Werden und Sein – Das Rästel des eigenen Ich unter dem Aspekt der Evolution

Werden und Sein

Das Rästel des eigenen Ich unter dem Aspekt der Evolution

 

„Tiere traten getrost

In den offenen Blick, weidende,

Und die gefangenen Löwen

Starrten hinein wie in unbegreifliche Freiheit;

Vögel druchflogen ihn grad,

den gemütigen Blumen

wiederschauten in ihn

gross wie in Kinder. (…)

 

Denn des Anschauns, sieh, ist eine Grenze“…[1]

 

„ Ganz vergessener Völker Müdigkeiten

Kann ich nicht abtun von meinen Lidern.

Noch weghalten von der erschrockenen Seele

Stummes Niederfallen ferner Sterne.

 

Viele Geschicke weben neben meinen,

Durcheinander spielt sie alle das Dasein,

Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens

Schlanke Flamme oder schmale Leier.“[2]

 

„Jahrhundertgedächtnis“ nennt sich eine Gedichtsammlung, in der ich auf der Suche nach Spuren häufig auf vertraute stosse, die mich weiterleiten: „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten… stummes Niederfallen ferner Sterne. Viele Geschicke weben neben meinen, durcheinander spielt sie alle das Dasein.“

Das vorvergangene Jahrhundert, auf welches sich in diesem Jahr mit der Erinnerung an Charles Darwins Evolutionstheorie der wissenschaftliche Blick ausrichtet – „der offene Blick“, in den „getrost Tiere treten“, der aufnimmt, was in ihn hineintritt -, war das Jahrhundert der Lebensgrosseltern und der Über-Ich-Grosseltern, vielleicht auch der Urgrosseltern, d.h. der den nächststehenden Eltern existentiell und denkerisch vorangegangenen Vorfahren, von welchen im Jahrhundert unserer Kindheit jede weitere Entwicklung zehrte, die nicht wählbaren und die wählbaren, die herkunftsbedingte körperliche und geistige Entwicklung, geprägt vielleicht von Liebe, Offenheit und innerem Halt, doch vielleicht ebenso von harten Regeln und Verboten, von Angst und Schweigen. Verehrung oder Klage halten sich im Rückblick die Waage. Es geht um den Anteil an mütterlicher und väterlicher Erbschaft, in der heutigen Klärung vielleicht weniger um den mütterlichen der kreativen Vernunft, der ich in anderen Zusammenhängen nachgegangen bin und die heute höchstens mitschwingt, als um die väterliche Erbschaft des Ringens um „richtige“ Erkenntnis.

Immer wenn das persönliche Werden nach Erklärung sucht, die sich nicht auf das unmittelbare eigene Wahrnehmen und Erleben, Empfinden, Denken und Entscheiden berufen kann – „denn des Anschauns, sieh, ist eine Grenze“ -, werden die Bücher geöffnet – die Tagebücher mit Briefen und Familiengenealogien, die Gedichtbücher und Biographien, die Erkenntnisbücher, die Bücher über philosophische und naturwissenschaftliche Theorien, über deren Umsetzung und Folgen, kurz, die Bücher der Geschichte. Dabei stellen wir etwas Erstaunliches fest: es ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, womit wir konfrontiert werden. Noch immer beschäftigt uns, was in jenem vorvergangenen Jahrhundert Charles Darwin und zahlreiche weitere Denker, auch Denkerinnen gleichzeitig verblüffte und zum Erforschen noch offener Distrikte anregte, etwa bei Alexander von Humboldt zur Verbindung von Geologie, Klimaforschung, Botanik und Staatslehre, oder bei Johann Wolfgang Goethe zur Verbindung von Kunst, Naturwissenschaft und Gesellschaftsanalyse, oder bei Henri Bergson zur Verbindung über die Intuition von Philosophie und Physik ebenso wie bei Pierre Teilhard de Chardin von Paläontologie, Philosophie und Religion, oder Sigmund Freud in der Erkenntnis der Kräfte des Unbewussten, durch welche die erklärungsmässig begrenzten Bereiche von Neurologie und Psychologie zur Erweiterung der Erkenntniswissenschaften über die Psychoanalyse gesprengt wurden, gleichzeitig zur Erweiterung und Vernetzung der Philosophie wie der Psychoanalyse mit der Sprachwissenschaft – sowohl der Linguistik wie der Semantik – und den schon im Vorfeld erarbeiteten Erkenntnissen der Biologie und Zoologie, der Botanik und der Farbenlehre, der Soziologie und der Ökonomie sowie immer wieder der Erforschung der macht- und wirtschaftspolitischen, von Besitz- und Beherrschungswillen, von Kampf und Krieg geprägten geschichtlichen Zusammenhänge. Doch dass der „Krieg der Vater aller Dinge“ sei, wie in Zusammenhang der Evolutionstheorien oft auf Herakleitos aus Ephesos, der vor bald zweieinhalbtausend Jahren lebte, Rekurs genommen wird, möchte ich zum Voraus als allzu einseitig gerichteten Blick bezeichnen.

Auch die uns vorangegangenen Vorfahren taten, was wir heute tun; auch sie griffen auf Vorfahren zurück, die selbst für uns noch präsent sind, zum Teil weiter als anregende Vorbilder, auf die wir uns abstützen, oder als kritisch stimmende machthungrige Gestalten, von denen wir uns zu lösen und zu distanzieren suchen. Es „weben“ tatsächlich „viele Geschicke neben meinen, durcheinander spielt sie alle das Dasein“: was war, setzt sich fort und ist Teil des eigenen Werdens – „des offenen Blicks“ – und zugleich des Seins, des Daseins und Ich-Seins, das mehr ist als „schlanke Flamme oder schmale Leier“, das Neues lernt und gestaltet, das auf persönliche Weise Spuren hinterlässt. Jedes Sein ist im Zusammenhang der Evolution – d.h. der allmählichen Entwicklung und Entfaltung des Seins im Werden und Vergehen – von unersetzlicher Bedeutung. Es wäre dem Sein kein Werden zugekommen, wenn diese Bedeutung nicht wäre.

Die Bedeutung von Werden und Sein beruht daher nicht auf abstrakten Theorien –  diese gehören zum Bereich der Mathematik und der Bürokratie, meist zum Bereich virtueller Erkenntnisse -, nein, die Bedeutung von Werden und Sein beruht auf der je individuellen Erfahrung. Sie beruht auf Wahrnehmungen und deren Verarbeitung, auf Wissenshunger und deren Erfüllung in Kenntnis der Grenzen, überhaupt auf lebenswichtigen – körperlichen und geistigen –  Bedürfnissen und deren Berücksichtigung sowohl durch das eigene innere, erkennende Auge wie durch das Auge der Anderen, die auf analoge und zugleich andere Weise mit der gleichen Aufgabe konfrontiert sind. Auch deren Erfahrung und Wissen wird durch Handeln, Gestalten und Sprechen – Sprechen und Schreiben – vermittelt und deren Bedürfnisse stossen vielleicht mit den eigenen zusammen, so dass Rivalisierungen, Konflikte und zum Teil erschöpfende, ja tödliche  Auseinandersetzungen bewirkt werden, zum Teil aber ein Fragen und Antworten, ein neues Fragen und Berücksichtigen der Differenz, ein Eintreten in das kreative Geflecht des Dialogs, des Verstehens und der Verantwortung. Jedem Menschen steht es zu, auf persönliche Weise im Werden zum Sein Sinn zu finden, doch immer ist es der dialogische Austausch, der in der vielfältigen Abhängigkeit des einen Menschen von den anderen das Verstehen der eigenen Entwicklung erleichtert.

Was in den Zeitzusammenhängen geschah, in welchen Charles Darwin’s Evolutionstheorie erstmals zum Gegenstand der Auseinandersetzung wurde, bedarf der näheren Beachtung. Zuerst geht es um die 1859 erschienene Theorie über die Entwicklung der Arten durch Selektion resp. durch „Auslese“ – „The Origin of  Species by Means of  Natural Selection“ – (lat. seligere / selectus – auslesen, auswählen / ausgewählt; legere – lesen), sodann um die 1871 publizierten zwei Bände über die Abstammung des Menschen  „The Descent of Man“. Das Hinterfragen der Zeitzusammenhänge wird den ersten Teil der Untersuchungen betreffen.

Der zweite Teil gilt der Vertiefung einer Auswahl von Erkenntniszusammenhängen, die von Philosophie und Psychoanalyse beigesteuert werden und die aus den gleichen zeitbedingten Einflüssen herauswuchsen. Im Ergründen und Verstehen der Rätsel des eigenen Ich können sie von Nutzen sein.

 

 

Erster Teil

Charles Darwin’s Erkenntnis, dass „der Kampf ums Dasein“ (von ihm selber als „metaphorische[3] Bezeichnung“ verstanden und zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt) sowohl die Abhängigkeit aller Wesen von einander einschliesst wie deren Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen[4], d.h. eine durch die zeitliche und räumliche Begrenztheit geschaffene zugleich hilfreiche und bedrohliche Gleichzeitigkeit Vieler, diese Erkenntnis bezog sich 1859, als er die Veröffentlichung wagte, auf seine jahrzehntelange minutiöse Beobachtung der Gräser, Kletterpflanzen und Orchideen, der Insekten und Fische, der Finken und der Tauben, der Hunde, Katzen und Pferde. Wären damals nicht andere Forscher zu den gleichen Erkenntnissen gelangt, Darwin hätte vielleicht noch während Jahren gezögert, seine Forschungsergebnisse über „Variation und Selektion der Arten“ zu veröffentlichen. Es waren insbesondere die evolutionstheoretischen Erkenntnisse von Alfred Russel Wallace gewesen, die Darwin zeitlich unter Druck gesetzt hatten, nicht länger zu warten, sondern die Resultate seiner Beobachtungen zu veröffentlichen, hatte ihm doch Wallace 1858 von der zwischen Neu-Guinea und Celebes gelegenen Insel Ternate seine sorgfältigen wissenschaftlichen Ergebnisse geschickt mit der Bitte, sie an den Geologen Charles Lyell weiterzuleiten und diesen nach seiner Beurteilung zu fragen. Da auch zwischen Forschern schon damals der „Kampf ums Dasein“ als Kampf um Erfolg und Ruhm geschah, ist anzunehmen, dass, hätte Wallace mit guten finanziellen Mitteln und besten gesellschaftlichen Verbindungen in London gelebt und Darwin als mittelloser Forscher auf einer fernen Insel, die Nachwelt, zu der wir gehören, in erster Linie Wallace und erst in zweiter Linie Darwin gedenken würde. Als dann zwölf Jahre später, 1871, die Publikation über die „Abstammung des Menschen“ folgte, war inzwischen Herbert Spencer’s „Principles of Biology“ (1864) erschienen und hatte in London und weit über London hinaus für Darwins These des „survival of the fittest“ eine weitgehende Unterstützung sowohl im Bereich der damaligen Soziologie und Politologie, Ethnographie und Wirtschaftswissenschaft, Ethnopsychologie und – zunehmend von Darwin divergierenden – rassistischen Ethik wie in einem breiten Teil der Öffentlichkeit geschaffen, die durch die Gewinnvorstellungen der imperialistischen Besitz- und Ausbeutungsansprüche sowohl Grossbritanniens wie der übrigen europäischen Staaten geprägt waren.

Darwin fühlte sich durch Spencer in seiner Meinung bestärkt, dass die Abstammungsgeschichte nicht nur die körperlichen Eigenschaften in der Verwandtschaft von Mensch und Tier belege, sondern selbst die moralische Verwandtschaft in den Kriterien des Verhaltens. Der Mensch sei aufs deutlichste als „soziales Tier“ erkennbar, und das „moralische Gefühl“, das sich z.B. mit dem Empfinden der Nützlichkeit des Stehlens oder Lügens oder mit jenem tugendhafter Neigungen, insbesondere des Mitgefühls, manifestiere, sei nicht anders denn durch Vererbung zu erklären, da ein schlaues, ein schädigendes oder ein entgegenkommendes Verhalten auf sozialen Instinkten beruhe, die sich, wie die körperlichen Überlebensinstinkte, nicht zuletzt in der Ausrichtung auf bestimmte Nahrungsmittel äussern, im Kampf ums Dasein über Generationen bewährt hätten. Über die Gesetze der Evolution erklärte Darwin somit nicht allein das menschliche Daseins in der vielfältigen Eigenart und Besonderheit des Aussehens, der Grösse und der körperlichen Tüchtigkeit, sondern auch das unterschiedliche menschliche Verhalten, so dass sich für ihn z.B. jede Art von Anpassung der Schwächeren an die Stärkeren bestätigt fand, allerdings nicht als Verhalten der niederen, resp. „rohen Stämme“, wie er schrieb, da bei diesen Selbstaufopferung zu Gunsten eines gefährdeten Nächsten eher vorkomme als bei den sogenannt „höheren“, die sich nach der öffentlichen Meinung richten würden. Wir werden noch darauf eingehen. Auf jeden Fall bedurfte es nicht mehr der biblischen Schöpfungsgeschichte noch bedurfte es länger der mosaischen Gesetze. Das menschliche Werden und Sein liess sich als Teil der Entwicklungsgeschichte der Natur erklären – mehr brauchte es offenbar nicht.

Doch weder Darwin noch Wallace waren die Ersten gewesen, deren Bedürfnis nach Klarheit im Widerspruch zwischen religiösen Glaubensinhalten und wissenschaftlicher Erforschung der Entwicklung des Planeten Erde sowie der auf ihm lebenden Pflanzen und Bäume, Tiere und Menschen den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hätte. Nicht nur im Bereich der Biologie, auch in jenem der Geologie und Klimatologie, der Volkswirtschaft und Staatspolitik war damals eine grosse Anzahl bahnbrechender Werke erschienen, die in Zusammenhang der wachsenden imperialistischen Weltbeherrschung und industriellen Entwicklung unterschiedlichsten Zwecken des „Fortschritts“ dienten. Darwin verwies schon 1859 mit Nachdruck auf den 1834 verstorbenen Thomas Malthus und dessen „Essay on the Principles of Population“ von 1798, in dessen Warnung vor Überbevölkerung er eine volkswirtschaftliche Bestätigung der eigenen Theorie des Überlebens der Stärksten fand, wobei laut Malthus die Qualität der Gesellschaft forderte, dass die Armen die Anzahl Kinder zu beschränken hatten, während den Reichen die Kinderzahl frei stehen sollte. Allerdings hatte Malthus Hungersnöte oder Epidemien noch als Ausdruck des göttlichen Willens gedeutet, was für Darwin eine nicht mehr tragbare Erklärung war. Sich von der über Jahrhunderte vertretenen Theorie vom göttlichen Willen abzuwenden, geschah für ihn nicht mit der Dringlichkeit des erkenntniskritischen Aufbegehrens gegen die Macht der Kirchen, wie dies lange vor ihm schon zahlreiche Denker gewagt hatten, etwa die Enzyklopädisten in Frankreich im Vorfeld der Revolution von 1789, z.B. Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Marie Jean de Condorcet oder Jean-Jacques Rousseau und Voltaire, ebenso die sogenannten „Freidenker“ in Frankreich wie in England, insbesondere Anthony Collins oder John Locke, George Berkeley, David Hume, Adam Smith u.a.m. Gerade von den englischen Freidenkern wurde jedoch eine göttliche Präsenz resp. Transzendenz nicht geleugnet; abgelehnt wurde deren Vereinnahmung durch den ausschliesslichen Wahrheitsanspruch von Religionen und den damit verbundenen weltlichen Machtsystemen.

Für Darwin beruhte die Abwendung von der biblisch überlieferten, göttlichen Schöpfungserklärung auf der nicht mehr zu leugnenden Erkenntnis der allmählich sich über Jahrmillionen[5] aus Einzellern entwickelten lebensfähigen, mehr oder weniger lebenstüchtigen Geschöpfen, ob sie sich weiter zu Pflanzen oder zu Tieren und zu Menschen entwickelten, in eine unendlich vielfältige Anzahl von Arten und Wesen, deren Entwicklung er unter den schwierigen Bedingungen des Überlebens als Manifestation einer steten Veränderung und  instinkthaften Anpassung an die geologischen und klimatischen Verhältnisse des Zusammenlebens im Wasser und auf der Erde verstand, das mit der Absonderung und Ausgrenzung oder der Veränderung (Mutation) und Verbesserung der Arten einherging und das die Möglichkeiten der Fortpflanzung mitbestimmte. Allerdings gab es für ihn keinen Zweifel, dass dem Menschen – wie auch höheren Tierarten – auch unter schwierigen Daseinsbedingungen verschiedene vom eigenen Empfinden beeinflusste Wahlmöglichkeiten zustanden und weiter zustehen, über die er selber entscheidet und die seinem persönlichen Ermessen des richtigen Handelns entsprechen.

Was Darwin als „Selektion“ resp. „Auslese“  verstand und was er durch die Evolutionstheorie begründete,  hatte damals im Rahmen einer aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft eher den Aspekt der Bestätigung als des Erschreckens. So hatte z.B. Goethe schon 1790 seine „Metamorphose der Pflanzen“ publiziert, ja schon 1784 den Zwischenkieferknochen beim Menschen entdeckt und damit die Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen vermutet. Anatomie und Morphologie waren längst nicht mehr tabuisierte Forschungsgebiete, im Gegenteil, die Forschungsergebnisse wurden in den wachsenden „aufgeklärten“ Kreisen mit Interesse aufgenommen und unterstützt. Die für jede Art Forschung nützlichen Instrumente – Ferngläser, Lupen, Pinzetten, Messinstrumente, Uhren  und viele weitere Instrumente – wurden ständig verbessert und verfeinert, die gebildete Gesellschaft sprach mehrere Sprachen, und Reisen, ob über Land oder Meer, gehörten zum wetteifernden Bildungshunger, der über den Sturm und Drang hinausgewachsen war und der der grossen „Physiogeografie“ zu Diensten sein wollte, manchmal aus eigenem Wissenshunger, oft jedoch im Dienst der europäischen Grossmächte und deren imperialistischen Nutzungs- und Besitzerweiterungswünschen in fremden Ländern und Kontinenten oder aus beiden Gründen zusammen, wie es u.a. für Darwin selber zutraf, auch für Alexander von Humboldt (1769 – 1859), der 1798 zusammen mit dem französischen Botaniker Aimé Bonplan eine erste Weltreise begann, auf welcher er während mehr als fünf Jahren sowohl die physikalischen und kosmischen Kräfte studierte, berechnete und einteilte, um die geologischen und geographischen, die klimatischen und pflanzlichen Zusammenhänge erklären zu können, auch aufs genaueste die Vielzahl der Pflanzen, der Tiere in ihrer Besonderheit sowie fremder Kulturen beobachtete, verglich und sorgfältig in allen Eigenheiten festhielt. „Ich werde Planzen und Fossilien sammeln, mit vortrefflichen Instrumenten Beobachtungen machen können. (…) Das alles ist aber nicht der Hauptzweck meiner Reise. Auf das Zusammenwirken der Kräfte, auf den Einfluss der unbelebten Schöpfung, auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein“, hatte Humboldt vor der Abreise festgehalten, und als er zurückkehrte mit einem dreissigbändigen Reisewerk belegte, das dem preussischen Königtum diente und weitere Forscher in ihrer Arbeit bestärkte. Gegen Ende seines Lebens hielt er zusammenfassend in seienm letzten Werk  „Kosmos“ seine grossen Forschungsergebnisse und Erkenntnisse fest und betonte, dass, indem „die Einheit des Menschengeschlechtes“ behauptet werde, „wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen widersprechen. Es giebt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt.“[6]

Wissenschaft und Wirtschaft hielten sich wechselseitig in Spannung, widersprüchlich sich ergänzend und sich provozierend. Charles Darwin erachtete Alexander von Humboldt als Vorbild, als „den grössten reisenden Wissenschafter, der je gelebt hat“, wie im kleinen Briefaustausch zwischen den beiden deulich wird. Humbold, der 1859 starb, im selben Jahr, als Darwin „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ veröffentlichte, gehörte somit seiner Vatergeneration an, welche für ihn das Fundament für seine eigenen Bestrebungen geschaffen hatte. Ich kann mir vorstellen, dass Humboldts „Ansichten der Natur“ von 1826 auf den damals 17jährigen Darwin tatsächlich wie ein Auftrag gewirkt hatten, hatte er doch geschrieben, die Natur sei für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielfalt, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat des „sinnig physischen Forschens“ sei daher, in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen des letzten Zeitalters uns darbieten könne, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrem Masse zu unterliegen, der erhabenen Betimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liege. Auf diesem Weg reiche das  Bestreben über die enge Sinnenwelt hinaus, und es könne gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Auslegung gleichermassen durch Ideen zu beherrschen.

Auch Humboldt war diesbezüglich kein Aussenseiter gewesen. Unter vielen weiteren Forschen hatte schon Jean-Baptiste Lamarck[7] (1744-1829) auf Grund seiner Beobachtungen und Untersuchungen festgehalten, dass nicht allein die Anpassung an Umweltbedingungen das Überleben der Arten erkläre, sondern ebenso das Erlernen neuer Fähigkeiten und das Erwerben neuer Eigenschaften, d.h. das „Können“ im Umsetzen von Fähigkeiten und Eigenschaften, ja dass auch dieses „Können“ – le pouvoir“-  vererbt werde und auf immer neue Weise den Artenreichtum erweitere. So war schon Lamarck, diesem französischen Arzt und Naturforscher, klar, dass die pflanzlichen und tierischen, auch die menschlichen  Geschöpfe nicht unveränderliches Schöpfungswerk sein können, dass alles, was sie erleben, eine Vielzahl von Empfindungen weckt – von abwehrenden Empfindungen wie Misstrauen und Angst, oder von stärkenden wie Neugier und Wissenshunger, Freude und Liebe –, dass die Empfindungen von der frühesten Lebenszeit an das Verhalten lenken, das Beziehungsgefüge beeinflussen sowie insbesondere Erkennen und Denken anregen, um das Überleben zu ermöglichen, ja dass die ganze Vielzahl von Empfindungen auf früheren  Wahrnehmungen und Erfahrungen beruht, auch dass diese in Form von Vererbung – oder von Werken – überliefert wurde, über die wir verfügen.

Ein Beispiel für diese Tatsache mag die hoch komplexe Verhaltensstruktur im Beziehungsnetz der Ameisen sein, die gleichzeitig mit Darwins Forschungsarbeit von Jean Henri Fabre (1823-1915) auf bescheidenste Weise, jedoch mit nicht erlahmender Sorgfalt beobachtet worden war und dessen Erkenntnisse Darwin in seinen Betrachtungen über die Gesetze der Fortpflanzung in der „Entstehung der Arten“ lobte[8]. Als ich vor über zwanzig Jahren dank Kurt Guggenheims „Sandkorn für Sandkorn“ auf Jean-Henri Fabre stiess, wurde mir bewusst, warum in mir jedes Mal ein moralischer Konflikt spürbar wird, wenn ich entscheiden muss, wie ich mit den Ameisen umgehe, die über die Hauswand hoch in mein Wohnzimmer eindringen und dieses zu bevölkern suchen. Selbst gegenüber Insekten, zu denen keine persönliche Beziehung besteht wie zu Haustieren  – zu Katzen und Hunden, in meiner Kindheit bei den Grosseltern auch zu Kühen, Pferden und Hühnern -, d.h. zu Tieren, die mit ihrer Nähe, mit ihrem Blick und ihrer spürbaren Beziehung das eigene Leben begleiten, auch zu Vögeln, die regelmässig um die gleiche Zeit um Futter bitten kommen oder die auf meinem Balkon ihre Eier ausbrüten wie während Jahren die gleiche Entenmutter, nein selbst gegenüber Insekten, die mir als aufdringliche Unbekannte begegnen, stellt sich sofort die Frage nach dem Sinn oder der Notwendigkeit ihres Verhaltens, das durch meine Reaktion zugelassen oder beeinträchtigt, unterbrochen und geknickt wird. Und doch kann ich die Ameisen in meinem Wohnraum nicht schalten und walten lassen, wie sie sich dies vorstellen, sondern muss sie in den Bezirk zurückvertreiben, der ihnen zusteht, so dass ich mich durch sie nicht belästigt fühle.

Auch Kurt Guggenheim hatte mit grosser Klarheit seine Erkenntnisse im geheimnisvollen Verhalten der Tiere festgehalten. „In den Säugetieren erkennen wir etwas Vormenschliches oder manchmal etwas wie misslungen Menschliches. Es fällt uns gar nicht schwer, sie zu individualisieren. (…) Bei den Insekten gelingt so etwas nicht. Die Insekten haben keine Persönlichkeit; zu Tausenden gleicht ein jedes dieser Tiere einem anderen über Jahrtausende, vielleicht sogar Jahrmillionen hinweg. Sie haben keinen eigenen Willen, keine Intelligenz. In allem, was sie tun, werden sie elektronisch gelenkt. (…) Sie sind völlig anders gebaut als wir; im Körper haben sie kein Knochengerüst. Schon Saint-Hilaire[9] sagte von ihnen, sie seien Wirbeltiere, die im Inneren ihrer Wirbelsäule lebten. Starr, maskenhaft ist ihr Gesicht mit ihren bewegungslosen Facettenaugen. Sie haben sechs Beine; ihre Flügel und Flügeldecken lassen sich mit denen keines anderen Lebewesens vergleichen, auch mit denen der Vögel nicht. Ein ewiges Rätsel bildet der Vorgang ihrer Metamorphose. In drei verschiedenen Formen – ja, fünf oder sechs sogar, wie Fabre nachgewiesen hat – tritt das Individuum auf. Aber sind es vielleicht doch nicht drei Individualitäten, drei Ich, die wir sehen?“[10] Auch hier, ohne Zweifel, ob bei Fabre, bei Guggenheim oder bei mir angesichts der Ameisen im Wohnzimmer, die „hinein starrten wie in unbegreifliche Freiheit“, äussert sich Rilkes Erkenntnis: „denn des Anschauns, sieh, ist eine Grenze“.

Auf jeden Fall wurde mir auch im Verhalten der Ameisen bewusst, in welchem Mass sich die „Lebenskraft“ äussert, die für Humboldt die tragende, alle Geschöpfe verbindende Idee war und die sich in gedanklicher Analogie bei Darwin im „sozialen Instinkt“ findet, der sich aus dem ursprünglichen Überlebensverhalten von den „niederen Tieren“ zu den „höheren Tieren“ und von diesen zu jenem des Menschen in wachsende  „Tugendhaftigkeit“ oder Vervollkommnung entfaltet, so dass es sich letztlich in der wechselseitigen Verpflichtung verdeutlicht, beim Handeln „die Wohlfahrt anderer“ in Betracht zu ziehen, wie Darwin 1871 festhielt. In diesem Sinn war z.B. die Sklaverei für Humboldt wie für Darwin in moralischer Hinsicht nicht zu vertreten, im Gegenteil, da sie dem vom sozialen Instinkt her geforderten Wohlwollen gegenüber den Anderen widerspricht. Für Darwin ging mit dem Instinkt der Selbsterhaltung und Selbstverteidigung der Aspekt der sozialen Verpflichtung einher, da jedes Leben nicht nur dem eigenen Wohl, sondern auch jenem der anderen Leben dient. Ethik und Naturwissenschaften waren im Sinn der Aufklärung eng vernetzt, gerade weil die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, jene der Biologie wie der Physik, eine Abkehr von den moralischen Normen der Bibel und eine Neuorientierung der Kriterien des richtigen Handelns forderten. Das hiess, gemäss Darwins vergleichenden Erkenntnissen moralischen Verhaltens, dass die Entwicklung rücksichtsloser Profitsteigerung allein zum Vorteil durchsetzungsstarker Einzelner und zum Nachteil Schwächerer, die durch den technischen Fortschritt der Moderne noch gesteigert wurde, ein Beweis niederer Qualität war. In der zeitgenössischen Entwicklung wurden grosse Widersprüche zwischen sorgfältiger naturwissenschaftlicher Erkenntnis und wirtschaftlichen Profitbedürfnissen sowie damit verbundenen ideologischen Rechtfertigungen deutlich.

Bedurfte es der Rückbesinnung auf die Verwandtschaft mit dem „sozialen Tier“, damit der Mensch wieder dem Bild des höheren Entwicklungsgrades im Stammbaum der Abstammung entsprechen konnte? Bedurfte es nicht in erster Linie der kritischen Vergleiche von Bestandesaufnahmen? Bedeutete dies, dass in moralischer Hinsicht der „Fortschritt“ des „Rückschritts“ bedurfte, um in kritischem Sinn die positiven Ergebnisse der Evolution wieder zu finden, jene der Eigenverantwortung der Handlungsentscheide?

Tatsächlich aber drängte damals alles, was in der westlichen Welt – in Europa und in Nordamerika – „Fortschritt“ genannt wurde, nicht nach „Rückschritt“, sondern in erster Linie nach grenzenloser Steigerung. Jede Art von wissenschaftlicher Berichterstattung erschien blitzschnell in Buchform und wurde durch die Medien besprochen, zerfetzt oder propagiert. Ein vielseitiger Austausch unter den Forschern und den Mächtigen – auch unter den Denkerinnen und Denkern – in Form von Briefaustausch und Besuchen war selbstverständlich. Entdecker und Wissenschaftler, wann immer sie nützlich und konform erschienen, fanden schnell fürstliche resp. bürgerliche Aufträge, Anstellungen und Bezahlungen. Landerwerb, Bergbau und Industriebetriebe, technische Erneuerungen, Handel und Gewinn wuchsen im wachsenden Wettbewerb auf privater wie auf staatlicher Ebene ebenso an wie die damit einhergehenden Verfeindungen und Kriegserklärungen sowie die zu jedem Zweck benutzte Versklavung – d.h. Verdinglichung  – von Menschen. Die zur jüngsten neoliberalen Globalisierung ausgerichtete Pfeilspitze war schon vor 150 Jahren auf beschleunigtem Weg unterwegs.

Allerdings war damals die Fortsetzung der wissenschaftlichen Entwicklung bis in die heutigen biochemischen, molekularmedizinischen, nuklear- und informatiktechnischen, das Leben der Pflanzen, Tiere und Menschen beherrschenden pharmakologischen und gentechnologischen Kenntnisse und Machtauswüchse ebenso unabsehbar wie die Folgen des machthungrigen, menschenverachtenden Rassismus, der durch Leibeigenschaft, Sklaventum und Menschenhandel seit Jahrhunderten bestand, durch den westlichen Kolonialismus und Imperialismus jedoch zusätzlich verschärft wurde und sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem durch „Herrenmoral“ und „Übermenschen“-Ideologie aufgeblähten Sozialdarwinismus verbreitete, indem zielstrebig sowohl Darwin’s Evolutionstheorie wie u.a. Nietzsche’s „Zarathustra“ als Begründung benutzt wurde und sich in Medizin und Ethnologie ausweitete, bis die Entwicklung, mittels der Massenmedien mit eugenischer und antisemitischer Propaganda populistisch aufgepeitscht, sich nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in die flächenverzehrende nationalsozialistische und stalinistische Politik und Vernichtungsstrategie des Zweiten Weltkriegs steigerte, die weltpolitisch auch nach dem verheerenden Morden mit den Millionen als „lebensunwert“ erklärten Toten in neuen Ideologien, in atomarer Aufrüstung sowie in fortgesetzten und immer neuen Völkermorden weiterzehrte und weiterzehrt.[11]

Es hatte sich zu Darwins Zeit allerdings noch eine andere Linie zu erweitern begonnen.  Zusätzlich zu den blinden Fortschrittsgläubigen gab es warnende, kritische Geister. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Vorfeld von  Darwin’s Publikationen mit der Erkenntnis der naturwissenschaftlichen  „Evolution“ gleichzeitig in allen europäischen Ländern politische „Revolutionen“ stattfanden und sich im Lauf der zum Weltmarkt expandierenden industriellen Entwicklung fortsetzten. Dazwischen hatte Napoléon mit seinem kaiserlichen Herrschaftswahn ganz Europa in Kriege und in staatsrechtliche Umwälzungen versetzt, bis er  nach dem Angriffsversuch gegen Russland an die Grenzen seiner Selbstüberschätzung gelangte und 1815 in Waterloo zusammenbrach. Umfassende gesellschaftliche Veränderungen geschahen in dieser Zeit, die alle bestehenden Regelsysteme ins Wanken brachten. Einerseits mit der Industrialisierung, andererseits mit den Revolutionen und Kriegen war eine klassenmässige Umwälzung im Bevölkerungssystem geschehen, die schon von Malthus als Gefahr anvisiert worden war, als handle es sich um einen Kampf der „unteren“ Tierschichten gegen die „höheren“. Überall in Europa war einerseits die Bourgeoisie, andererseits eine „Klasse“ herangewachsen, die sich „Proleatariat“ nannte. Es war die breite Bevölkerungsschicht, die durch den „Fortschritt“ von neuer Sklavschaft gekennzeichnet war und die gleichzeitig das Industriesystem trug sowie die modernisierten nationalen Armeen mit Soldaten als Kanonenfutter füllte, die aber auch gegen die menschlich erniedrigenden  Machtsysteme opponierte. Es geschah eine widersprüchliche Doppelentwicklung. Während durch den technischen Fortschritt die Finanz- und Wirtschaftsmacht der Bourgeosie wie noch immer auch der Aristokratie zu weltbeherrschenden Eliten anwuchs, verstärkte sich und verbreitete sich gleichzeitig der politische Widerstand der Arbeiterklasse.

Thomas Malthus’ Untersuchung über den „struggle for existence“ und zwei Generationen später Herbert Spencer’s „survival of the fittest“ mit der seit Ende des 17. Jahrhunderts anwachsenden, ausbeuterischen Expansion des Kapitalismus wurden konfrontiert durch eine zugleich humanistische und wirtschaftspolitisch kämpferische, sozialistische Bewegung, die sich überall in Europa von der ideellen, intellektuellen Ebene auf jene der Elendviertel und übervölkerten Vorstädte, der lärm- und stauberfüllten Fabriken und Bergwerke, kurz, auf die Ebene der Strasse ausgeweitet hatte. In England war es Robert Owen mit dem vorbildhaften Beispiel von New Lamark gelungen zu beweisen, dass Industrialisierung auch für Arbeiterinnen und Arbeiter einhergehen konnte mit menschlichem Respekt, mit Schule und Bildung, mit der Fürsorge für Kinder und Kranke, ja mit der gerechten Verteilung von Arbeit und Gewinn. Dazu kam, dass Robert Owen durch die theoretische Überzeugungskraft seines Freundes Jeremy Bentham, der wiederum befreundet war mit John Stuart Mill, einem der bedeutendsten liberalen Denker jener Zeit, das  frühsozialistische Anliegen menschlicher Gerechtigkeit mit dem aufklärerischen liberalen Gesellschaftsbild verknüpfen konnte, so dass sich die damalige englische Gesetzgebung zu Gunsten der Arbeiter beeinflussen liess, wenngleich nicht im Sinn idealer Grechtigkeit.

Wieder zeigt sich die Ungleichzeitigkeit in der Gleichzeitigkeit. Auch Stuart Mills „On Liberty“ erschien 1859, im selben Jahr wie Darwin’s „On the Origin of Species“. Mill’s utilitaristischer Ansatz menschlicher Freiheit und menschlichen Rechts auf Freiheit war nicht im Sinn von Malthus auf Eliten begrenzt, richtete sich jedoch auch nicht gegen diese, im Gegenteil. Freiheit überhaupt und spezifisch im Sinn von Meinungsfreiheit, Bildungsfreiheit, Beziehungsfreiheit, überhaupt von Lebensfreiheit steht gemäss Stuart Mill als Recht in gleichem Mass jedem Menschen zu – gewissermassen als philosophische Begründung von Alexander von Humboldts Überzeugung -, sie steht somit, wie schon für Mill unbestreitbar war, auch den Frauen zu, auch den Homosexuellen, gemäss den normativen Kriterien wechselseitiger „Wohlfahrt“, d.h. gemäss Kriterien eines gleichen Wohlergehens, das jeden auf Ungleichheit beruhenden Mangel an Lebenswert als falsch erklärt und von jeder Rechtfertigung ausschliesst. Und da bei Nichterfüllung dieser moralischen  Kriterien Leiden die Folge ist, Leiden aber – unabhängig von Herkunft und Stand – durch keinen Menschen ertragen werden kann, da ferner die Tiere nicht anders wie die Menschen leiden und Leiden auf gleiche Weise empfinden, sollte das gleiche Recht auf Respekt sowohl allen Menschen wie auch den Tieren zukommen. Jede qualvolle Art, Tiere zu halten oder zu töten, sollte vermieden werden. Auf Grund seiner Kriterien des Respekts vor dem nicht antastbaren Wert des Lebens setzte sich John Stuart Mill gegen jede Begründung und gegen jede Art von Todesurteil wie auch gegen jede Art körperlicher Bestrafung ein, überhaupt gegen jegliche Behandlung von Menschen als „Sache“, somit gegen jede Art von Leibeigenschaft und Sklavschaft, d.h. gegen jede Art  menschlicher Verdinglichung.

Interessant ist festzustellen, dass ebenfalls 1859 die dritte Ausgabe von Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ veröffentlicht wurde, deren erste Ausgabe schon 1818 erschienen war und grosse Kontroversen ausgelöst hatte, da Schopenhauer die Werte der europäischen Kultur durch seine pessimistische Analyse als ungenügend erkannte und sie auf die indische der Upanishaden erweitete, in welcher die Tierethik[12] von gleichem Wert ist wie die Ethik menschlichen Zusammenlebens. Eine Analogie zu jener von Robert Owen, von Stuart Mill und Arthur Schopenhauer findet sich  ausgesprochenerweise auch auf französischer Seite – zurückblickend bei jener von Jean-Jacques Rousseau -, insbesondere bei Henri de Saint-Simon und dessen Anhängerinnen und Anhängern, so bei Flora Tristan, Jean-Joseph Louis Blanc und Pierre Joseph Proudhon.

Um den Überblick zu wahren: es ist wichtig wahrzunehmen, dass die evolutionstheoretischen Erkenntnisse, die in naturwissenschaftlicher Hinsicht für die „soziale“ Verbindung der naturhaften Wesenszusammenhänge von Pflanzen und Tieren und Menschen einen vielfachen Nachweis erbrachten, durch den gleichzeitig vorangetriebenen technischen Fortschrittt in wirtschaftlicher Hinsicht mit der Verdinglichung des Menschen in dessen Gleichstellung mit der Maschine eine schwerwiegende Regression bewirkten, zumal sie mit menschenverachtenden rassistischen und eugenischen Ideologien einhergingen, die überall in Europa politisch genutzt wurden. Dass aber gleichzeitig eine Auflehnung gegen die Fehldeutung der Evolutionstheorie wie gegen deren industrielle und politische Ausnutzung zustande kam, deren stärkster Impuls ohne Zweifel in Fortsetzung der frühsozialistischen Bewegungen auf der Überzeugungskraft von Karl Marx beruhte. Dessen politische Philosophie baute auf der kritischen Auseinandersetzung mit G.W.F. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 auf, insbesondere mit der durch das „Selbstbewustsein“ sich entscheidenden Wahl zwischen Herrschaft und Knechtschaft, einem dialektischen Prozess, da Herrschaft nur so lange Bestand haben kann als Knechtschaft besteht. Doch jede abstrakte Erkenntnis musste vor der Auseinandersetzung mit den Tatsachen des menschlichen Zusammenlebens weichen, die sich als dialektischer Prozess aufdrängte: die Tatsache der „Herrschaft“ durch die Bourgeosie und der „Knechtschaft“ durch die Arbeiterklasse, das Proletariat. Marx verband seine kritische philosophische Arbeit mit jener der Nationalökonomie, getragen durch die Flügel des Protests und durch die Kraft seiner Überzeugung, dass die Menschen befähigt seien, den Protest gegen die Fehlentwicklung der Gesellschaft, gegen die entwürdigende Automatisierung und Verdinglichung  des Lebens umzusetzen und sich gemeinsam zu wehren; dass sie fähig seien, sich aus der Entfremdung zu befreien, die das eigene Werden zum Sein durch die entfremdende Arbeit in eine menschlich erniedrigende Gefangenschaft versetzt hatte.

Die wichtigsten Überlegungen von Karl Marx finden sich ohne Zweifel schon in den noch 1844 während der Emigrationszeit in Paris verfassten „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“[13], die in mancher Hinsicht zugleich Stuart Mill’s und Jeremy Bentham’s wie insbesondere G.W.F. Hegels und Ludwig Feuerbachs menschenrechtlichen Kriterien nahe kommen[14], gleichzeitig jedoch im Menschenbild einen existenzphilosophischen Ansatz aufweisen Dieser entspricht ältesten Grundsätzen des nicht antastbaren Lebenswertes. Konnte dieser Grundsatz genügen, um die Menschen aus der wachsenden Entmenschlichung der gesellschaftlichen Entwicklung herauszuleiten? Als 1848 in London das „Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels erschien, mit welchem die Arbeiterschaft zum gewaltsamen Umsturz der, wie Marx festhielt, „kaum hundertjährigen Klassenherrschaft“ aufgerufen wurde, war im kleinen Kreis von New Lamark ein Systemwechsel zustande gekommen, der durch die verbindliche Wechselseitigkeit von Arbeitgeber und Arbeitnehmern jegliche gewaltsame Auflehnung sinnlos werden liess. Doch das von Marx geschilderte Ausmass des von der Bourgeoisie über die ganze Erdkugel umgesetzten Absatzes von Produkten, deren Herstellung durch „neue Industrien“ geschah, „deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegendsten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden (…), durch Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendug der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen.“[15] Wie konnten Menschen, die, wie Marx und Engels  festhielten, „zum blossen Zubehör der Maschine“ werden, deren Arbeit dadurch „allen selbständigen Charakter“ verliert, deren Lohn infolge der wachsenden Konkurrenz immer schwankender und niedriger und deren Lebenszustand immer armseliger wird“, wie konnten sie sich aus der  Sklaverei befreien?. Sie riefen die Arbeiterschaft zum Kampf im Sinn einer „gemeinsamen“ (lat. „communis“) – kommunistischen – Ziesetzung auf, zur „Aufhebung des Privateigentums“ der Bourgeosie, zum Kampf im Sinn von Darwin’s und  Spencer’s „struggle of the fittest“.

Wir kennen die Entwicklung seit dem „Manifest“ von 1848 bis heute. Die Vorstellung, dass sich das öffentlich beschränkte Owen’sche Modell, das ja keine Utopie war und keiner Ideologie bedurfte, gesamteuropäisch in wachsenden Kreisen umgesetzt hätte, weckt den Wunsch einer Rückwärtsbewegung der Geschichte, in welcher bei gleicher wirtschaftsanalytischer Klarheit von Marx wie bei gleicher technologischer Weiterentwicklung die blutigen Revolutionen und Diktaturen angesichts einer gerechten Veränderung des Produktions- und Gewinnsystems nur noch Albträume gewesen wären. Und die traumähnliche Vorstellung reicht weiter zurück in eine Verbindung von Robert Owen’s Modell mit dem Entwurf „Contr’un“ von Etienne de la Boëtie[16] Mitte des 16. Jahrhunderts, dem Freund von Michel de Montaigne, der als „freiwillige Knechtschaft“ bezeichnete, was letztlich Freiheit von jeglicher Tyrannei ermöglichen sollte und was letztlich Oscar Wilde mit seinem Essay „The Soul of Man under Socialism“ anstrebte, den er 1891 in der „Fortnightly Review“ publizieren konnte und der nachher wie ausgelöscht wurde, bis ihn Gustav Landauer 1910 ins Deutsche übersetzte[17] und mit seiner eigenen Vision eines anarchischen Sozialismus ohne regierungs- und systembedingte Machtstrukturen verband. Es war eine Vision, die Landauer mehr oder weniger annähernd mit anderen Denkern und Denkerinnen der gleichen Zeitzusammenhänge verband, mit Peter Kropotkin, der eingehend auf das von Darwin erarbeitete Bild des Menschen als „soziales Tier“ einging[18],  Leo Tolstoï, Rosa Luxemburg, Martin  Buber, Erich Mühsam, Margarthe Faas-Hardegger, auch mit Albert Schweitzer, Leonard Ragaz u.a.m., für welche sich ein Aufbegehren gegen die menschlichen Erniedrigungen, die sich im System von Privatbesitz, industrialisiertem Sklaventum und staatlicher Macht, von medienbeherrschter und gewaltbesetzter Masse zunehmend verdichtet hatte und die, wie Oscar Wilde schrieb, der Rückbesinnung auf das älteste sozialistische Vorbild bedurfte, auf den Entwurf von Jesus von Nazareth, für den der gemeinsame Grundbesitz und der gleiche Lebenswert jedes einzelnen Menschen, somit dessen Entfaltung in der individuellen Besonderheit die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben war, nicht auf Grund von Folgsamkeit und Zwang, sondern im Sinn einer Veränderung des Blicks auf den Anderen. Dem „Schwachen“ sollte neben dem „Starken“ die gleiche Entfaltungsmöglichkeit zustehen, so dass ein Leben ohne Erniedrigung und Angst in der wechselseitigen Abhängigkeit von einander zustande kommen sollte.

Es stellt sich die Frage, ob eine Umdeutung der evolutionstheoretischen Notwendigkeit von wechselseitigem Kampf, von Überlebensangst und Vernichtung eine Utopie waren, letztlich ob sie es sind. Im kritischen Rückblick hatte Martin Buber[19] alle grösseren und kleineren Versuche festgehalten, die mit dem geistigen Handgepäck von sozialen und sozialistischen oder kommunistischen  Ideen resp. Ideologien eine Neuorientierung des menschlichen Zusammenlebens angestrebt hatten, jedoch in der „Ära des Hochkapitalismus, der die Gesellschaft destrukturiert hat“, zumeist gescheitert waren. „Noch ist Frist zur Wendung und Wandlung gegeben“, schrieb Martin Buber und fuhr fort, es sei damit „nicht eine taktische gemeint ist, wie Lenin und seine Mitarbeiter sie mehrfach vollzogen haben, sondern eine fundamentale. Rückwärts kann sie nicht gehen, nur vorwärts, aber in eine andere Richtung. Ob in der Tiefe noch unbenannte Kräfte sich regen, die heraufschiessen und diese Wendung vollbringen werden, davon hängt vieles ab“, worauf er die Warnung von Pierre Leroux wiederholte, die dieser 1948 vor der französischen Nationalversammlung ausgesprochen hatte: „Wenn ihr keine menschliche Genossenschaft wollt, dann sage ich euch, dass ihr die Kultur dem Los aussetzt, in furchtbarer Agonie zu sterben“.[20]

Was die „menschliche Genossenschaft“ beinhalten würde, wäre eine in nicht gegen-, sondern wechselseitige Akzeptanz der gleichen Lebensbedürftigkeit und zugleich der ungleichen Befähigung, auf aktive Weise soziale Verantwortung zu übernehmen, ohne dass die Tatsache einer passiven Zugehörigkeit mit geringerem Wert oder mit geringerem Rechtsstatus einherginge.  Die technische und wissenschaftliche Entwicklung, die vor allem unter „Fortschritt“ verstanden wird, kann und soll nicht rückgängig gemacht werden, sondern anders benutzt zu werden: nicht mehr gegen, sondern zu Gunsten des menschlichen Zusammenlebens. Wie soll vorgegangen werden?

Es braucht dazu in erster Linie eine Korrektur der menschlichen Entfremdung, die in Zusammenhang  der zeitlichen Verhältnisse des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts schon Hegel, Feuerbach und Marx thematisiert hatten, die jedoch durch den ins Masslose vorangetriebenen „Fortschritt“ von Wissenschaft, Technik und Produktion zu kaum mehr tragbaren Verlusten im menschlichen Zusammenleben geführt hat, zu systematischem Misstrauen der Menschen vor einander, zur Verwechslung von Nähe und Beziehung mit Besitz und Beherrschung, in jeder Hinsicht zu grosser Vereinsamung, die in Ersatzbeziehungen, in Fluchtversuchen und in Verzweiflung mündet. Was Psychiatrie und Pharmakologie als Depression und als Aggression, als Aufmerksamkeitsstörung und als Paranoïa bezeichnen und mit chemischen Mitteln zu sedieren vorgeben, zeigt in unzählbar vielen menschlichen Leben auf, was Entfremdung bewirkt, die, zusätzlich zum nicht mehr tragbaren Mangel an wärmendem Halt und an verlässlicher Nähe im privaten Beziehungsbereich, im öffentlichen Bereich mit einer weltweit vernetzten Überwachung jedes einzelnen Menschen und jeden Kontakts der Menschen untereinander einhergeht, letztlich mit einer Diktatur konstanter Registrierung von Bewegung und Verhalten, von genügender oder ungenügender Leistung  vom Kindergarten an über alle Schul- und Ausbildungs- und Arbeitssysteme. Die Entfremdung mit den tragischen Folgen der Vereinsamung im individuellen Leben wurde zu einer kollektiven Entfremdung, die sich ebenso in der administrativen Kälte des Beamtenwesens resp. der Bürokratie äussert wie in der Zustimmung der entfremdeten Menschen zu Massenevents, ob dies Fussballspiele, Papstbesuche oder Kriege seien.

Um der Entfremdung entgegenzuwirken, braucht es auf dem heutigen Stand der Evolution eine Rückkehr zur Erdgebundenheit des Menschseins, zur „Einwurzelung“ gemäss Simone Weil (s. später). Es braucht eine Absage an die virtuelle Erkenntnisweise des Lebens, die ein Wissen vortäuscht und zum angstbesetzten Mangel an spürbarer und tragbarer Erfahrung sozialer Zugehörigkeit führt. Auf verhängnisvolle Weise wird schon kleinen Kindern über Fernsehen und Computersspiele eine virtuelle Welt als Ersatz für die wirkliche, über Berühren und Erkunden erfassbare, die Gefühle und das Denken weckende Wahrnehmung, Erfahrung und Verarbeitung des eigenen Lebensumfeldes aufgezwungen. Und diese virtuelle Welt an Stelle der realen setzt sich im Unterrichts- und Lehrsystem der Schulen und Universitäten fort, distanzlos, bilderüberfüllt und leer. Sie treibt die Menschen wie ein Riesenheer von Insekten vor sich hin.

Es braucht eine Rückkehr zur ursprünglichen Quelle des Wissens über die Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Bedürfnisse, deren Nichterfüllung Leiden verursacht, im eigenen Lebensempfinden wie in jedem anderer Menschen. Das Bedürfnis des Menschen, wahrgenommen und beachtet zu werden, d.h. als Mensch geliebt zu werden, wartet von den ersten Lebensmomenten an bis zu den letzten auf Erfüllung, nicht im Sinn der Bestätigung einer Bewertung oder Klassifizierung, nicht nach Kriterien von Nützlichkeit oder Nutzlosigkeit, nicht nach überlieferten oder vorgegebenen Kategorien von „genügend“ oder „ungenügend“, nicht nach theoretischen Feindbildern, sondern allein im Sinn der Beziehung zum eigenen Ich – zur Selbstbeziehung -, die allerdings nur entstehen kann über die Beziehung zum nächsten Ich – zum Du – und zu weiteren Beziehungswesen, zu Menschen und zu Tieren, die eine gemeinsame Zugehörigkeit zu einer kleineren und zugleich grösseren „Familie“ resp. einer menschlichen Gemeinschaft vermitteln, im Sinn des Respekts und Wohlwollens vor der unersetzbaren Besonderheit jedes Wesens, dem ein besonderer Platz in dieser Gemeinschaft zukommt. Wie lässt sich erreichen, was sich als dringlich erweist?

 

Zweiter Teil

Werden und Sein sind gleichzeitig Vergehen und Werden und Sein, und immer ist das individuelle Leben einbezogen in ein grosses, gesamtes Werden und Vergehen, das im einzelnen Sein und Dasein zugleich die grosse Entwicklung, d.h. die ganze Geschichte des Werden und Vergehens zusammenhält. In jedem einzelnen Menschen sind die Ängste und Leiden, die Erfahrungen und Erkenntnisse, die Weiterentwicklung und die Herkunftsgeschichten ungezählter Vorfahren enthalten und gleichzeitig ein neues Dasein von unersetzbarer und  einzigartiger existentieller Bedeutung zwischen Geburt und Tod. Werden und Vergehen stellen somit eine als zeitliche Bewegung verstandene je persönlich erlebte Entwicklung dar. Durch die Tatsache des Verflochtenseins in Beziehungen sowie durch jene der Intuition gewinnt sie die Bedeutung von Dauer. Es war Henri Bergson, der 1888 in „Sur les données immédiates de la conscience“ wie auch in seinen späteren Werken die Erkenntnis festgehalten hat, dass in der Zeitlichkeit des Lebens nichts sinnlos ist, was durch das Bewusstwerden erinnerbar ist und damit Teil des Bewusstseins – somit Dauer – wird. Das einzelne Individuum ist in seinem Werden immer zugleich Sein, sowohl in seiner Einzelheit und Besonderheit wie als Teil der Zugehörigkeit zum – lediglich intuitiv erfassbaren – Weltganzen, zu Raum und Zeit: „Welches auch immer das innerste Wesen des Seins und Werdens sein mag, wir gehören dazu“.[21] Auf dem Erkentnisprozess der Intuition beruhende Bewusstwerden gründet das Verstehen der Zusammenhänge von Wahrnehmen und Erfahren im Guten und Stärkenden wie im Mangel und im Leiden, ob es verflochten sei mit dem Entscheiden und Tun anderer Menschen oder mit dem eigenen Verhalten oder Handeln. Immer geht Erfahrung und durch die Erfahrung ein sich erweiterndes und vertiefendes Erkennen damit einher. Was sich dem Bewusstsein entzieht, was im Unbewussten gespeichert bleibt, hat zumeist mit belastenden Erfahrungen der frühen wie der nachfolgenden Lebenszeit zu tun, deren verborgene Prägung das Gefühlsleben und damit das Verhalten gegenüber anderen Menschen auf dunkle, undurchschaubare Weise gemäss den Triebkräften des Schattenbereichs des Ich – dem unbekannten Es (gemäss Georg Groddeck und Sigmund Freud[22]) – lenkt, das sich in Angst, Niedergeschlagenheit und Misstrauen, in ungehemmter Aggression oder in Schuldgefühlen äussert und sich gegen die Entfaltung von Entscheidungsfreiheit im Beziehungsverhältnis zum eigenen Leben und zu fremdem Leben vordrängt.

Wenn die durch Mangelerfahrungen (verursacht durch ein Zuviel oder durch ein Zuwenig in der Beachtung lebenswichtiger Bedürfnisse), durch Angst und Leiden geprägten Belastungen im zwischenmenschlichen Zusammenleben überhand nehmen, wachsen in gleichem Mass Misstrauen, Wut und Hass an, die sich in vielfachen Formen der Feindseligkeit Ausdruck schaffen und den Alltag zum Kampf – zum Kampf ums Überleben – mit zunehmend verhängnisvoller Destruktivität werden lassen. Und da in jeder Minute wieder neue Menschenkinder in diese Überlebensbedingungen hineingeboren werden, die durch die Hintergrunderfahrungen ihrer Eltern und durch die aktuellen Lebensumstände auf unterschiedliche Weise damit konfrontiert werden, geschieht der transgenerationelle Prozess eventuellen Überlebens, den Darwin und andere Biologinnen und Biologen bei den Pflanzen und Tieren untersucht haben, auf gleiche und zugleich andere, verhängnisvollere oder – eventuell – einsichts- und lernfähigere Weise in der Geschichte von Werden und Sein bei den Menschen.  „Geburt ist Zufall, und ich finde diesen Umstand weder gut noch übel“ schrieb Albert Camus 1953 in einem kurzen Text, den er als Vorspann für den aufwühlenden Bericht aus dem Arbeitermilieu von Louis Guilloux geschrieben hatte, und er fuhr fort: „Ich beschränke mich auf den Versuch, diesen paradoxen Sachverhalt zu erklären, und halte mich an einen weisen Freund, der meinte: Wenn man von den Dingen spricht, die man nicht kennt, lernt man sie schliesslich.“[23]

Mit Hilfe von Worten einem „paradoxen Sachverhalt“ Ausdruck geben ist einfacher als das, was gesagt wird, tun. Selbst beim Lernen verhält es sich so. Lernen baut auf den mit den Erfahrungen einhergehenden Empfindungen und Erkenntnissen auf, durch welche die Vorstellungskraft und der Wille geweckt werden, auf bessere, klügere Weise das individuelle Leben und Zusammenleben gegen die Macht der destruktiven Kräfte zu steuern. Lernen ist eine mit dem Vermitteln von Fragen und Wissen, mit dem Wortefinden und Sprechen, dem Zeichnen, Malen und Schreiben verwandte Befähigung, die sich ohne Zweifel auch bei den Tieren findet, vermutlich auf eigene, stumme Weise selbst bei den Pflanzen. Während die eine Befähigung sich nach dem Bedürfnis nach Kommunikation (lat. communis – gemeinsam) ausrichtet, d.h. sich um Ausdruck und Austausch dessen bemüht, was wahrgenommen und empfunden, erkannt, gedacht und entschieden wird, trachtet die andere nach Erweiterung und Verbesserung von Wissen. Das Wissen betrifft die Fragen der Lebensbedingungen in der ganzen Komplexität von Nichtwissen und von Abhängigkeiten, und so öffnet das Lernen über das Erkennen und Wissen Möglichkeiten, eines der zentralen menschlichen Grundbedürfnisse, die Freiheit, umzusetzen, die in Zusammenhang der Aufklärungstheorien immer wieder erwähnt wurde, d.h. auf nicht destruktive, sondern auf kreative Weise Wahlmöglichkeiten zu finden, um angstfreier leben zu können und so den weiteren zentralen Grundbedürfnissen, jenen nach Beziehung, nach Sicherheit und nach Lebenssinn, gerecht zu werden.

Ich stelle mir vor, dass auf diese Weise in der menschlichen Evolutionsgeschichte die Pflege des Lebensumfeldes und die Erarbeitung von Wertekriterien für das soziale Verhalten zustande kamen und dass  – vermutlich unter Einbezug der Pflanzen und der Tiere, die ebenfalls ein soziales Bedürfnis haben – deren Befolgung angestrebt wurde, d.h. dass Kultur entstand. Entsprechend der etymologischen Bedeutung des lateinischen „cultura“ (abgeleitet von „colere“ – pflegen) wird deutlich, dass Kultur ursprünglich als Gegenentwicklung zur Hilflosigkeit gegenüber der Gewalt der Naturkräfte wie auch gegenüber der Bedrohung durch stärkere Tiere und durch überwuchernde Pflanzen angestrebt wurde; dass sie erst allmählich als konstruktive, kreative Gegenentwicklung zur destruktiven Gewalt zwischen Mensch und Mensch, Familie und Familie, Volk und Volk verstanden wurde. Doch die gemeinsame und gleichzeitig so unterschiedliche Sprache, die sich allmählich entwickelte, diente nicht nur dem besseren Verstehen, sondern auch dem Missverstehen. Und die Werkzeuge, die vom Menschen als Verlängerung von Hand und Arm, von Zähnen und Körperkraft geschaffen und ständig verbessert wurden und die zum Aufbau sowohl von Wohnstätten und Schutzmauern, von Brunnen, Brücken und Strassen wie von Ackerbau und weiterer, vielfältiger Kunst eingesetzt wurden, fanden als Waffen auch die Benutzung und Weiterentwicklung in Kampf und Krieg. Während mit dem Bebauen des Bodens, dem  Bearbeiten der Erde, dem Anbau und der Aufzucht von Pflanzen, der Pflege von Tieren und dem Veredeln dessen, was an Ernährung und an Lebensweise als wohltuend und stärkend erkannt wurde, ein tragendes Geflecht des Zusammenlebens geschaffen wurde, durch welches auch der Austausch überflüssiger Produkte gegen fehlende einsetzte und allmählich Markt und Handel begannen, konnte trotz der erstaunlichen Vorteile der „cultura“ das stärkste Hindernis des guten Zusammenlebens der unterschiedlichen „Arten“, der Aggressions- und Destruktionstrieb, wie Sigmund Freud die negative Kraft des Menschen nennt, nicht gelöscht werden.

Gemäss Freud ist die Kultur „ein besonderer Prozess im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer grossen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wollte. (…) Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen“. Gemäss Freud ist „dieser Aggressionstrieb der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebs, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm die Weltherrschaft teilt. Und nun“ fährt er fort „ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muss uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht. Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart.“[24]

Freud fragte sich anschliessend, warum – vielleicht eher ob –  „unsere Verwandten, die Tiere, keinen solchen Kulturkampf zeigen“, und er gestand offen zu, dass diesbezüglich ein grosses Unwissen sei. Er nimmt an, dass „die Bienen, Ameisen, Termiten und andere mehr während Jahrtausenden ein System[25] mit Funktionen und staatlichen Institutionen geschaffen haben, jene Einschränkung der Individuen, die wir heute bei ihnen bewundern. Kennzeichnend für unseren gegenwärtigen Zustand ist es, dass unsere Empfindungen uns sagen, in keinem dieser Tierstaaten und in keiner der dort dem Einzelwesen zugeteilten Rollen würden wir uns glücklich schätzen.“ In welchem Mass dieses System jenem des Sklaventums, der Leibeigenschaft und jeder Art von Diktatur gleichkommt, thematisierte Freud nicht. Es sind ameisen- oder termitenähnliche Systeme, welche die menschen selber geschaffen haben. Für Freud ist unbestritten, dass es die grosse menschliche Aufgabe ist, die der Kultur entgegenstehende Aggression, die als Destruktionstrieb trotz der Jahrtausende alten Entwicklung im Menschen bleibt, „unschädlich“ zu machen, wie er formulierte. Er ist sich im Klaren, dass dies als Zielsetzung einer anderen Art von „Fortschritt“ eine hoch komplexe Aufgabe ist.

Wie lassen sich allmähliche Verbesserungen erklären? Gemäss Freuds Überlegungen haben nicht Verbote, sondern hat die Angst, nicht mehr geliebt zu sein, und zwar nicht bloss von Mutter und Vater, sondern von der grösseren menschlichen Gemeinschaft, somit die „soziale“ Angst bewirkt, dass die Aggression „introjiziert, verinnerlicht, dorthin zurückgeschickt“ werde, woher sie gekommen sei und damit gegen das eigene Ich gewendet werde. „Dort wird sie von einem Teil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als ‚Gewissen’ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heissen wir Schuldbewusstsein; sie äussert sich als Strafbedürfnis.“[26]

Freud war 74 Jahre alt, als er 1930/31 seinen Essay über „Das Unbehagen in der Kultur“ abschloss, geprägt von seinem schweren Krebsleiden und von der Erkenntnis, dass selbst das Kultur-Über-Ich, das sich zur Ethik des Zusammenlebens entwickelt hatte, keine Garantie bieten konnte gegen feindseliges menschliches Verhalten, gegen Eifersucht, Neid und Hass, dass ebenso wenig die Religionen, die das Gewissen durch die Angst vor dem Verlust göttlicher Liebe und ewiger Strafe quasi zum eigenen Zweck gepachtet hatten, weder Feindbilder noch Gewalt hatten auslöschen können, im Gegenteil. Religionen und politische Ideologien, die beide sowohl Alleinrichtigkeit beanspruchten wie Weltmacht anstrebten, teilten sich in Kämpfen und Kriegen die Motive für die Legitimation vielfältiger Gewalt. Infolge der Fügsamkeit der Medien und der Massen wurde für Freud die wachsende Bedrohung durch den Nationalsozialismus schon deutlich erkennbar. Er schloss seine Überlegungen mit der Bemerkung ab, es sei die „Schicksalsfrage der Menschenart, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelinge, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. (…) Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist es zu erwarten, dass die andere der beiden ‚himmlischen Mächte’, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?“[27]

Freud hielt abschliesend fest, ihm fehle „der Mut, vor den Mitmenschen als Prophet aufzustehen“ und „er beuge sich ihrem Vorwurf, dass ihnen keinen Trost zu bringen wisse“. Eros als himmlische Macht anzurufen, damit auf die Stufe der Mythologie abzusteigen, war für ihn Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit und zugleich der Hoffnung resp. des Anstosses an die Fähigkeit zu lernen und kritisch zu denken, an die nicht-destruktive Kraft, die jedem Menschen in seinem Bedürfnis, geliebt zu werden, zur Verfügung steht und die im Zusammenleben mit anderen Menschen ermöglicht, auf die Schwachen zu achten, sie zu schützen und einen Weg zu gehen, der niemandem Schaden zufügt. Auch Freud kannte ohne Zweifel Platons „Symposion“, in welchem Sokrates’ Deutung von Eros geschildert wird: Eros, das Kind von Penia, der Göttin der Bedürftigkeit, sowie von Poros, dem göttlichen Wegefinder, der weder wie ein Unsterblicher geartet ist noch wie ein Sterblicher. Was er sich schafft, geht ihm immer wieder fort. Weder ist er vornehm noch ist er schön, weder arm noch reich, er schläft vor den Türen, ist der Dürftigkeit Genosse, stellt dem Schönen und Guten nach, ist nach Einsicht strebend und auch zwischen Weisheit und Unverstand steht er immer in der Mitte[28]. Was bei Platon eine noch ausführlichere Schilderung der widersprüchlichen Eigenschaften von Eros aufzeigt, bezieht sich letztlich auf die kreative Kraft jedes Menschen, auf die Liebe zum Leben, die auf je persönliche Weise einzusetzen jedem einzelnen frei steht.

Zwei Jahre später (1932/33) verstärkte Freud die Einsicht, dass „die Einschränkung der Aggression das erste, vielleicht schwerste Opfer ist, das die Gesellschaft vom Einzelnen zu fordern hat”[29]. Dieses „Opfer”, das, mit der Tatsache der Unterwerfung des einzelnen Menschen unter das Gesamtwohl verknüpft, zur Pflicht wird, hat gemäss Freud  e i n  entscheidendes Motiv: es ist die „Lebensnot”, ein letztlich „ökonomisches Motiv”, wie er schreibt, das zur Arbeitsteilung, zur  gegenseitigen Unterstützung und zur Akzeptanz der unterschiedlichen Mitglieder der Gesellschaft bewegt. Doch was gut und sinnvoll ist, kann, wie es für Freud unbestritten war, auch zur Errichtung repressiver Systeme führen.

Während allzu langer Zeit galt als „ökonomisches Motiv“ die Unterwerfung der Leibeigenen und Sklaven wie jene der Tiere unter fürstliche und andere Besitzer, der Soldaten unter Offiziere und Generäle, der Arbeiter und Arbeiterinnen unter die Herren der Manufakturen und Fabriken, der Schwachen unter die Mächtigen, der Gläubigen unter die Priester, der Frauen unter die Männer, der Kinder unter die Erwachsenen – all diese Formen von Unterwerfung und Herrschaft als unabänderliche Bedingung mustergültiger Ordnung, dank der das Gesamtwohl als garantiert erklärt wurde. So war Fortschritt scheinbar Resultat  gerade  d i e s e r  Ordnung, durch welche die Gesellschaft zur Kulturgemeinschaft wurde, begleitet von  Zwang und Leid.

Die schwierigen Wechsel vom feudalen zum bürgerlichen und allmählich zum sozialen oder sozialistischen System, von Diktaturen zu Demokratien waren jedoch selten stabil, sondern erlitten immer wieder Regressionen mit schwersten Einbussen an menschlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, deren Verbesserung von den Benachteiligten gerade durch den Systemwechsel angestrebt worden war. Die Vernachlässigung der Bedürfnisse und Rechte der Hilflosesten im sozialen Gefüge, insbesondere der Kinder, ebenso die Ausgrenzung der körperlich und psychisch Schwachen, die Rechtlosigkeit und menschliche Entwertung der Fremden setzte sich fort und blieb immer wieder von neuem tabuisiert. So  ist es noch heute. Zwar richtete sich das Kosten- Nutzenverhältnis im Lauf der wechselnden Entwicklung darauf aus, dass wenigstens die wichtigsten materiellen Bedürfnisse der Mehrheit befriedigt werden, allerdings immer mit der quälenden Sehnsucht der Benachteiligten nach umfassender sozialer Gerechtigkeit. Doch da die so geregelte, unvollkommene Ordnung wenigstens die nötigen Institutionen bietet, damit die allein nicht zu bewältigenden existentiellen Ereignisse wie Geburt, Heirat und Tod, Schuld und Sühne sowie die Bedürfnisse nach Bildung, Gesundheit und Krankenpflege, nach allgemeinen Mitteln für Transport und Kommunikation, noch einiges mehr in einem grösseren Rahmen geregelt werden, kann sie nicht gänzlich in Frage gestellt werden. Daher wird sie vorweg verteidigt und zugleich verändert, auf merkwürdig mäanderhaftem Weg. Frauen und Arbeiter haben Jahrhunderte gebraucht, um einen Teil der Repressionen, unter denen sie litten, zu korrigieren, um auch der Frauenkultur und Arbeiterkultur innerhalb der patriarchalen Kultur Raum zu schaffen. Doch steht noch vieles an, noch immer die Korrektur der nicht tragbaren, gewaltbesetzten Ungleichbewertung menschlichen Lebens, die allein nach Kriterien der Herkunft, der Hautfarbe, des vorhandenen oder fehlenden Passes, eventuell der verfügbaren oder nicht verfügbaren finanziellen Mittel und der Rücksichtslosigkeit oder Lautstärke im Verhalten selbst auf legale Weise geschieht.

Es stellt sich die zentrale Frage, warum sich über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende mit immer neuen oder mit den alten Mitteln fortsetzt, was für diejenigen, die Entscheidungen treffen und handeln, von den Folgen her nicht tragbar wäre, wenn sie erdulden müssten, was sie selber tun. Immanuel Kants kategorischer Imperativ wird zwar als kulturhistorisches Erbe erklärt, jedoch auf der philosophisch-theoretischen Ebene; auf der praktischen Ebene findet sich keine Anwendung. Es ist ein hoch neurotisches Verhalten, das als „normal“ erklärt wird, da es „legal“ ist, und dessen Ursachen, die zum Versiegen oder Verstummen des Gewissens führen, tabuisiert werden.[30]

Menschliches Werden und Sein als Teil einer Jahrtausende alten Kulturgemeinschaft verfügt eigentlich über die Voraussetzungen, dank welcher die individuellen und die allgemeinen Bedürfnisse zugleich berücksichtigt und eingeschränkt werden könnten, so dass Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieser Bedürfnisse unnötig würde. Es sollte einleuchten, dass – so lange die Aggression gebändigt wird und Friede herrscht – Möglichkeiten der Erfüllung körperlicher und geistiger Bedürfnisse sich entwickeln und umsetzen liessen, die ein tragbares, nützliches und wohltuendes Zusammenleben unter allen Bedingungen des Erdendaseins zuliesse, für alle Menschen mit wechselseitigen Verpflichtungen des Respekts und Fürsorge wie mit gleichen Rechten der Partizipation am kulturellen Gestalten und an politischen Entscheiden. Was an Resultaten des Lernens und Erkennens von Generation zu Generation tradiert wurde, was sich verändert und erweitert hat, ist das eigentliche kulturelle Matrimonium und Patrimonium, das Wissen um die Geschichte der Menschheit, der Pflanzen und Tiere, des vielfältigen Handwerks und der religiösen Zusammenhänge, der Philosophie, der Dichtung und der Musik, der Architektur und der darstellenden Künste, der Ingenieurwissenschaft und der Klimakunde,  der Natur- und Humanwissenschaften, auch der vielen Formen des Zusammenlebens in Familien und grösseren Gemeinschaften. Dieses grosse Erbe könnte nach freien Wahlmöglichkeiten genutzt werden. Die  Vermittlung und Pflege der damit verbundenen Werte, deren kritische Weiterentwicklung sowie deren Umsetzung im alltäglichen Zusammenleben der Menschen liesse wieder erstarken, was Kultur im engeren Sinn heisst, was immer wieder auch das Wagnis des Ausbrechens aus tradierten Verhältnissen sowie das Wagnis des Neubeginns nicht nur zuliess, sondern nötig machte.

Freiheit gehört zu den Grundbestimmungen der Kultur wie die Einsicht in die gemeinsame Bewältigung der vielseitigen menschlichen „Lebensnot”. Was der Kultur im Sinn der ursprünglichen Bedeutung von „Pflege“ des Bodens, auf welchem wir Menschen gemeinsam mit unseren Verwandten, den Tieren und Pflanzen, leben, entgegensteht, was sie gefährdet und letztlich zerstört, ist die Negation der Freiheit zu lernen und die Negation der Notwendigkeit, jedem anderen Lebewesen mit dem gleichen Respekt zu begegnen, der selber erwartet oder verlangt wird. Hinter der Verweigerung kreativer Impulse – oder „Triebe“, gemäss Freud -, welche die aggressiven bändigen und deren verheerende Folgen korrigieren könnten, steht häufig resp. meistens die Angst vor dem Anderssein resp. vor den Anderen, vor dem Aussenseitertum, vor der Nicht-Zugehörigkeit zur nächsten oder wieteren Familie, letztlich zur Masse, die sich der hierarchischen  Lenkungsstrategie (gemäss der Bedeutung von gr. „stratos“ – Heer) unterwirft und ihr folgt, mit der Legitimation jeder Art von Gewalt.

Gerade im Überhandnehmen rücksichtsloser Gewalt, deren Anwendung und Umsetzung  durch die aktuelle technische Entwicklung selbst auf anonyme Weise delegiert werden kann und die durch Gesetze nicht mehr kontrollierbar ist, sondern zum Teil durch diese sogar legitimiert wird, zeigt sich das Verhängnis der heutigen Entwicklung. Das Verhängnis zeigt sich in der Tatsache einer kaum mehr vereinbaren Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der Tatsache, dass gleichzeitig jedes Lebewesen – jedes Kind – in die Anfänge einer Geschichte hineingeboren wird, einer Lebensgeschichte, die zur persönlichen Zeitgeschichte wird, in welcher das Kind der gleichen Pflege und Liebe, der gleichen Sorgfalt und Ruhe braucht wie vor Jahrtausenden, damit die Sinne sich entwickeln können, allmählich auch die bewusste Bewegung der Gliedmassen und die Sprache, damit ein Beziehungsnetz entstehen kann, durch welches Sicherheit und Wärme erlebt werden und das eigene Ich seinen Lebenswert aufbauen kann, dass aber dieser gleichbleibende frühe Verlauf der lebensgeschichtlichen Entwicklung mit der aktuellen, von Angst und Misstrauen, von Natur- und Zeitzerstörung überbelasteten Welt- und Menschengeschichte konfrontiert wird. Das Verhängnis ist, dass die kindliche Neugier, die Lust am Entdecken und Lernen mit lauter Ersatzobjekten vorlieb nehmen muss, dass sich das Bedürfnis nach Halt und nach Vorbild an Erwachsene richtet, deren Gefühle mit Chemikalien geregelt werden, mit Aufputschmitteln und mit Sedativa, dass die Kommunikation, insbesondere die dringlich benötigte Antwort auf Fragen auf der digitalisierten, virtuellen Ebene geschieht und so Begegnung und Wärme vermissen lässt. Das Verhängnis ist die Vielzahl an Unterwerfung unter systembedingte Anpassungsforderungen, unter Werbung für Überflüssiges sowie unter Bilder aufgepeitschter Feinderklärungen und Kriege, wozu Kinder benutzt werden und wozu Erwachsene sich selber aussetzen und indirekt verkaufen, mit anwachsender Indifferenz und Gefühlskälte. Das Verhängnis ist die Diktatur der globalisierten und virtualisierten Wirtschaft wie jener der Bürokratie, die von gleichen Gewinninteressen einer selbsternannten Elite gesteuert wird. Es geht um die Tragik in der Unvereinbarkeit der Gleichzeitigkeit menschlichen Lebensbeginns in der Fragilität des kleinen Wesens und der weltweiten, kollektiven Destruktivität als Folge masslosen, hemmungslosen „Fortschritts“, der mit einem kollektiven Verlust des sinnenmässig erdnahen, vielfältig praktischen Lernens einhergeht.

Die Entfremdung des Menschen, die von Hegel und Marx als Folge der Industrialisierung auf warnende Weise thematisiert worden war, die totale menschliche Verdinglichung und Unwerterklärung, die durch die wahnhaften Destruktions- und Allmachtideologien des Ersten Weltkriegs einsetzten und sich im Zweiten Weltkriegs ins Qualvollste steigerten, die Fortsetzung der rassistisch begründeten und industriell vollzogenen Massentötungen durch den ebenso skrupellosen Einsatz von Atombomben, von Napalm- und Phosphorbomben, von Chemikalien und von Minen, die Tötung von Millionen von Menschen durch Vergiften, durch Verdurstenlassen und Aushungern, die qualvolle Züchtung, Behandlung und Tötung von Tieren, die Vergiftung und Zerstörung der weltweiten Pflanzenwelt, diese destruktive Steigerung der jüngsten Vergangenheit liess rep. lässt die Welt als leidende klein werden. Die Folgen von Schuld und die Folgen von Leiden der einen Gesellschaft lasten auch auf allen übrigen Gesellschaften, selbst auf jenen, die kulturell noch offener und daher gefestigter erscheinen, deren Institutionen jedoch überaltert und morsch oder deren Ernährungmöglichkeiten ungenügend sind oder zerstört wurden. Flucht und Migration Hundertausender in ihrer Existenz gefährdeter Menschen, ob Flucht wegen Gewalt und Krieg, ob wegen Hunger und Verelendung, stellen heute Aufgaben und Anforderungen, denen nur glaubwürdige Kulturen genügen können. Doch diese Kulturen bestehen im einseitig gewinnorientierten, „neoliberalen“ Firmensystem der heutigen Staaten nicht mehr. Es müssten ja zugleich die Hintergründe und Ursachen von Migration und Flucht behoben wie die materielle und geistige Integration der entwurzelten Menschen in eine andere als deren eigene Gesellschaft erreicht werden. Dies wird abgelehnt, eine politische und soziale Ablehnung, die  gegenüber der doppelten Dringlichkeit der Umsetzung nicht-destruktiver, sondern aufbauender Massnahmen eine erschreckende Aporie deutlich macht.

Die „Aporie“ – das Fehlen jeglicher Rekursmöglichkeit auf „poros“, den väterlichen „Wegefinder“ von Eros, die „Ausweglosigkeit“ – beruht gegenüber den aktuellen Aufgaben auf der Weigerung derjenigen, die Macht ausüben, zu lernen, was auf Grund der Folgen vorangegangener Fehlentscheide dringlich wäre wahrzunehmen: dass durch die Missachtung von „penia“, der mütterlichen Zugehörigkeit von Eros, der in der eigenen Bedürftigkeit der Rücksichtsnahme und Unterstützung bedarf, auch die stützenden, aufbauenden Kräfte von „poros“ erschlaffen und austrocknen. Eros kann nur durch die gleichzeitige Beachtung seiner mütterlichen und seiner väterlichen Herkunft jene stützende Kraft sein, die Freud als letzte Hoffnung anrief. Die menschlichen Glückserwartungen gegenüber dieser Kraft, die Eros heisst, bleiben gänzlich unerfüllt, wenn die damit vernetzten Bedingungen von „poros“ und von „penia“ übergangen werden: wenn von den Menschen in ihrer Macht zu entscheiden und zu handeln, verweigert wird zu lernen, was Not und Leiden bedeutet; wenn Entscheide, die das Zusammenleben betreffen, nicht kritisch hinsichtlich der Folgen hinterfragt werden, die von Anderen getragen werden müssen; wenn verweigert wird, auf die Bedürftigkeit jedes Lebewesens in der gemeinsamen Weltzugehörigkeit zu achten und alles Handeln zu deren Gunsten auszurichten: wenn der Mensch als „soziales Tier“ -gemäss Charles Darwin – seine Pflicht übergeht, schützend auf den Lebenswert seiner Mitmenschen zu achten wie er Achtung vor dem eigenen Lebenswert erwartet und fordert.

Zur Lösung der Aporie bedarf es der Rückbesinnung auf die Möglichkeit der Umkehrung der auf Rache und Gewalt ausgerichteten Grundregel des Zusammenlebens: eine Umkehrung des „Wie du mir, so ich dir“ aus dem Negativen ins Positive. Es geht um die Regel der Reziprozität (lat. „recus“ – rückwarts, „procus“ – vorwärts) resp. der Verantwortung zwischen Vorangegangenem und Künftigem im Augenblick des Entscheidens, die im Bewusstsein des Leidens, das für kein Lebewesen ertragbar ist, sich zu Gunsten einer von Angst und Leiden befreienden Möglichkeit des Handelns ausrichtet.

Die Regel der Reziprozität entspricht der sozialen Verpflichtung resp. der sozialen „Verbindlichkeit“[31] wie sie von Simone Weil 1943 in ihrem letzten Werk „Einwurzelung“ erarbeitet wurde („Enracinement“, 1949 von Albert Camus veröffentlicht), einer Art Testament für den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Erschöpft vom Ausmass an menschlicher „Entwurzelung“ (fr. „déracinement“), an Sinnlosigkeit und Destruktivität, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hatte, von Flucht und Exil, hatte sie kurz vor ihrem Tod festgehalten, dass die Menschheit aufs dringlichste der „Einwurzelung“ bedürfe, einer „Einwurzelung“ in die wechselseitigen Verbindlichkeiten des Zusammenlebens. Die Verbindlichkeiten, wie sie von ihr eindringlich aufgeführt und begründet werden – nicht im Sinn von „devoirs“ resp. von „Pflichten“, die auf einem belastenden „müssen“ beruhen, sondern als Folge der lebenswichtigen Tatsache der menschlichen „Bindungen“ und daher des „Eingebundenseins“ -, die Verbindlichkeiten haben den Vorrang vor Rechten, da diese ohne Rücksicht auf die Verbindlichkeit gegenüber dem Recht anderer Menschen wirkunslos seien. „La notion d’obligation prime celle de droit, qui lui est subordonnée et relative. Un droit n’est pas efficace par lui-même, mais seulement par l’obligation à laquelle il correspond. L’accomplissement effectif d’un droit provient non pas de celui qui le possède, mais des autres qui se reconnaissent obligés à quelque chose envers lui. –  Der Begriff der Verbindlichkeit hat Vorrang vor jenem des Rechts, der dem ersten untergeordnet und zugeordnet ist. Ein Recht ist nicht durch sich selber wirksam, sondern nur durch die Verbindlichkeit, der es entspricht. Die tatsächliche Verwirklichung eines Rechts rührt nicht von demjenigen her, der es besitzt, sondern von denjenigen, die sich  ihm gegenüber auf irgend eine Weise verbunden wissen.“[32]

Menschliche Einwurzelung an Stelle der Entwurzelung? Simone Weil, die persönlich sowohl Fabrikarbeit und Arbeitslosigkeit wie antisemitische Verfolgung und Flucht, Krieg und lebensbedrohliche Erschöpfung gekannt hatte, wusste um die Dringlichkeit sowohl eines tragbaren Boden zwischenmenschlicher Verantwortung resp. sozialer Verbindlichkeit wie um die Dringlichkeit eines verlässlichen staatlichen Systems, dessen politische Verbindlichkeit sich in der Garantie der Rechte aller bekundet, die Teil des vielschichtigen Zusammenlebens sind. Die soziale Verbindlichkeit gegenüber jedem einzelnen Menschen ist gewissermassen die Antwort auf die zentralen menschlichen Bedürfnisse – die Grundbedürfnisse -, für deren Erfüllung jeder Mensch des oder der anderen Menschen bedarf, im Ablauf der Lebensgeschichte zwischen Geburt und Tod auf wechselseitige Weise zu ungleichen Zeiten. Und da die Erfüllung der Grundbedürfnisse ein menschliches Grundrecht ist, bedeutet die Priorität der wechselseitigen Verbindlickeit nichts anderes als die Sicherheit des Respekts vor der Umsetzung dieses  Rechts.

Als 1949, sechs Jahre nach dem tragischen Tod der erst 34jährigen Simone Weil, „L’Enracinement“ im Verlag Gallimard veröffentlicht wurde, war kurz zuvor – am 10. Dezember 1948 – die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ durch die Vereinten Nationen erfolgt. Doch für Albert Camus, den Herausgeber bei Gallimard, war nicht diese internationale Erklärung die Leitplanke für die Nachkriegszeit. Für ihn war unbestritten, dass ein Rückgewinn des Lebens in Europa nicht vorstellbar war, ohne dass die von Simone Weil erarbeiteten Forderungen ernst genommen würden. Er meinte damit die Dringlichkeit eines wirklichen Rückgewinns der zwischenmenschlichen Verantwortung im Zusammenleben. Es bedurfte dazu weniger der grossen Deklaration als des neuen Bewusstseins der Bedeutung wechselseitiger Verlässlichkeit angesichts der vielfältigen existentiellen Abhängigkeit der Menschen von einander im Alltäglichen. Die unausweichliche Tatsache des Zusammenlebens kann trotz unterschiedlichster Besonderheit tragbar sein, wenn Akzeptanz gegenüber der gleichen wechselseitigen Verbindlichkeit geschieht, für den Respekt vor den Rechten jedes Anderen, auch des schwächsten,  einzustehen.

Es war sechs Jahre nach dem Erscheinen von „L’Enracinement“ und sieben Jahre nach der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, 1955, als Hannah Arendt in einer Vorbereitungsnotiz für ihre Vorlesungen im kalifornischen Berkeley in einzelnen Ansätzen Überlegungen festhielt, die meines Erachtens eine Ergänzung zu Simone Weils Forderungen für das menschliche Leben im so fragil gewordenen Zusammenleben sind.  Die Welt befand sich damals mitten im Kalten Krieg, der mit bedrohlichen ideologischen Feinderklärungen zwischen den Grossmächten und mit fortgesetzter militärischer Aufrüstung einen Frieden vorgab, jedoch gleichzeitig die Anwendung alter und neuester Waffen aus dem riesigen Zerstörungsarsenal in einer Abfolge von Stellvertreterkriegen in fast allen Kontinenten umsetzte. Hannah Arendt notierte, dass, gemäss der griechischen Geschichte, wie sie sie durch die Literatur der Antike kannte, „die Politik da anfing, wo die Sorge um das Leben aufhörte“. Dies gelte auch mit Bezug auf ihre Zeit. Wie eine Umfrage ergebe, stehe „die Sorge um den Menschen im Mittelpunkt“. Dagegen stehe „im Mittelpunkt aller Politik die Sorge um die Welt. Die Wüste und die Oasen. Die Gefahr, die Wüste in die Oase zu verschleppen.“ Etwas später ergänzte sie: „Wüste. Wenn die Ausrottung des organischen Lebens droht, ist die Sorge nicht mehr der Mensch.“[33].

Es sind widersprüchliche oder nicht abgeschlossene Überlegungen, die sich bei Hannah Arendt finden, doch ohne Zweifel steht fest, dass die Sorge um das Leben von zentraler Bedeutung ist, dass gleichzeitig diese Sorge mit jener um die Welt einhergeht, die zunehmend zur Wüste wird, umso mehr, als die Wüste in die Oasen vordringt, auf denen allein Leben möglich ist. Die eine und die andere Sorge sind untereinander vernetzt. Da Hannah Arendt Politik im Sinn der griechischen Antike als Sorge um die Welt verstand, während die Sorge ums Leben dem „oikos“ – dem Haushalt anvertraut war, wird deutlich, dass für sie klar wurde, wie sehr die Politik zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zur „Verwüstung“ der Welt und zur bedrohlichen Gefährdung der Möglichkeit des Lebens geführt hatte, wie sehr auch die lebensnotwendigen Oasen gefährdet waren. Wo durch das Vordringen der Wüste „die Aurottung des organischen Lebens droht“, ist die Sorge um den Menschen von dringlichster Bedeutung.

Die Frage stellt sich, was zu tun ist, um die völlige Verwüstung der Welt zu verhindern und um die Oasen zu retten, ja mehr noch: um ein Anwachsen der Oasen resp. eine Befruchtung der Wüsten in Gang zu setzen. Hannah Arendt notierte an einer Stelle: „Abschaffung der Politik durch die Politik. Absterben des Staates“.[34] War dies nicht eine Prognose, die sich  mit dem Ende des Kalten Kriegs seit 1989 und mit dem Aufflammen einer neuen Diktatur durch Neoliberalismus und globalisierte Marktwirtschaft schon realisiert hat? Weltweit werden neue Kriege geführt, staatenlose oder überstaatliche oder innerstaatliche Kriege, Kriege zwischen Terrorgruppen und politisch abgeschafften Staaten, die auf Kosten von steuerzahlenden Arbeitenden oder von ideologisch betörten Gläubigen zu börsenabhängigen, korrupten und verschuldeten Firmen wurden, ferner Kriege innerhalb von absterbenden Staaten zwischen Ethnien, oder Kriege der gewinnhungrigen Weltwirtschaft gegen die Erde selber, gegen die Luft und gegen die Meere, gegen die Tiere und gegen die Wälder, gegen das Wasser und gegen die Vielfalt der Pflanzen, gegen alle unterirdischen, irdischen und überirdischen Güter der Welt, gegen jegliche Kultur, gegen die Menschen, die die Erde bewohnen. Hat sich Hannah Arendts flüchtig notierte Erkenntnis, eine von Resignation geprägte Erkenntnis, nicht längst als bodenloses Verhängnis des menschlichen Lebens bewahrheitet, da selbst für die Opfer der Weltdiktatur des Marktes und dieser Kriege, für die Hungernden und Durstenden, für die Vertriebenen und Flüchtenden, für die Millionen Verletzten und Leidenden kein Staat mehr Asyl bietet? Als Staatenlose oder als Terrorverdächtige werden sie durch Armeen aus Bürokratie und Polizei weiter vertrieben, ins Meer versenkt, in Gefängnisse oder in Wüstenlager eingesperrt. Weiss Gott, im Mittelpunkt steht die Sorge um den Menschen.

Nochmals: Was braucht es, um nicht der Resignation anheim zu fallen? – um nicht die Wüste, sondern Oasen anwachsen zu lassen? Was braucht es, damit die Sorge um das Leben der Menschen wie um das Leben der Tiere und um das Leben der Pflanzen zustande bringt, wozu die Politik unfähig ist? Was braucht es, damit die Ursachen des Leidens abgebaut werden? Was braucht es, damit Leiden heilen kann, das durch die Zerstörung zwischenmenschlichen Halts und sozialer Verbindlichkeit, durch die menschliche Entwurzelung und durch die Verflechtung in ein Konstrukt digitalisierter Überwachung und virtualisierter bürokratischer Sicherheit, in ein von Misstrauen, Angst und destruktiver Gewalt kontrolliertes und gesteuertes globalisiertes System der Bodenlosigkeit und Masslosigkeit ins Unerträgliche angewachsen ist? Was braucht es, damit das Werden und Sein des eigenen Ich, das ohne Wahlmöglichkeit in einem bestimmten Zeitpunkt der Evolution seinen Anfang nahm, dank der geheimnisvollen  Herkunftsverbindung mit „penia“ wie mit „poros“ und dank der unvergleichbaren Besonderheit im Erkennen und Empfinden, im Lernen und Entscheiden den Sinn seines Lebens findet?

Oasen können tatsächlich wieder anwachsen, in welchen die Einwurzelung der entwurzelten Menschen geschehen kann. Eine Abwendung von der unseligen Destruktivität der menschlichen Geschichte ist keine Utopie, die Hintergründe und Ursachen der Angst, die im einzelnen wie im kollektiven Verhalten ein gewalttätiges Ausrasten bewirken, lassen sich erkennen. Eine Umkehr zurück zur Sorge um jedes einzelne Leben im Zusammenleben ist realisierbar, nicht im Abstrakten und Virtuellen, nein, im Alltäglichen, nach Kriterien der wechselseitigen Verbindlichkeit, die Rechte der anderen Menschen zu wahren und so zu wissen, dass auch die eigenen Grundbedürfnisse als Rechte Achtung finden. Der Wiederaufbau einer Kultur, in welcher die Aggressivität der Notwendigkeit entbehrt und das einzelne Leben angstfrei wird, ist möglich. Es braucht den Beitrag all derjenigen, die davon wissen.

 

„Viele Geschicke weben neben meinen

Durcheinander spielt sie alle das Dasein,

Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens

Schlanke Flamme oder schmale Leier.“

 

Anhang

 

Traumatisierende Erfahrungen, posttraumatisches Leiden und Heilungsmöglichkeiten

 

  1. I) Das Leiden, das aus traumatisierenden Erfahrungen entsteht, äusserst sich auf vielfache Weise, je nach Alter und Geschlecht, je nach Herkunftsgeschichte oder sozialem Zusammenhang der betroffenen Menschen, je nachdem, ob ihnen selber Gewalt angetan wurde, oder ob sie Zeugen von Gewalt gegenüber ihnen nahestehenden Personen wurden, ob sie selber Verfolgung und Vertreibung, ob sie menschlichen und / oder materiellen Verlust erdulden mussten. Das Gesetz der Gewalt besteht darin, eine Kettenreaktion von Leiden zu bewirken, selbst in Gesellschaften, denen Krieg und Verfolgung erspart blieben, wo trotzdem Kinder, Frauen und Männer Opfer von gesellschafts- und familienbedingter Gewalt wurden und diese fortsetzen.

Die Frage stellt sich, welche Heilungsmöglichkeiten sich für seelisches Leiden, das als „posttraumatische Belastungsstörung” klinisch erfasst wird, umsetzen lassen.

I a)         Der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung” (Posttraumatic Stress Disorder PTSD) ist seit den späten achtziger Jahren geläufig. Amerikanische Psychiaterinnen und Psychiater haben ihn in der Folge von Beobachtungen bei Rückkehrenden aus dem Vietnamkrieg als Diagnosebegriff geschaffen, mit dem eine Vielzahl von Symptomen – Angstzustände, Schlaflosigkeit, Gedächtnisverlust, Depressionen und andere Erscheinungen mehr, auch zahlreiche somatische Beschwerden – erfasst werden sollten, die aus traumatischen Erfahrungen resultieren. Jedes Ereignis kann traumatisierend sein, wenn mit dem Ereignis eine Erfahrung des Zuviel einhergeht, sei dies ein Zuviel an Gewalt oder an Deprivation, an Verlust des Zuhause, an Verlust der Freiheit, an Verlust der körperlichen Intaktheit, an Verlust einer wichtigen Bezugsperson.

Als psychisches Trauma wird daher sowohl eine einmalige wie eine fortgesetzte Gewalterfahrung verstanden, durch welche die Lebenskontinuität durchbrochen wird und eine schwere Verletzung der seelischen Integrität, des Selbstwertgefühls und des Beziehungsgefüges erfolgt.

Im wissenschaftlichen Diskurs wird zunehmend deutlich, dass der klinische Begriff des PTSD zu eng gefasst ist, dass an dessen Stelle eine kulturell und menschlich weitere und zugleich differenziertere Erfassung der Leidenssymptome angezeigt ist. In verschiedenen Publikationen wird darauf hingewiesen, dass statt von “Störung” eher von seelischer Reaktion auf unerträgliches Leiden gesprochen werden sollte, durch welche zugleich auch das zentrale Bedürfnis, unversehrt zu leben, deutlich wird.

I b)          Jede Art von Trauma geschieht innerhalb grösserer, oft gesamtgesellschaftlicher Bedingungen. Ich stimme mit David Becker (Santiago de Chile) überein, dass das Trauma als Prozess zu verstehen ist, der mit einer verstörenden Erfahrung beginnt, jedoch nicht auf die Erfahrung selbst begrenzt ist, sondern weiter wirkt. Häufig sind persönlich erlebte Traumata auch Teil und Folge politischer oder sozialer Bedingungen, die sowohl im diagnostischen wie im therapeutischen Zusammenhang miterfasst werden sollten. Diese Erkenntnis macht deutlich, dass  es wichtig ist, die Psychoanalyse, die gemäss meiner und weiterer Erfahrung noch für die Opfer des Holocaust einen Weg aus der nicht integrierbaren extremen Leiderfahrung zu zeigen vermochte, heute durch  weitere therapeutische Prozesse zu ergänzen.

So erweisen sich z.B. aus der Nachkriegszeit in Deutschland die verhängnisschweren Folgen des Schweigens, das die Kinder und Kindeskinder von Tätern selbst zu Opfern werden lässt, indem sie die nicht aufgearbeitete Gewalt als traumatisierendes Erbe mitbekommen, ob als unklares Schuldgefühl, das ihr eigenes Leben lähmt, oder als dunkel vermittelten Widerholungszwang, wie er sich im neu entstehenden Rassismus und Rechtsextremismus zeigt. Um die Aufarbeitung der Spätfolgen bei Kindern von Tätern wie von Überlebenden der nationalsozialistischen und anderer ethnisch oder religiös begründeter Rassenverfolgungen – beispielsweise in Zusammenhang des Jugoslawienkriegs von 1991 bis 1999 – mit allen qualvollen, meist unfassbaren Tatsachen in die Wege zu leiten, kann ein gut begleiteter Gesprächsaustausch zwischen Mitgliedern beider Gruppen zu Korrektur- und Heilungsmöglichkeiten der Geschichte führen, auch als Prävention der Wiederholung von Schuld oder Rache sowie von neuem schwerem Leiden.

Jede Herkunfts- und Familiengeschichte kann belastende Teile haben, die zum Teil tabuisiert werden, die aber die Nachkommen durch Ängste, durch fixierte Feindbilder oder durch Gefühle der familiären oder sozialen Wertlosigkeit  prägen. Die Jahre des Nationalsozialismus  und Stalinismus werfen ihre Schatten weiter auf unsere Zeit. Auch die Töchter und Söhne von Überlebenden der langjährigen Folter- und Hafterfahrungen aus der – nicht weit zurückliegenden – Zeit der spanischen, türkischen und griechischen Diktatur, der  lateinamerikanischen Diktaturen, oder die Erwachsenen und Kinder, die in irgend einer Weise die jüngsten Kriege in Vietnam und Kambodscha, in Afghanistan, im Irak und Iran, in Kuwait, im Libanon, in Algerien und in Marokko, im Gazastreifen und in Kurdistan, in Südafrika, Angola, Moçambique, in Rwanda und im Kongo, in Liberia und Somalia, in Nordirland, in Armenien und Georgien, in Tschetschenien und in Dagestan, in Burma, Tibet und in Sri Lanka, in Kroatien, in Bosnien, in Serbien und in Kosovo als Mitglieder einer bestimmten Ethnie wie als verfemte Aussenseiter – z.B. als Roma, als Ashkali, als Goraner u.a.m. – miterleben mussten sowie durch Flucht und Emigration weiterhin miterleben müssen, all diese Menschen weisen kaum heilbare Brüche in ihrer Biographie auf, deren Folgen das weitere Leben aufs leidvollste prägen.

Bei den Opfern von gesellschaftlich bedingten und quasi legitimierten Gewalttaten, wie wir damit in der Schweiz durch Asylsuchenden aus den jugoslawischen sowie aus allen anderen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten konfrontiert werden, sollte das therapeutische Ziel darin bestehen, sowohl die Verarbeitung des erlebten Leidens zu ermöglichen wie die lebenszustimmenden Kräfte in Hinblick auf eine tragbare Zukunft zu stärken.  Diesbezüglich braucht es einen politischen und gesellschaftlichen Einsatz, damit Asyl nicht zur Retraumatisierung wird., damit Kindern und Erwachsenen, die alles verloren haben, was Halt und Sicherheit bedeutete, aber Lebensmöglichkeiten zugestanden werden, die nicht durch Diskriminierungen im Wohn-, Schul- und Arbeitsbereich, durch Einschränkungen des menschlichen Wertes, durch nicht tragbare Ausschaffungs- oder Rückschaffungsentscheide belastet werden.

Wichtig erscheint mir auch, dass Traumata nicht allein nach psychologischen, sondern ebenso nach moralischen Kategorien erfasst werden. Nur auf diese Weise kann erklärt werden, warum bestimmte Traumata Kollektiverfahrungen werden und über Generationen das Verhältnis zu anderen Menschen gemäss deren Herkunft prägen, etwa in den USA bei der armen schwarzen Bevölkerung das Verhältnis zur weissen Bevölkerung, oder in Israel bei den jüdischen Einwanderern das Verhältnis gegenüber den Arabern gund umgekehrt. Es bedarf zusätzlich zur je persönlichen einer kollektiven Bewusstseinsarbeit, um traumatisierte Verhältnisses zu heilen. Diese Bewusstseinsarbeit sollte die Reflexion über das Böse, das kulturell je verschieden verstanden wird, einschliessen. Mit der Reduktion von Symptomen ist es nicht getan;  von grösster Bedeutung ist, dass zugleich die Vorstellung, dass allein Rache Wiedergutmachung bedeutet, verändert werden kann.

Traumatherapeutische Hilfe umfasst daher zusätzlich zur sorgfältigen und oft lange andauernden psychotherapeutischen Aufarbeitung durchgestandener Gewalt und Verluste, erlebter menschlicher Entwertung, Not und schwerer Leiden einen vielseitigen, kenntnisreichen und häufig auch unerschrockenen weiteren Einsatz. Leider sind Menschen, die als Asylsuchende in die Schweiz gelangen, mit ihren psychischen und somatischen Belastungen hilflos und mittellos einem fremdenfeindlichen Asylverfahren ausgesetzt. Sie müssen oft während Jahren unzumutbare Unterkünfte, Ausbildungs- und Arbeitsverbote dulden, sie sind ständigen Polizeikontrollen und sowie erniedrigenden Aufenthaltsbedingungen ausgesetzt, die mit fortgesetzter Unsicherheit und Angst vor Rückschaffungsentscheiden einher gehen. Durch diese belastenden Asylbedingungen erleben sie vielfache Retraumatisierungen, durch welche auf kumulative Weise durchgestandenes Leiden verstärkt wird.

Da zusätzlich zur fremdenfeindlichen asylrechtlichen Verschärfung in der Schweiz die Sozialethik generell abgebaut und staatliche Fürsorge auf ein erniedrigendes Minimum reduziert wurde, geht diese auch für andere von Armut, Arbeitslosigkeit oder innerfamiliäre Gewalt betroffene Menschen mit erniedrigenden Bedingungen, mit manifestem Misstrauen und mit steten Kontrollen einher, die das Selbstwertgefühl Hilfebedürftiger noch mehr schwächt. Depressive oder aggressive Folgen bewirken in erster Linie die Einweisung in Psychiatrien oder in Gefängnisse, wodurch die Möglichkeit sozialer Rehabilitation zusätzlich erschwert wird.

  1. II) „Das Leben – die einzige Zuflucht”? Es gibt ein Gedicht von Paul Celan (aus der Sammlung “Schneepart”), das mit den folgenden Zeilen beginnt: „Ich höre, die Axt hat geblüht, ich höre, der Ort ist nicht nennbar”, und das mit der Zeile endet: „Ich höre, sie nennen das Leben die einzige Zuflucht”.

Millionenfaches Leid, das Kindern angetan wurde und weiterhin angetan wird, kann nur geheilt werden, wenn es nicht wiederholt wird. Das heisst, dass Therapie Wiederbeheimatung in der Welt bedeuten muss, durch aufbauende Zuwendung und durch Respekt, nicht allein psychotheoretisch, sondern ganz konkret, in jedem einzelnen Land, auch in der Schweiz.

Es sind Tausende von Flüchtlingen in der Schweiz, davon ein grosser Teil Kinder und Jugendliche, denen die Behörden aus kurzfristigen Spargründen kaum genügende Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten, schon gar nicht therapeutische Begleitung zugestehen wollen. Es gibt rücksichtsloseste Gewalt auch bei uns, in den Polizeistationen, in den Durchgangszentren, auf der Strasse und anderswo. Bürokratie und Polizei sind mit der Erklärung, die Gesetze zu befolgen, ein Teil weltweiter Täterschaft legalisierter Gewalt und Gewalttätigkeit.  Diese wächst ins Unermessliche an, indem sie geleugnet wird.  Die ständig spürbare massive Gewaltbereitschaft in der Schweiz wie in den übrigen europäischen Ländern hat neben zahlreichen anderen Ursachen mit einer massiven Desorientierung in Bezug auf Recht und Unrecht zu tun. Daraus folgt im privaten wie im öffentlichen Verhalten ein Verlust an zwischenmenschlichem Respekt, der durch die Respektlosigkeit der offiziellen Stellen –  das Beamten- und Polizeiwesen, die Vertreter und Vertreterinnen von Gerichtsinstitutionen, die Vollzugsbehörden im Asyl- und Strafrecht – noch verstärkt wird.

II a) Es erscheint mir in therapeutischer Hinsicht erfordert, dass die professionelle Kompetenz auch da eingesetzt wird, wo es um die rechtlichen und existentiellen Belange der betroffenen Menschen geht. Damit geht einher,

– gegenüber den kantonalen Migrationsämtern wie gegenüber den verschiedenen Abteilungen des schweizerischen Bundesamtes für Migration und gegenüber dem Eidgenössischen  Verwaltungsgericht, gegenüber den zuständigen Beamten und Beamtinnen für Asyl- und Sozialhilfe in den Gemeinden, gegenüber Staatsanwälten und Jugendanwaltschaften in Strafrechtsfällen, gegenüber Beamten der Invalidenversicherung u.a.m. ausführliche Berichte zu schreiben, in welchen die anamnestischen und diagnostischen Befunde aufs klarste geschildert werden, um menschenrechtskonforme Aufenthaltsbewilligungen sowie Verbesserungen oder Veränderungen offizieller Entscheide oder Urteile zu erlangen. In den meisten Fällen gilt es zusätzlich, gute Anwältinnen und Anwälte zu finden, diese von der Dringlichkeit der Rechtsvertretung zu überzeugen sowie für deren juristische Arbeit Finanzierungsmöglichkeiten aufzutreiben (zu diesem Zweck gründete ich 2002 die Swiss Recovery Foundation SRF).

– Ferner ist es dringlich, für Hunderte von Familien und Alleinstehende bessere Wohnmöglichkeiten zu suchen und zu finden (in den Städten meist mit Hilfe von Wohnbaugenossenschaften), damit sie aus den Durchgangszentren herauskommen und endlich über private Räume, über eine eigene Küche und ein Badezimmer verfügen.

–  Ebenso dringlich ist es, für Kleinkinder stundenweise den Aufenthalt und die Pflege in Krippen und Tageshorten zu ermöglichen und zu finanzieren, damit einerseits die Mütter Arbeitsangebote annehmen können und andererseits die kleinen Kinder besser in das soziale Netz der neuen Heimat hineinwachsen. Jugendliche brauchen durch Empfehlungsschreiben Unterstützung bei der Suche von Ausbildungsmöglichkeiten und Lehrstellen, ebenso Frauen und Männer bei der Suche nach Arbeitsstellen. Für die einen wie für die anderen erweisen sich Kurse für bessere Deutschkenntnisse als dringlich (auch hierzu dient die SRF).

Traumatherapie umfasst somit zugleich die Verantwortung für einen dauerhaften psychischen Heilungsprozess wie für eine auf die Zukunft ausgerichtete Rehabilitation des Existenzwertes der betroffenen Menschen – der Kinder, der Jugendlichen und Erwachsenen -, d.h. des Lebenswertes und der Lebenssicherheit, die vielfach verletzt wurden.

 

III)        Zusätzlich erweist es sich immer wieder als dringlich, auf politischer Ebene aktiv zu sein (z.B. im Vorfeld der Verfassungsänderung, vor Volksabstimmungen, in Zusammenhang untragbarer Gesetzesänderungen etc.), d.h. an Podien, öffentlichen Gesprächen und Veranstaltungen teilzunehmen, Kolloquien und Demonstrationen zu organisieren sowie im Rahmen von NGOs oder Menschenrechtsorganisationen Aufgaben zu übernehmen, die sich gegen Rassismus, für Asyl- und Ausländerrecht, ja überhaupt für Menschenrechte einsetzen.

Es ist dringlich, öffentlich Kritik an gesetzlich legitimierten Diskriminierungen auszusprechen, dagegen auf politischer Ebene  Protest vorzubringen und zum Widerstand zu ermutigen. Ebenso wichtig ist es, in den Familien wie in den Schulen mit den Kindern die Fähigkeit zu entwickeln, mit Konflikten leben zu lernen, ohne dass sie gewalttätig ausgetragen werden müssen, wichtig auch, die Ursachen von Gewalt zu klären und diese zu beheben, ein Einsehen in die Sinnlosigkeit von Gewalt zu vermitteln wie in den Sinn, um Verzeihen zu bitten und Verzeihen zu gewähren. Anstelle der Schwarz-Weiss-Alternative von Gewinnern und Verlierern sollten soziale und emotionale Kräfte gestärkt werden, die ein vielfältiges und widerspruchsvolles, wechselseitig verantwortliches  Zusammenleben ermöglichen. Kinder und Jugendliche brauchen eine starke, unterstützende Begleitung aus allen erzieherischen und therapeutischen, auch aus allen juristischen und politischen Fachgebieten, denen die Sorge um das Leben das zentrale Anliegen ist, damit nicht Flucht in Drogen, nicht Gewalt und nicht Fortsetzung zwischenmenschlicher Unterdrückung, sondern das Leben, das zukunftsfähige Leben die „einzige Zuflucht” sein kann.

  1. IV) Seit Mitte der 80er Jahre haben sich unzählbar viele Menschen, die sich in psychischer und existentieller Not befinden, an mich gewendet. Es sind Überlebende des Zweiten Weltkriegs, Flüchtlinge und Asylsuchende aus allen unter Ib) aufgeführten Ländern und Kontinenten mit den dort geschehenen Kriegen und Konflikten, Verfolgungen und Vertreibungen, und es sind ebenso Menschen, die innerhalb der Schweiz unter Gewalt und Armut litten resp. leiden.

Der menschliche Respekt und das Vertrauen, das die Grundlage des psychotherapeutischen Dialogs sind, haben mir ermöglicht und ermöglichen mir weiter, gemäss der dargestellten traumatherapeutischen Kriterien die Ursachen und Folgen der psychischen Leiden und existentiellen Belastungen aufzuarbeiten. Gleichzeitig habe ich es immer wieder als dringlich erachtet, mich für alle Möglichkeiten einzusetzen, die, wie schon erwähnt, den Lebenswert und die Lebenssicherheit der betroffenen Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder stärken.

Da ich psychoanalytisch-traumatherapeutisch und nicht medizinisch-psychiatrisch arbeite, übernehmen die schweizerischen Krankenkassen keine Kosten, so dass der grösste Teil meiner Arbeit unentgeltlich erfolgte resp. erfolgt.

  1. V) Meine vielseitige traumatherapeutische und psychoanalytische Arbeit verbindet sich 1984 mit jener als Hochschuldozentin im In- und Ausland, bei welcher ich auf wissenschaftlicher Ebene die Erkenntnisse auf Grund praktischer und politischer Erfahrung mit theoretischen Untersuchungen verbinde (Institut für Weiterbildung der Universität Bern, Fachhochschule für Sozialarbeit Zürich, Institut für Philosophie und Ethik Zürich, zahlreiche Lehraufträge an schweizerischen und ausländischen Universitäten, Einladungen für Weiterbildung an Kliniken im In- und ausland, an Hilfsorganisationen und Akademien) sowie mit einer grossen Publikationsliste, wobei es meist um wissenschaftliche und dokumentatorische Beiträge in Büchern, in Zeitschriften und Zeitungen geht oder um die Herausgabe von Büchern. Erst in diesem Jahr beginne ich, meine vielen Vorlesungen sowie die traumatherapeutischen und psychoanalytischen Arbeiten in Buchform zu veröffentlichen, nachdem ich sie während Jahren den Studierenden in Manuskriptform überliess oder, wie schon erwähnt, klinische Untersuchungen zu Handen der zuständigen Behörden schrieb oder als Beiträge in anderen Büchern oder in Zeitschriften publizierte.

 

*  Referat im Rahmen der „Werkstatt Philosophie“, Forum Altenberg, 3013 Bern, am 23. Mai 2009

 

[1] Rainer Maria Rilke 84.12.1875 – 29.12.1926), aus „Wendung“, in: Jahrhundertgedächtnis (1998, 72)

[2] Hugo von Hoffmanstal (1.2.1874 – 15.7.1929), aus „Manche freilich…“, in: Jahrhundertgedächtnis (1998, 40)

[3] d. h. als bildlichen Ausdruck, der anderswohin trägt (gemäss der Bedeutung des gr. „metapherein“: „meta“ – nach – hin, „pherein“ – tragen)

[4] Charles Darwin. Die Entstehung der Arten (Reclam 1963, 101)

[5] Gemäss jüngsten physikalischen Untersuchungen, bei welchen die Einstein’sche Gravitationstheorie durch eine Quantentheorie der Gravitation ersetzt wird, hat unser Universum vermutlich auf invertierte Weise schon vor dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren bestanden, cf. Martin Bojowald. Zurück vor den Urknall. Die ganze Geschichte des Universums. S.Fischer-Verlag, Frankfurt a.M. 2009

[6] Alexander von Humboldt, Kosmos (1845), I, 2004:187

 

[7] Lamarck begründete in Paris den Jardin des Plantes und das Museum für Naturwissenschaften, die noch heute von Bedeutung sind.

[8] auch von Darwin als „an inimtable observer“ geehrt, obwohl J.H.Fabre die Evolutionstheorie ablehnte. Fabre’s 10 Bde „Souvenirs entomologistes“ von 1891-1909, auch „Les merveilles de l’instinct chez les insectes“ sind noch immer von grösster Bedeutung. Zu den Verehrern von Fabre gehört Kurt Guggenheim, der ihm mit „Sandkorn für Sandkorn“ (Ullstein 1980) eine vertiefte Studie gewidmet hat.

[9] Etienne Geoffrey Saint-Hilaire (1772-1844), in der naturwissenschafltichen Literatur eher als Etienne Geoffrey erwähnt, war ein Freund von Jean-Baptiste Lamarck, der jedoch – entegen dessen Überzeugung –  seine morphologischen Erklärungen für die Entwicklung der Arten mit einer transzendentalen – göttlichen – Ordnung in Verbindung brachte. Er war ein Vertreter einer deistischen Entwicklungstheorie, zu der sich auch Jean-Henri Favre bekannte, entgegen Darwin’s Auffassung. Geoffrey Saint-Hilaire war einer der 167 Wissenschaftler, die Napoléon für sein Ägypten-Expedition von 17198-1802 aufgeboten hatte. In Zusammenhang seiner 1818/20 publizierten „Philosophie anatomique“ stand er in regem Austausch mit J. W. Goethe sowie mit Robert Edmond Grant in Edinburgh, dem Lehrer von Charles Darwin.

[10] Guggenheim / Fabre 1979, 132

[11] Neueste historische Untersuchungen über die über die ganze Evolution fortgesetzten Völkermorde bei Ben Kiernan. Erde und Blut. Vökermord und Vernichtung von der Antike bis heute. Übersetzung aus dem Englischen von Duo Rennert. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009.

[12] Erst in jüngster Zeit wuchs der ethische Widerstand gegen die der Fleischindustrie dienenden Tierquälereien so an, dass politische Bewegungen zu Gunsten der Umsetzung des Tierschutzrechtes sich durchsetzen konnten, dass z. B. das Amt von kantonalen TieranwältInnen geschaffen wurde (im Kanton Zürich 1992 durch eine Voksabstimmung), um die Nichtbefolgung bestehender Tierschutzgesetze anklagen zu können.

[13] cf. die Herausgabe durch Erich Fromm. Das Menschenbild bei Marx. Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften. Ungekürzte Ausgabe. Ullstein 1988

[14] diesbezüglich auch Hegels  „Philosophie der Geschichte“ (1822) von grosser Bedeutung

[15] Marx/Engels. Manifest der Kommunistischen Partei. London 1848/ Berlin 2003, S. 18-19

[16] Etienne de la Boëtie (1530-1563). Von der freiwilligen Knechtschaft / Discours de la servitude volontaire. Europäische Verlagsanstalt 1980

[17] Die Übersetzung “Von der freiwilligen Knechtschaft. Eine Abhandlung von Etienne de la Boëtie“ erschien in Gustav Landauers Zeitschrift „Der „Sozialist“, 2. Jahrgang 1910, in den Nummern 17 bis 22 und im 3. Jahrgang 1911, Nummer 1.

[18] Peter Kropotkin (1842-1921), aus dem russischen Hochadel, trat zunehmend der anarchistischen Bewegung näher, kam 1872 nach Genf und wurde Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation, trat insbesondere in Kontakt mit den Vertretern der „libertären Juraföderation“ in Neuchâtel sowie in den Kreisen des Uhrenindustrie im Jura und veröffentlichte 1908 nach anderen Publikationen eine packende Auseinandersetzung mit sozialdarwinistischen Tendenzen, die er ablehnte, unter dem Titel: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Verlag Theodor Thomas, Leipzig 1908: „Jedesmal indessen, wo man daran ging, zu diesem alten Prinzip [der gegenseitigen Hilfe] zurückzukehren, wurde seine Grundidee erweitert. Vom Clan dehnte es sich zur Völkerschaft aus, zum Bund der Völkerschaften, zum Volk und schließlich – wenigstens im Ideal – zur ganzen Menschheit. Zugleich wurde es auch veredelt. Im ursprünglichen Buddhismus, im Urchristentum, in den Schriften mancher muselmanischen Lehrer, in den ersten Schriften der Reformation und besonders in den ethischen und philosophischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts und unserer eigenen Zeit, setzt sich der völlige Verzicht auf die Idee der Rache oder Vergeltung – Gut um Gut und Übel um Übel – immer kräftiger durch. Die höhere Vorstellung: „Keine Rache für Übeltaten“ und freiwillig mehr zu geben, als man von seinen Nächsten zu erhalten erwartet, wird als das wahre Moralprinzip verkündigt – als ein Prinzip, das wertvoller ist als der Grundsatz des gleichen Maßes oder die Gerechtigkeit, und das geeigneter ist, Glück zu schaffen. Und der Mensch wird aufgefordert, sich in seinen Handlungen nicht bloß durch die Liebe leiten zu lassen, die sich immer nur auf Personen, bestenfalls auf den Stamm bezieht, sondern durch das Bewusstsein seiner Einheit mit jedem Menschen. In der Betätigung gegenseitiger Hilfe, die wir bis an die ersten Anfänge der Entwicklung verfolgen können, finden wir also den positiven und unzweifelhaften Ursprung unserer Moralvorstellungen; und wir können behaupten, dass in dem ethischen Fortschritt des Menschen der gegenseitige Beistand – nicht gegenseitiger Kampf – den Hauptanteil gehabt hat. In seiner umfassenden Betätigung – auch in unserer Zeit – erblicken wir die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts.“ (a.a.O. S.274f)

[19] Martin Buber. Der utopische Sozialismus. Verlag Jakob Hegner, Köln 1967. (Erste deutsche Ausgabe unter dem Titel „Pfade in Utopia“ 1950 im Verlag Lambert Schneider).

[20] Buber 1967, 215-216

[21]  Henri Bergson. Denken und schöpferisches Werden. (La pensée et le mouvant. Edition Alcan, Paris 1934), Frankfurt a.M. 1948, S. 144. – Auf die Nähe zur evolutionstheoretischen und zugleich religiösen Philosophie von Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) und zugleich auf die Differenz zwischen ihm und Henri Bergson gehe ich anderswo ein.

[22] Georg Groddeck – Sigmund Freud. Briefe über das Es. Kindler Verlag, München 1974

[23] Albert Camus. Vowort zu: Louis Guilloux.. La maison du peuple. Editions Bernard Grasset, Paris 1953. (Ins Deutsche übersetzt 1981/1983 in: Louis Guilloux. Das Volkshaus. Fischer Taschenbuch 5326)

[24] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Freud-Studienausgabe Bd. 9, S. 249 ff

[25] gr. „systema“, abgeleitet vom Verb „synhistanai“ – zusammenstellen, zusammenfügen

[26] Freud (1929/30), S.261-263

[27] Freud (1929/30), 270

[28] Platon. Sämtliche Werke Bd. 2 (Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit Stephanus-Numerierung) 203b-204a

[29] Sigmund Freud. Sämtliche Werke. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1932/33), S. 543

[30] cf. Sigmund Freuds Studie „Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ (1912-13), die jedoch der Untersuchung des Verstummens des Gewissens weniger gerecht wird als jener des Verdrängens erlebten oder getanen Unrechts gegenüber „geheiligten“ und ev. ritualisiertenObjekten. – Eine neueste sorgfältige Auseinandersetzung damit findet sich bei: Hannes Stubbe. Sigmund Freuds „Totem und Tabu“ in Mosambik. Göttingen 2008

[31] fr. „obligation“, beruhend auf dem lat. Verb „ligare“ – binden.

[32] Simone Weil. L’enracinement. Gallimard, Paris 1949, S.9

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[33] Hannah Arendt. Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. Hrsg. von Ursula Ludz. Piper Verlag, München/Zürich 1993. S.192-194

[34] Hannah Arendt /Ursula Ludz (1993), S. 197

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