Gibt es Werte, an denen sich Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher in der Suchtprävention orientieren können?

 

Gibt es Werte, an denen sich Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher in der Suchtprävention orientieren können?

Vortrag im Rahmen der Weiterbildung von Berufsschullehrerinnen und -lehrern am 16. 3. 1998

 

Meine Damen und Herren

Die Frage, die Sie mir in Ihrer Titelvorgabe gestellt haben, ist zugleich klar und unklar. Klar ist sie insofern, als in ihr eine radikale Verunsicherung (“Gibt es Werte?”) angesichts einer höchst komplexen Aufgabe (“Suchtprävention”) Ausdruck findet. Die Verunsicherung und das Orientierungsdefizit, die sich in der Frage äussern, müssen Frauen und Männer, deren Aufgabe (“Erziehen und Lehren”) traditionellerweise mit der Erwartung normativer Zweifelsfreiheit verbunden wird, sehr nahegehen. Unklar ist, ob Sie nach Werten fragen, nach denen Sie sich in der schwierigen Aufgabe, vor die Sie gestellt sind, selber orientieren können, oder ob Sie nach Werten fragen, welche Sie den Berufsschülerinnen und -schülern zu deren Orientierung vermitteln sollen. Unklar auch, ob es sich um verschiedene Werte oder eventuell um die gleichen Werte handelt.

Die Unklarheit der Fragestellung war für mich in der Vorbereitung des Referats höchst anspornend. Seit einiger Zeit findet in allen Schichten unserer Bevölkerung, in allen Parteien, in allen Institutionen und Gremien der Gesellschaft eine Werte- und Ethikdiskussion statt, die, meiner Ansicht nach, nicht nur auf eine tiefgreifende schweizerischen Krise hinweist, sondern zugleich auf eine Krise des zeitgenössischen Lebens in der westlichen Kultur überhaupt. Die Werte dieser Kultur werden zur Frage. Es erscheint mir daher sinnvoll, eine der grundlegenden Ethiken dieser Kultur, die Nikomachische Ethik des Aristoteles, nach Antworten auf die von Ihnen gestellten Fragen zu untersuchen. Vorher aber, meine ich, ist es nötig, den Wertebegriff überhaupt zu klären, sodann unsere Gegenwart, unsere Epoche zu analysieren, in welcher ein so bedrohliches Orientierungsdefizit deutlich wird, dass unsere westliche Kultur gesamthaft auf ihre Glaubwürdigkeit und ihre Zukunftsfähigkeit hin befragt werden muss. Im Lauf dieser Befragung werden Entwicklungen erkennbar werden – Fehlentwicklungen, Leidensgeschichten, Verweigerungen, Zynismen etc. -, deren individuelle Abwehr sich häufig in sekundären Leiden zeigt, unter anderem in Süchten und Suchtverhalten. Wir werden bei diesem Teil der Arbeit mitbedenken, wie und unter welchen Voraussetzungen Krisen zu Chancen des Neubeginns werden können. Damit werden wir zum dritten Teil gelangen, in welchem ich versuchen will, Antworten auf Ihre Frage nach orientierungsweisenden Werten in der Suchtpräventon, die für Sie wie für Ihre Schülerinnen und Schüler dienlich sein können, vorzuschlagen.

  1. Werte – im Tauschhandel, in den Paradoxien des Alltags sowie im Verhältnis von Theorie und Praxis

Woher kommt der Wertebegriff? Die Frage führt in die Ursprünge der menschlichen Kultur zurück, und dessen Veränderung geht einher mit der Entwicklung der Kultur überhaupt. Der Wertebegriff muss entstanden sein, als erste Formen der Selbstversorgung nicht mehr genügten, als der Tauschhandel und damit die Arbeitsteiligkeit begannen, als mit dem Abtausch resp. mit der Abtretung von Produkten, Gegenständen oder Leistungen, über welche die einen Menschen verfügten, ohne deren zu bedürfen, gegen andere, die als gleichwertig empfunden wurden oder galten. Schon sehr früh wurden Waren oder Leistungen im Tauschhandel durch die symbolische Gleichwertigkeit von Münzen, resp. von Geld abgelöst (bis das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Wert an sich wurde).

Obwohl der ursprüngliche Gütertausch per definitionem an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon etwas Immaterielles mit ein: ein Abwägen und Erwägen, eine Vorstellung von Wert, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit gebunden war und für welche ohne Zweifel schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides galt, der einerseits Gewinn, andererseits Verzicht bedeutete. Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Und so muss der Wertbegriff sich auch für immaterielle Güter, für Werte der persönlichen Lebensführung, des Verhaltens und der Organisation des Zusammenlebens durchgesetzt haben. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog/zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet wurden/werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten, zog/zieht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit nach sich. So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte wertorientierte Regeln des Verhaltens, welche durch die wiederholte Einhaltung internalisiert wurden und zu einem Wert- und Regelbewusstsein führten, das sich wiederum im persönlichen Gewissen ausdrückt: dem “guten Gewissen”, bei Beachtung der internalisierten Wertkategorien und bei Einhaltung der Regeln, dem “schlechten Gewissen” bei deren Nichtbeachtung und Übertretung. Die Entwicklung des eigenen Urteilsvermögens und der eigenen Handlungsverantwortung führt zu einer Veränderung der sozialisierten und internalisierten Wertvorstellungen und Regelcodices.

Das übernommene oder persönlich entwickelte Werte- und Regelbewusstsein entspricht der persönlichen Moral eines Menschen, während unter Ethik (ethos / Sitte, Brauch) die Auseinandersetzung um die obersten Grundsätze der verschiedenen Moralen verstanden wird. In der Antike, so bei Aristoteles, wurde “Ethik” als Sittenlehre oder als Tugendlehre verstand, resp. als Lehre von der Glückseligkeit oder vom guten Leben. Gemäss dem hierarchischen Menschenbild der Antike stand allerdings Glückseligkeit (Eudämonia) zum vornherein nur den freien, besitzenden Männern zu; Frauen und Sklaven waren davon ausgeschlossen. Es lässt sich sagen, dass das Ziel jeder Ethik eigentlich das “gute Leben” ist, wobei bezüglich des guten Lebens Verschiedenes und Ungleiches gemeint ist: das diesseitige gute Leben, oder das jenseitige gute Leben, oder das gute Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen (wie eben z.B. der freien Männer in der griechischen Antike und noch während Jahrhunderten in den Systemen des Patriarchats, oder der Arier im Nationalsozialismus, oder aller Menschen, auf Grund einer reziproken Anerkennung des gleichen Menschseins und einer konsensfähigen Wertehierarchie) usw. Damit wird deutlich, dass jede Ethik ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt, und eine bestimmte Zeit widerspiegelt.

Es ist eine Tatsache, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden, häufig nicht im Sinn einer möglichst breiten Konsensfindung, nicht in Hinblick auf das grösstmögliche “bien commun”, sondern in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten, um dadurch die danach handelnden Menschen zu kontrollieren, ob dies Fürsten, Potentaten, religiöse Autoritäten, Arbeitgeber, politische Führer, die sogenannte “öffentliche Meinung” usw. war oder noch immer ist. Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Wertordnungen, die untereinander rivalisierten, im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien, auf die schon Aristoteles in seiner “Nikomachischen Ethik” hinwies, und jene Gewissenskonflikte, die wir zum Teil auch heute kennen, deren Ursprung in der Nichtübereinstimmung ev. gleichrangiger Werte oder Handlungsregeln liegt, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen, d.h. in der Tatsache, dass das eine oder das andere, was man tun oder unterlassen sollte resp. müsste, sich widerspricht. Die Art und Weise, in der Menschen sich bei verschiedenen, ev. gar widersprüchlichen richtungweisenden Ethiken entscheiden, fällt wiederum in den Bereich der Moral.

Trotz aller Mängel der Aristotelischen “Ethik” lässt sich hierin ein erster Schritt in die Moderne erblicken, indem die von Platon vertretene Lehre vom Guten, die dieser als akademische, sehr idealistische, quasi abstrakte Reflexion ausformulierte, durch den Rekurs auf die Praxis korrigiert wurde. In der Tat ging es Aristoteles um eine Theorie des gelingenden und guten Lebens unter den Bedingungen einer Legitimitätskrise von Sitte und Herkunft, die sich im Auftreten von Paradoxien, von widersprüchlichen Entscheidungs- und Handlungssituationen, zeigte. Er verstand darunter drei Gruppen, drei Bereiche von Entzweiungspositionen, resp. von Entscheidungskonflikten, von denen jede Gruppe wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Ich will die drei Bereiche kurz erwähnen, da diese selbst heute noch von Belang sind:

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von “Weisen” (resp. Intellektuellen, Philosophen/Philosophinnen, Lehrern/Lehrerinnen etc.) und Menschen einer bestimmten, herkunftsbedingten Alltagsorientierung ergeben. Aristoteles erklärt, dass diese Paradoxa unausweichlich seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei, etwa bei den Fragen “Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder “Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch “Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”.

Der zweite Bereich bezeichnet nicht-übereinstimmungsfähige Positionen, die durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen philosophischen Schulen (ev. auch Wirtschaftstheorien oder Religionen etc.) entstehen und mit denen die nicht-philosophische Bevölkerung konfrontiert wird.

Mit dem dritten Bereich thematisiert Aristoteles Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, wobei er die Widersprüche zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen meint. “Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, “sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”.

Ein wichtiges Element in dieser Theorie vom guten Handeln ist Aristoteles’ mehrmals wiederholtes Insistieren auf der Nutzlosigkeit aller Theorie und allen Lehrens von Regeln, wenn nicht das gelebte, vorgelebte Vorbild der Lehrenden, der “Weisen” damit einhergeht.

Weitere, noch noch heute massgebliche philosophische Grundlagen westlicher Ethik finden sich, neben dem religiösen Rekurs auf die Vorschriften des Dekalogs, bei Immanuel Kant[1], dessen kritische Philosophie als Absage an die herkömmlichen metaphysischen Tugendlehren einerseits den Rekurs auf die Vernunft – auf die Freiheit, auf das Selberdenken und auf die Selbstverantwortung -, andererseits den Rekurs auf die Praxis zum Instrument von Handlungsentscheiden erklärt. Während die Rechtslehre sich “äussere Gesetze gibt”, wie Kant sagt, deren Befolgung notwendig – “ein Zwang” – ist, ist “die Tugendlehre deren nicht fähig”. Bei der Tugendlehre (häufig auch als Pflichtenlehre bezeichnet) – worunter Kant die Ethik resp. die Moralphilosophie im engen Sinn meint – zieht er in Betracht, dass es einerseits allgemeiner Maximen bedarf, andererseits der Überwindung der inneren Widerstände, ev. der Trägheit, damit Menschen diesen Maximen entsprechend handeln. Die Urteilskraft ist die Fähigkeit, ein partikuläres Problem, einen partikulären Handlungsentscheid einer übergeordneten Maxime unterzuordnen. Eine allgemeine Maxime für das richtige (oder tugendhafte) Handeln ist, gemäss Kant, ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. Dazu rechnet er einerseits die “eigene Vollkommenheit”, andererseits “fremde Glückseligkeit”, wobei diese letztere, indem sie angestrebt wird, zur eigenen werden kann. Man könnte sagen, dass Kant zugleich einen egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorschlägt, bei dessen Befolgung zwei wichtige Hauptregeln, resp. Maximen, wegweisend sind, nämlich der kategorische und der praktische Imperativ: der kategorische Imperativ  besagt, dass die Handlungsentscheide so zu treffen seien, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnten, und der praktische Imperativ hält fest, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nie ein Mensch zum Mittel gemacht resp. benutzt oder gar missbraucht werden darf, dass nie ein Mensch wie eine Sache, wie ein Ding eingesetzt werden darf, dass der Mensch immer selber Zweck sein muss.

Der Kant’schen Ethik liegt das Menschenbild der Aufklärung zugrunde, eine so erstmals säkular definierte Gleichheit der Menschen auf Grund des gleichen Menschseins (der gleichen “Menschheit”) in jedem Menschen – mit der Einschränkung allerdings, dass Ende des 18. Jahrhunderts weder die Sklaverei abgeschafft war noch die Emanzipation (d.h. die rechtliche Gleichstellung) der Juden und schon gar nicht der Frauen oder der Kinder erreicht war. Zudem setzte damals, mit dem Beginn der Industrialisierung, die systematische Ausbeutung einer faktisch rechtlosen, ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft ein, die durch die Fliessbandarbeit anonymisiert, des “Produkts” entfremdet und ausschliesslich zur Mehrwertsteigerung des Kapitals missbraucht, resp. instrumentalisiert wurde, trotz des Kant’schen praktischen Imperativs. Und trotz dessen begann sich auch gleichzeitig das System des Imperialismus zu entwickeln, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete und festigte, mit Kriegen und bürokratisierten administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungssystemen, bei denen der Herrschaftsanspruch der sogennannten “Mutterländer” durch die “Unentwickeltheit” und “Minderwertigkeit” der “Objekte” der Herrschaft in Afrika, Asien etc. legitimiert wurde. Damit setzte sich weltweit der systematische Rassismus sogenannter “Herrenvölker” und “Herrenrassen” durch, der in die verhängnisvolle Geschichte unseres Jahrhunderts hineinführte und dieses Jahrhundert mit seinen menschenverachtenden Ideologien und Herrschaftssystemen zum blutigsten und schudlbeladensten aller Zeiten werden liess.

Mit der Moderne begann somit einerseits die bislang verallgemeinerungsfähigste Ethik des gleichen Respekts vor dem gleichen Menschsein in jedem Menschen, und zugleich die systematische und zunehmend noch gesteigerte Instrumentalisierung, Entfremdung und Entwertung der Menschen durch andere Menschen – eine Entwicklung, die bis heute andauert.

 

Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam”…

Shakespeares Klage[2] gilt auch heute. Die Zeit, die gemeint ist, ist zugleich der Rahmen des Zusammenlebens der vielen verschiedenen Menschen auf der Welt wie die je ausschliessliche Existenzbedingung des einzelnen Menschen, der sich auch wiederum über die Zeitverhältnisse definiert, in die er hineingeboren wurde und in denen er sein Leben lebt.

Die heutige Zeit, unsere Zeitgenossenschaft, ist gekennzeichnet durch eine systematische Masslosigkeit, die jegliches Menschenmass längst überschritten hat. Sie hat ihr eigenes Zeitmass verloren, indem die Kommunikationstechnologie eine Beschleunigung analog zur Lichtgeschwindigkeit möglich macht, die nicht weiter gesteigert werden kann. Sie hat die Grenzen der materiellen Machbarkeit gesprengt, indem, noch während des letzten Kriegs, die Kernspaltung realisiert wurde und mit ihr die Schaffung der Atombombe, sodann, vor einigen Jahren, die Genomspaltung und -manipulation, die mit der potentiellen industriellen Produktion von Menschen das Sprechen von Menschenwert und Menschenwürde vollends zum Hohn werden lässt, nachdem die von den Nazis bürokratisch geplante und systematisch, industriell durchgeführte Massenvernichtung von Menschen die grundsätzliche Verhöhnung jeder religiösen Lehre und ethischen Theorie westlicher Kultur bedeutet. Unsere Zeit ist gezeichnet durch die damals von Millionen von Menschen unterstützte Hybris der autoritär diktierten und rassisch, ethnisch, politisch, religiös und schliesslich biologisch definierten Norm von Menschsein, von Wert oder Unwert des Menschseins.

Was damit geschah und was damit einsetzte, kann durch keine sogenannten “Reparaturleistungen” wiedergutgemacht werden. Es bedürfte einer anderen Praxis des Respekts vor den gleichen Grundbedürfnissen jedes Menschen und damit vor den gleichen Grundrechten. Doch die Hoffnung, persönlichen Respekt als Mensch durch Respektierung der individuellen Differenz zu erlangen, ist zur Utopie (u-topos) geworden. Denn in Hunderten von Kriegen hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das System der Menschenverachtung fortgesetzt, auch im versteckten Krieg der kapitalistischen Wirtschaft, welche die technologischen Entwicklungen in der Produktion mit der skrupellosen Kapitalgewinnsteigerung verbindet, um die Menschen millionenfach “wegzurationalisieren”, auf die Strasse zu stellen, für überflüssig und unbrauchbar zu erklären, häufig, wie bei unzählbar vielen Jugendlichen, bevor sie je Gelegenheit hatten, ihr Können und ihre Fähigkeiten überhaupt zu beweisen.

Zwar wurde 1946, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die UNO gegründet und 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Katalog der höchsten ethischen Normen allen staatlichen Verfassungen und allen übrigen Normensystemen überzuordnen versucht, um gegen alle getane und erlittene Barbarei das Recht jedes einzelnen Menschen, Rechte zu haben (gemäss Hannah Arendt) sowie den Wert des menschlichen Zusammenlebens in der Pluralität der Differenz als unverzichtbar zu erklären. Doch 1948 führte nicht zu einer anderen Praxis des menschlichen Zusammenlebens: die nächsten Kriege waren schon geplant, die nächsten menschenverachtenden Ideologien schon im Aufbau, die Täter der vergangenen totalitären Regimes zum Teil in neuen Regimes in neuen Ämtern und Würden, und die nationalen Wirtschaften bauten sich wieder auf und boomten mit der Produktion und dem Verkauf neuer Waffensysteme. Was erneut zählte, war der wirtschaftliche Wettlauf, der Rüstungswettlauf, der technologische Wettlauf, kurz, in allem die Beherrschung möglichst grosser Märkte – auf Kosten der Menschen, auf Kosten der Zukunft des Zusammenlebens der Menschen, auf Kosten der ökologischen Grundlagen des Zusammenlebens.

 

Ein “gutes Leben” heute, eine Illusion?

Wen wundert’s, dass ein grosser Teil der Jugend traurig ist und passiv oder aktiv Widerstand leistet gegen die sogenannten “Sinnangebote” ihrer Elterngeneration, und diese als verloren und unglaubwürdig erklärt? – oder dass ein anderer Teil sich auf rastlose Weise zerstreuen will, mit Sport und “games” und sich auf nichts Ernsthaftes mehr einlassen will? – oder dass ein anderer Teil von chemischen Ersatzangeboten des “Glücks” abhängig wird, sogar im Wissen um den Schaden, den sie sich selber zufügen? – oder dass nochmals ein anderer Teil die überall spürbare Gewalt weniger internalisiert und gegen sich selber wendet, sondern sich Feindbilder schafft – Schwächere, Behinderte, asylsuchende Fremde, Alte, Kinder – und diese terrorisiert? Suchtverhalten beschränkt sich nicht auf Konsum von Alkohol, Nikotin, Heroin und anderen chemischen Stoffen, sondern äussert sich auf vielfältigste Weise. Immer beruht es auf Ersatz für nicht erfüllte Grundbedürfnisse – für das nicht erfüllte Bedürfnis nach Angenommensein, nach Zuwendung, nach Frieden, nach Sicherheit und Freiheit, nach guten, umsetzbaren Wahlmöglichkeiten im Bedürfnis, ein sinnhaftes Leben im Zusammenleben mit anderen Menschen gestalten zu können.

Aus meiner psychoanalytischen Erfahrung weiss ich, dass jedem Menschen seine eigene Vergangenheit, so wie sie ihm von seinen Eltern geschaffen wurde, sehr viel mehr eigen ist als er/sie dies je bewusst erfassen kann. Die Geschichte der frühen und späteren Kindheit kommt nicht nur durch eigenes Erleben zustande, sondern auch durch eine Folge unbewusster Übertragungen. Es ist zumeist eine Geschichte des Leidens, des existentiellen Zukurzkommens, der seelischen (manchmal auch der materiellen) Entbehrungen, der Erfahrung von emotionalem Hunger, von Ängsten, von Alleingelassensein, von Stummheit und Streit, von Kälte und von Grausamkeit – häufig unter den verstörenden Beteuerungen von Werten, von elterlicher oder familiärer oder betreuerischer Liebe. Es ist auch bekannt, dass ein eigener Lebensentwurf nur dann vorstellbar ist und nur dann gelingen kann, wenn Menschen an ihrem Lebenswert nicht zweifeln, wenn sie sich selbst in der je eigenen Besonderheit annehmen können, mit den je eigenen Schwächen und Talenten. Sich annehmen können aber setzt die Erfahrung des Angenommenseins voraus. Manchmal ist dies erst in der therapeutischen Erfahrung möglich, manchmal überhaupt nie in einem Mass, das erlauben würde, alles Leiden, alle Mangelerfahrungen, auch das Gefühl der “Schuld”, nicht “genügen” zu können, in eine echte Akzeptanz zu integrieren. Suchtverhalten kommt einer Flucht gleich, einem Versuch, Mangelerfahrungen zu kompensieren durch Übermässigkeit. Es ist eine beinah spiegelbildliche Internalisierung der äussern, nach generellen Kriterien “normalen”, jedoch krankmachenden Masslosigkeiten.

Sie fragen angesichts dieser Summierung von individuellem und von kollektivem Erleben des Werteverlusts und des Selbstwertverlustes nach Werten, welche für Jugendliche einen Halt bedeuten könnten, eine zugleich stärkende und ermutigende Korrektur in einer Situation der Ratlosigkeit, häufig der Anpassung und Resignation.

Nach meiner langen, vergleichenden Erfahrung mit Jugendlichen – jungen Frauen und jungen Männern – aus allen sozialen Schichten, aus unterschiedlichen Kulturen, Nationen und Zeitgeschichten, geprägt durch Religionen, Ideologien und Sprachen ihrer Herkunftsgeschichte, die sie weder wählen noch verändern konnten, wurde mit klar, dass das eigene, persönliche Wertempfinden zumeist durch die Erfahrung von Mangel geprägt wurde. So ist es auch heute. Mangelerfahrungen werden erlebt durch mangelnde Aufmerksamkeit, Einfühlsamkeit, Verlässlichkeit, durch mangelndes Übereinstimmen von gefordertem Respekt und von erlebtem Respekt, durch mangelnde Zeit zum Erkunden, Spielen und Lernen, durch mangelnden Halt und mangelnde Wärme, durch mangelnde Sicherheit und mangelnde Dauer. Immer sind es Grundbedürfnisse, deren Wert durch Mangel bewusst wird, deren Erfüllung einem Grundrecht gleichkommt, das unerfüllt blieb. Liebe  ist eines der Grundbedürfnisse, das kaum oder missverständlich erfüllt wird. Die vielseitige Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen von Erwachsenen, deren eigene Kindheitserfahrungen durch Mangel geprägt waren, geht häufig – nicht unbedingt – einher mit Zuwenig oder mit Zuviel an vermittelten Werten, mit noch grösserem Mangel, mit Missbrauch oder mit Ersatz. Zukunft ins Auge zu fassen ist schwierig, wenn der Boden unter den Füssen voller Löcher ist oder voller Dornen, wenn er klebrig ist, überstellt oder vergittert, wenn er leer ist oder gar fehlt. So empfinden viele Jugendliche die Bedingungen, unter denen sie die Kindheit erlebt haben. Dazu kommt die sich überstürzende Geschwindigkeit in der Entwicklung, die als “Fortschritt” bezeichnet wird und als “Wert” gilt, obwohl sie im technologischen und digitalen Virtuellen besteht. Im Alltag der Jugendlichen wird die Individualität und Differenz der einzelnen kaum mehr ernst genommen oder angenommen, obwohl letztlich hierin ihr je persönlicher Wert besteht. Da aber nur über die Erfahrung, in der Besonderheit angenommen zu werden, sich Freiheit entwickeln kann – die wie Liebe zu den Grundbedürfnissen gehört, die auf missverständliche und missbräuchliche Weise gedeutet, benutzt und angeboten werden, ohne erfüllt zu werden -, wird Freiheit zu einem hohen Wert erklärt. Angenommensein/Aufgehobensein/Vertrauen und Freiheit bedingen sich wechselseitig in der Reziprozität der Werterfahrung von Respekt; Respekt vor der Besonderheit und Unaustauschbarkeit des individuellen Lebens. Der Mangel an Respekt ist die Kehrseite von Werterfahrung; sie führt zum Gefühl unwerten Lebens, zu Angst und Leere, zu Verlassenheit und lähmender Unfreiheit. Ist somit Respekt vor der Besonderheit des je individuellen Lebens ein höchster Wert, wenn Respekt in der vielfältigen Reziprozität erlebt werden kann?

Die Frage ist, wie aus der Kenntnis von Mangel das Bedürfnis nach Korrektur des Mangels mit Werten verbunden werden kann, die nicht trügerisch sind. Oder: Wie lassen sich Werte operationalisieren? In der praktischen Philosophie gibt es eine dreistufige Grundregel, die hier Anwendung finden kann: sehen und hören, verstehen und urteilen, handeln. Oder: wahrnehmen und aufnehmen, denken resp. verarbeiten, umsetzen resp. fortsetzen. Es ist die Grundregel der dialogischen Grammatik, bei welche im aktiven wie im passiven Verhalten der gleiche Subjektwert gilt. Die Subjekterfahrung ist somit von zentralem Wert. Diese Erfahrung ist weder von materiellen Bedingungen noch von Trends noch von Doktrinen oder  Ideologien abhängig. Die dialogische Grammatik hat als Ziel das Verstehen. Verstehen kommt dem  urspünglichen Sinn des Wortes “sym-pathein” (“mit-leiden”) nahe. Durch die dialogische Erfahrung von Subjekt-Subjektwert kann Vertrauen entstehen. Verstehen und Vertrauen sind Werterfahrungen, die sich wechselseitig verstärken; sie schliessen Missbrauch aus. (Vielleicht ist dies der ursprüngliche Sinn von “re-ligio”: Rück-bindung, Rückkoppelung).

Sich Zeit zugestehen für diesen dialogischen Prozess des allmählichen Verstehens, der Vertrauensbildung, der Herstellung und Festigung von Respekt bewirkt eine spürbare Verlangsamung im Rhythmus der Abläufe von Verpflichtungen, Erfüllungen und Aufgaben. Die grossen Grundbedürfnisse nach Freiheit und nach Verlässlichkeit, nach gleichem Respekt vor der Besonderheit und vor der Ungleichheit können tatsächlich erfüllt werden, manchmal nicht sofort, manchmal erst nach Überwindung eines seit langem bestehenden Misstrauens, selbst eines Widerstands gegen mögliche positive Veränderung der Erfahrungen.

Werte, die für Jugendliche durch Mangelerfahrungen bewusst werden, müssen nicht utopisch sein, Widerstand darf nicht entmutigen. Widerstand zu verstehen und auszuhalten schafft eine weitere Erfahrung, die Wert bedeutet, eine tragfähige Voraussetzung für eine wachsende innere Sicherheit, welche den Blick auf die Zukunft zulässt.

 

[1] cf. “Grundlegung der Metaphysik der Sitten” von 1785, “Kritik der praktischen Vernunft” von 1788 und schliesslich “Metaphysik der Sitten” von 1797, die in die “Rechtslehre” und in die “Tugendlehre” aufgeteilt.

[2] Hamlet I,5: “The time is out of joint, the cursed, spite that I was born to set it right”

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