang geprägt von den Nachtgeschichten und Traumbildern, die Folgen der vorangegangen und zugleich nicht vergangenen Tagesgeschichten sind, oft weit zurückliegender, die in der undurchschaubaren Architektur des Unbewussten einen Platz besetzt behalten. So bleibt von der Kindheit wie aus den vielen späteren Wahrnehmungs- und Erlebnisschichten die Nicht-Übereinstimmung des Zeitrhythmus der tickenden Wanduhr und des Kalenders mit dem Rhythmus des eigenen Herzschlags gespeichert, Erinnerungen zugleich an das früheste und spätere Wissen um den ungleichen Rhythmus des Atems in Augenblicken des Glücks, des Wohlbehagens oder der Angst. Irgendwann setzte ein erstes  – und später ein wiederholtes – Erschrecken und Sich-Hinterfragen ein ob der zunehmend als Diktat empfundenen, immer gleich ablaufenden Uhrzeit, die zur Zeit der Stunden, Tage und Jahre, zur Lebenszeit erklärt wurde/wird – ein Damals und ein Jetzt, die sich decken im Empfinden von stetem Vergehen und zugleich von Dauer.

“Zeitleer die Waben der Uhr” heisst es in einem der Gedichte Paul Celans[14], “komm schwimmendes Licht”: Erinnerung etwa an einen Nachmittag an einem dahindämmernden Herbstsonntag in der Kindheit, dreimal ein schwingender Glockenton mit dem sanften Sonnenlicht zwischen dem vergilbenden Laub der Apfelbäume, aus welchen sich einzelne Blätter schwebend lösten, unendlich lang bis eindunkelnd vier Uhr klang; Erinnerung an einen vergleichbaren Nachmittag Jahre später, als die Lasten der Verantwortung im Beziehungsgeflecht, die berufliche Ungewissheit und die politischen Entwicklungen in deren Gleichzeitigkeit mit dem inneren Zeitrhythmus kollidierten, so dass die Nachmittagsstunde am Ruhetag bloss als kurzer Unterbruch und kaum als Übergang erschien im überstürzt dahineilenden Ablauf der Stunden.

                                                                     „Donner grollt –

                                                                      die Zeit rollt er um

                                                                      in die Vorzeit.“[15]

 

Jede Erinnerung erweist sich letztlich als Übergang  zwischen unterschiedlichen Zeitregistern, zwischen der in Bildern gespeicherten inneren Zeit und der mit Jahreszahlen und Monatsnamen, mit Wochentagen und Chronometer geregelten Zeit, eine Zeitbrücke zwischen dem Moment der Erinnerung – jenem der Gegenwart  – und einem Moment der Vergangenheit. Erst der Rückblick in den späten Jahren ermöglicht, dass die Zeiterfahrung der Kindheit durchschaut werden kann. Sich erinnern, dass dem Kind Vergangenheit unbekannt war und Zukunft ebenso versetzt in ein Zeitempfinden im Gegenfluss, wie in die Windstille. Warten – „wart ab”, wie dem Kind gesagt wurde -, fiel schwer. Sich erinnern, dass die Zeit keinen Namen hatte, dass „Gegen-wart”  letztlich als „gegen das Warten“  verstanden wurde und dass dies kein falsches Verstehen war, wie später sich  mit Verblüffen in der Flüchtigkeit von ist und war erwies, zunehmend auch in der Mahnung an die Dringlichkeit von Entscheiden und Tun, das öffnet die Tür zum leidvollen Widerspruch. Denn trotzdem resp. gerade deshalb wurde die Zeit in der Kindheit als Dauer erlebt, bis zu den Abbrüchen des Dauernden, die als Trauma erlebt wurden: Das Trauma kann nicht Übergang sein. Darüber später mehr.

Als Übergang wurden Wechsel erlebt, die mit Vorbereitungen einhergingen. Es war etwa der Schulbeginn, der Erfahrungen vermittelte, die sich wiederholten: die Zeit wurde zum strikten Regelsystem, die Schulglocke schrillte, Pünktlichkeit wurde gefordert, das Herz des Kindes wurde zum Motor gedrillt, der dem Akkordsystem genügen musste. Als Übergang wurden Momente erlebt, die Freiräume waren im Regelsystem, allein schon die Pausen, Geburtstage und Jahresfeste, beim Heranwachsen jede Initiation, für Mädchen und für Knaben auf unterschiedliche Weise, später jeder Neubeginn von Ausbildung, von Freundschaft und jede Entspannung, Momente des Glücks, ein Weg durch den Wind, ein erleuchtendes Gespräch, Traumerinnerungen zwischen Schlaf und Erwachen – vieles, vieles mehr.

In Walter Benjamins nicht abgeschlossenem Passagen-Werk findet sich in der Dichte der von ihm während Jahren notierten Untersuchungen und Überlegungen sowohl der Aspekt der nicht aufhaltbar anwachsenden „Trümmerhaufen” der Vergangenheit, die als Geschichte auf dem Jetzt lasten und den Blick absorbieren – „Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart”[16] -, wie jener, der als „Sturm des Kommenden”, das „Fortschritt” heisst,  in der Gleichzeitigkeit erlebt wird, unaufhaltsam nach vorn getrieben, in die Zukunft, auf welche der Blick – der Augen-Blick – sich richten möchte, sich jedoch stets von ihm abwenden muss. Der „Angelus novus”, den Walter Benjamin als Deutung eines Bildes von Paul Klee entwarf[17], wurde für ihn zum Bild der grossen Zeitentwicklung und zugleich der eigenen Zeiterfahrung, der anwachsenden Ohnmacht angesichts der ideologischen und praktischen Gewalt dessen, was in den Dreissigerjahren als „Fortschritt” von den Massen angenommen und befolgt wurde – dem nicht mehr regulierbaren Kapitalismus, Nationalsozialismus und Faschismus sowie dem stalinistischen Bolschewismus -, gleichzeitig zum Bild der Betrachtung der überbelasteten Geschichte und des dadurch verwehrten resp. sturmverwehten Blicks auf die Zukunft. Bezüglich der kollektiven Zusammenhänge wirkte in Walter Benjamin das Bestreben, im Rückblick erkennen zu können,  w i e  die Geschichte mit den Entscheiden und Geschehnissen, die vorweg als „Fortschritt” bezeichnet wurden, zur Anhäufung von Trümmern wurde, damit das Verhängnis des ständig neu voran- und weitergetriebenen Missbrauchs der Menschen als Produktionsmaschinen eines zu schaffenden „Schlaraffenlandes”[18] sich nicht wiederhole.

Für Walter Benjamin selber, für sein eigenes Leben gab es 1940, nach dem mühevollen nächtlichen Übergang über die Pyrenäen, als ihm an der Grenze die Flucht aus dem besetzten Frankreich nach Spanien nicht zugestanden wurde, nur noch den selber gewählten Tod.

Übergänge können somit als Augenblicke der klaren Erkenntnis verstanden werden – aus dem Nichtwissen ins Wissen -, in welchen das Jüngstvergangene, das Fortsetzung des Vorvergangenen ist, als korrigierbar erscheint, nicht im Sinn einer Theorie (z.B. jener des dialektischen Materialismus), sondern im Sinn der je eigenen kritischen und zugleich kreativen Verantwortung in der Umsetzung von Freiheit, die letztlich jedem Handlungsentwurf inne liegt. Allerdings ist allein schon die Wahl der Worte – was wie genannt wird -, von vielfacher Bedeutung, z.B. was als das Böse und was als das Gute, wer als Feind, was als Terror oder was als Hoffnung bezeichnet wird. “Die Segel sind die Begriffe”, stellt Benjamin in einer kurzen Notiz fest. “Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie zu setzen, ist das Entscheidende“.[19]

Für Walter Benjamin ist es die Sprache, welche die ganze menschliche Geschichte wiedergibt. Sie diente/dient einerseits zum Betrug, der als Fortschritt bezeichnet wurde/wird, in der anwachsenden Fortsetzung der geschichtlichen „Trümmerhaufen”; andererseits ist sie in der Lage, eine andere Richtung anzuzeigen. Zutiefst zeitvernetzt ist die Sprache Übersetzung der lebensgeschichtlichen Prägung aller menschlichen Kräfte, der intellektuellen wie der emotionalen, der triebhaften wie der moralischen. Sie dient der Kommunikation im Fluss der Zeit und dem Werk, das in geistiger wie in materieller Hinsicht aus Beziehungen wächst und sich hält. Die gesprochene Sprache hat den Aspekt des Übergangs. Mit jedem Laut und Wort geschieht ein Übergang zum nächsten, versinkt das gesagte vorweg im jüngst Vergangenen, analog zu den Wirkungen eines Instruments, das beim Anhören vieles bewirkt, was Antwort bedeutet auf den Klang, was Schmerz oder Wohlbefinden auslöst, eventuell eine Übereinstimmung ermöglicht zwischen dem Ohr und dem Herzen. Auch „das Nichtwort, ausgespannt zwischen Wort und Wort”[20] klingt mit, wie Hilde Domin formulierte. Die geschriebene Sprache, auch die geschriebene Tonsprache –  die Komposition – stellt sich der flüchtigen Zeit entgegen. Sie will anders und mehr sein denn Übergang: als Werk ein Entwurf der Dauer.

 

  1. Was „Übergängen” widersteht

Um die Zeitvorgabe einzuhalten, will ich mit den Gedanken zum Übergang zum Abschluss kommen. Vom örtlich-räumlichen Übergang, von den Brücken, gelangten wir zu den zeitlichen Übergängen des Augenblicks im individuellen und jenen der Gegenwart im kollektiven Zusammenhang all dessen, was menschliches Leben als Erfahrung der Ohnmacht angesichts der Geschichte sowie als Möglichkeit des Entwurfs einer neuen Geschichte bedeutet. Brücken sind Beispiele zugleich von Übergang und von bleibendem Werk, damit von Widerstand gegen die Vergänglichkeit.

Jede Art von Werk strebt nach Dauer. Die Sprache in ihrer Bedeutung der Kommunikation zwischen den Menschen ist zugleich jene der Zeitlichkeit. Doch seit ältester Zeit wurde durch die Schrift die Sprache festgehalten. Die Schrift ist Stagnation und Fortsetzung des Augenblicks, sie ist die Korrektur der Flüchtigkeit des Sprechens resp. des Tons. Alle Zeichen – von den Hieroglyphen zu den Buchstaben -, die gesetzt oder aufgetragen und schliesslich gedruckt wurden, belegen den Wunsch oder die Forderung nach Dauer. Ein Gedicht, zum Beispiel, analog zur musikalischen Komposition, ist über die Zeichen der Schrift festgehaltene Verbindung der innern persönlichen Sprache mit dem, was „Grammatik” im Griechischen heisst: der Kenntnis des „graphein”, des Schreibens von den Anfängen an.

 

“Immer ist die leere Zeit

hungrig

auf die Inschrift der Vergänglichkeit”

 

beginnt eines der späten Gedichte von Nelly Sachs[21]. Ihre Gedichte geben die Dichte und Knappheit der Übereinstimmung von Erkenntnis und Sprache wieder, von Verzweiflung und Einsamkeit, die sich durch das Schreiben einen Dialog ermöglicht, der Halt bedeutet.

Übergänge in zeitlicher Hinsicht sind nicht nur geprägt von der Gesetzmässigkeit der Vergänglichkeit; sie sind zutiefst Ausdruck des Werdens. Im Werden beruht die geheime Kraft des Neubeginns zeitlicher Etappen. Wenn die Bedeutung von Freiheit tatsächlich gilt, diesem so leichthin verwendeten Begriff, der sich in zeitlicher Hinsicht immer auf die Zukunft ausrichtet, dann in der Wahlmöglichkeit von Handlungsentscheiden, sowohl hinsichtlich deren Richtung resp. deren Zielsetzung wie auch hinsichtlich der Art und Weise deren Umsetzung.

Es möge gelingen, dass die geheimen wie die offiziellen Erfahrungen von Übergängen dazu beitragen, Entscheidungsmöglichkeiten nicht auf  fest definierte Vorgaben, sondern auf das verborgene Empfinden des richtigen Handelns abzustützen, so dass die kreative Kraft der Freiheit sowie die Kraft deren Umsetzung immer wieder zur tragbaren Brücke in die Zukunft werde.*

 

                                                   

[1] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1981, S. 225

[2] cf. (1)

[3] Rainer Maria Rilke. Das Buch der Bilder. Kindheit. Aus: Sämtliche Werke. Bd. I. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1955, S. 384-5

[4] geb. 14. 09. 1934, gest. 15. 10. 1994

[5] Sarah Kofman. Rue Ordener, Rue Labat. Editions Galilée, Paris 1994; deutsche Übersetzung: gleicher Titel, Passsagen Verlag, Wien 1995.

[6] L’espèce humaine. Gallimard, Paris 1957; deutsche Übersetzung: Das Menschengeschlecht, Carl Hanser Verlag, München 1987.

[7] Sarah Kofman. Paroles suffoqués. Edition Galilée, Paris 1987; deutsche Übersetzung: Erstickte Worte, Passagen Verlag, Wien 1988.

[8] Sarah Kofman. Schreiben wie eine Katze. Zu E.T.A.Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr. Passagen Verlag Graz-Wien 1985

[9] Nelly Sachs. aus: Fahrt ins Staublose, in: Späte Gedichte (cf. 1), S. 89

[10] überarbeitetes Referat anlässlich der Eröffnungsveranstaltung  für das Studienjahr 2003/04 an der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern am 20. 10. 2003

[11] William Shakespeare. Sonnett Nr. 119. Übersetzt von Hans Günther Hirschberg. Der Rhythmus des Regens. Pro Lyrica, Schaffhausen 1999. S. 193

[12] „sym“ – zusammen, „ballein“ – werfen

[13] Augustinus. Confessiones / Bekenntnisse, lat.-dt. Kösel Verlag, München 1955.  Elftes Buch, S. 629

[14] Paul Celan. Sprachgitter. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1961, S.14

[15] Ales Rasanau. Das dritte Auge. Punktierungen. Verlag Urs Engeler, Weil am Rhein 2007, S.39

[16] Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Bd. V 1. Passagen-Werk. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1982,

  1. 588

[17] Walter Benjamin. Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Über den Begriff der Geschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1977. S. 255

[18] Walter Benjamin. Illuminationen a.a.O. S. 172

[19] cf. Fussnote (5), S. 592

[20] Hilde Domin. Hier. Gedichte. Frankfurt a. M. 1964

[21] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.  1965 / 1981. S. 180

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