Ist das, was schön ist, auch gut? – Heinrich Heine und Henri Bergson

Ist das, was schön ist, auch gut?

Heinrich Heine und Henri Bergson

Vorlesung für den 5. und 6. Abend

 

 

„In einer vorwiegend politischen Welt wird selten ein reines Kunstwerk entstehen. Der Dichter in solcher Zeit gleicht dem Schiffer auf stürmischem Meer,  welcher fern am Strand ein Kloster auf der Felsklippe ragen sieht; die weissen Nonnen stehend dort singend, aber der Sturm überschrillt ihren Gesang.“[173]

„Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!

Hier werdet ihr nichts entdecken!

Die Konterbande, die mit mir reist,

die hab‘ ich im Kopfe stecken.

(…)

Im Kopfe trage ich Bijouterien,

der Zukunft Krondiamanten,

die Tempelkleinodien des neuen Gottes,

des grossen Unbekannten.

Und viele Bücher trag ich im Kopf!

Ich darf es euch versichern;

mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest

von konfiszierlichen Büchern.“[174]

Heinrich Heines überempfindlicher und unerschrockener Geist stiess seit seiner Jugend, oft kurzatmig und heftig, stets aber unbetörbar und warnend, an die Frage, ob überhaupt und, falls ja, wie das Schöne und das Gute übereinstimmen oder sich widersprechen, vor allem, wie in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts mit den sich wechselseitig bekämpfenden und sich zugleich steigernden Ideologien – sozialistischen und kommunistischen, kapitalistischen und marktliberalen, nationalistischen und rassistischen, republikanisch-demokratischen und regressiv-monarchischen  –, mit dem Missbrauch und Betrug oder der Erlahmung von Hoffnungen in der Gleichzeitigkeit und unmittelbaren Abfolge von Revolutionen und Kriegen, von industrieller und kolonialer Machtausweitung und wachsender Armut der Arbeiterschaft, die zum Proletariat wurde, von hungernder Landbevölkerung und deren Auswanderung in die anwachsenden Städte, von technischem Fortschritt mit der rasch sich verbreitenden Elektrizität und der schnellen Ausweitung – u.a. infolge der verbesserten und gesteigerten Eisen- und Stahlgewinnung – mechanisierter und sich masslos anhäufender Produktion, von der zunehmenden Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Konstruktion von Eisenbahnen und Waffen wie in den Maschinen- und Apparatebau, der sich sowohl im städtischen Alltag, in der Medizin als auch in der Kunst auswirkte – zum Beispiel über die Daguerreotypie in der Herstellung von „Lichtbildern“ -, ja wie von diesen mächtigen Einflüssen die Ästhetik und Ethik seiner Zeitgenossen in Deutschland und in Frankreich, in Spanien, England und Russland, überhaupt in Europa geprägt wurden, wie sie überrollt und geschliffen wurden, wie schnell die Betörbarkeit Einzelner zu ideologischem Fanatismus und zu blinder Gefolgsamkeit grosser Massen anwuchs, wie selten sich das von den Gefühlen tangierte, kritische Denken erhalten, neu beleben und schöpferisch umsetzen konnte, wie unterschiedlich es in den verschiedenen Bereichen der Literatur, der Musik und der darstellenden Künste wahrgenommen wurde.

Seine Kindheit hatte Heine mit den von ihm geliebten, „aufgeklärten“ Eltern (im Sinn Moses Mendelssohns) im geschlossenen Ghetto Düsseldorfs erlebt. Dass sein Grossvater „ein kleiner Jude gewesen war und einen grossen Bart hatte“[175], erklärte ihm irgendwann nach langem Fragen sein Vater, ein Textilhändler mit der „feingeschnittenen, schönen Hand, die er immer mit Mandelkleie wusch“ und dem kein anderes Stoffgewebe stärker am Herzen lag als „Velveteen“, dieser Baumwollsamt aus England – als „Manchester“ bekannt -, den ihm sein Freund Mr. Harry in Liverpool besorgte. Ihm zu Ehren hatte er seinen Sohn „Harry“ genannt und liess es ihn aufs herzlichste wissen. „Eines Morgens umarmte er mich mit ganz ungewöhnlicher Zärtlichkeit und sagte: ‚Ich habe diese Nacht etwas Schönes von dir geträumt und bin sehr zufrieden mit dir, mein lieber Harry.‘ Während er diese naiven Worte sprach, zog ein Lächeln um seine Lippen, welches zu sagen schien: Mag der Harry sich noch so unartig in der Wirklichkeit aufführen, ich werde dennoch, um ihn ungetrübt zu lieben, immer etwas Schönes von ihm träumen.“[176]

Gründete auf dieser Erfahrung sowohl Heines Vertrauen in die Kraft der Träume, der Traumbilder und Fantasien wie in seinen eigenen Wert, den er bei herabsetzenden Bemerkungen oder persönlichen Verletzungen aufs empfindlichste verteidigte – vor allem wenn sie seiner Herkunft galtenherkunft,Herkunft? Das Gute stand für ihn unmissverständlich mit dem Gefühl des Wohlbefindens in Eintracht, mit dem Vertrauen in den zutiefst unberührbaren Wert zu leben. Was in diesem Sinn gut war, empfand er als schön, diesbezüglich war er sich sicher. Doch liess sich die kindliche Früherfahrung in den späteren Erfahrungen überhaupt erfüllen? Wurde diese nicht zum Massstab unerfüllbarer Sehnsucht? Zunehmend liess er diesen Massstab nicht allein für sich und sein privates Innenleben gelten, sondern er richtete auch seine gesellschaftliche und politische Haltung danach aus, sowohl in der anklagenden Beurteilung der Willkür und Bedenkenlosigkeit macht- und erfolgshungriger Zeitgenossen wie in der Verteidigung des Zorns und der Auflehnung der Machtlosen, ob es um das Elend der Arbeitslosen in den Vororten der grossen englischen und französischen Industriestädte ging, um die schlesischen Weber oder um die Soldaten auf den ungezählten europäischen Schlachtfeldern. Er scheute nie davor zurück, seiner Verachtung gegenüber rücksichtsloser Ausbeutung Schwächerer wie gegenüber machthungriger Eitelkeit Ausdruck zu geben, ob es sich um Politiker, Generäle oder Dichter handelte. Wenige Jahre vor seinem Tod, als er am  Romanzero arbeitete, erinnerte er sich zugleich mit Wehmut und mit Stolz: „Ich hab in meinen Jugendtagen – wohl auf dem Kopf einen Kranz getragen; – die Blumen glänzten wunderbar, ein Zauber in dem Kranze war. – Der schöne Kranz gefiel wohl allen, – doch der ihn  trug, hat manchen missfallen (…)“[177] Warum er missfiel, hielt er im Nachwort zum fest: „Ich gestehe es, ich habe manchen gekratzt, manchen gebissen und war kein Lamm. Aber glaubt mir, jene gepriesenen Lämmer würden sich minder frömmig gebärden, hätten sie die Zähne und Tatzen des Tigers. Ich kann mich rühmen, dass ich mich solcher angeborenen Waffen nur selten bedient habe.“[178]

Von 1808 bis 1814, als Düsseldorf zu Frankreich gehörte, wurde dank der napoleonischen Herrschaft das Ghetto geöffnet. So erlebte der Knabe, wie er in dieser „schönen Stadt am Rhein“, die er später in Paris immer wieder sehnsuchtsvoll so bezeichnete, ein „Freigelassener“ wurde. Von diesem Moment an wollte er seine Freiheit nie mehr missen, auch nicht, als er anstelle der jüdischen die öffentliche, katholische Schule besuchte und dort „die ersten Prügel erlebte, die ich auf dieser Erde empfing. (…) Der Stock, womit ich geprügelt wurde, war ein Rohr von gelber Farbe, doch die Streifen, welche dasselbe auf meinem Rücken liess, waren dunkelblau. Ich habe sie nicht vergessen. Auch den Namen des Lehrers, der mich so unbarmherzig schlug, vergass ich nicht: es war der Pater Dickerscheit; er wurde bald von der Schule entfernt, aus Gründen, die ich ebenfalls nicht vergessen, aber nicht mitteilen will.“[179]  Die Wahrnehmung von Farben und die Erfahrung von Emotionen blieben untereinander verhaftet, auch später, als er ins Gymnasium ging und aus diesem austrat, eine Handelslehre in Frankfurt begann und  ins Ghettoleben zurückversetzt wurde, dieses nicht aushalten konnte, mit seinem Vater einer Freimaurerloge beitrat und zur Fortsetzung der Ausbildung nach Hamburg zu seinem reichen Onkel kam, dem Bankier Samuel Heine, den er hoch verehrte und zugleich nicht mochte, in dessen Tochter Amalie er sich verliebte, die ihn jedoch nicht liebte. Der Zwiespalt setzte sich fort. Der Onkel eröffnete seinem Neffen ein eigenes Tuchgeschäft in Hamburg, das nach kürzester Zeit Pleite ging. Ein Wechsel drängte sich auf. Heine begann Gedichte zu schreiben und besuchte in Bonn die Rechtsvorlesungen wie jene zur deutschen Sprache bei August Wilhelm Schlegel, den er als Menschen nicht mochte, wohl aber als Übersetzer von Shakespeare’s Werk hoch schätzte, er befand sich für kurze, turbulente Zeit an der Uni in Göttingen, wo er wegen einer Beleidigung, die er nicht duldete, in ein Duell verwickelt wurde, dann in Berlin in Philosophievorlesungen bei Hegel, die er mit Besuchen bei Rahel und Karl August Varnhagen und in anderen Salons erwärmte, mit Reisen nach Hamburg, ans Meer und nach Polen, mitten hinein in die chassidische Kultur[180], der gegenüber er sich fremd fühlte. Nun publizierte er die ersten Gedichte unter seinem Namen und besuchte 1824 Goethe in Weimar. Die Enttäuschung, die die Begegnung in ihm bewirkte, beschäftigte ihn; die Erklärung fand er erst später.

Heine hatte den „Dichterfürsten“ erst bewundert und verehrt, doch er wurde in seiner Einschätzung zunehmend skeptischer. Konnte das „Schöne“  – das Elitäre und Prunkvolle der Weimarer Verhältnisse, das er mit Goethe verknüpfte – überhaupt mit dem übereinstimmen, was er als gut empfand? Tatsächlich erachtete er dessen persönliches Machtverhalten in der Anpassung an die fürstliche Macht als Mittelmässigkeit, während er staunend die erkenntnishungrige Begeisterungsfähigkeit Schillers in sich aufnahm[181]. Einmal mehr zeigte sich, wie er gegenüber Mächtigen das sich seit den Jugendjahren in ihm aufbäumende, ungeschminkte Urteil bewahrte, das seinem Rechtsempfinden entsprach resp. seinem persönlichen Empfinden des Guten. Damit hing zusammen, dass er  – als Beispiel – Napoleon Bonaparte als „Genie“ verehrte, ja als „Moses der Franzosen“[182], wegen der gesetzlich zustande gebrachten Korrektur menschlicher Diskriminierungen durch die am 21. März 1804 erfolgte Deklaration des „Code civil“, so wie er diese als Kind mit den Veränderungen der Lebensverhältnisse erlebt hatte.  Dieser Wunsch nach menschlicher Gleichstellung blieb in ihm haften, auch als er sich 1825 für den Übertritt zum Protestantismus entschied, um quasi ein „Entrée-Billet in die Gesellschaft“ zu erlangen, ein Entscheid, den er damals als Umsetzung seiner rechtlich bestätigten Freiheit und als Chance der existentiellen Öffnung verstand, den er später allerdings als etwas Überflüssiges eher bedauerte als verteidigte.  Von seiner Herkunft konnte er sich trotz seiner religiösen Unabhängigkeit resp. seiner zunehmend spinozistischen Religiosität bis zum Lebensende nicht „befreien“. Die Herkunft entzieht sich jeglicher Wahl, damit der Freiheit, das wurde ihm zunehmend bewusst. Dagegen bezieht sich Freiheit auf jeden Entscheid, der das Unmittelbare und das Kommende betrifft; hinsichtlich des Vergangenen nur als Angebot des Überdenkens ungelöster Belastungen und des Freiwerdens von Hader. Gegenüber Napoleon war es somit eine persönliche Verehrung auf der Ebene der Menschlichkeit, die gleichzeitig das kritische Bedauern ob dessen masslosem Streben nach kaiserlichem Glanz und Prunk wie ob dem kriegerisch verhängnisvoll umgesetzten Herrschaftsanspruch über die europäischen Länder nicht ausschloss.

Heine war etwa 25 Jahre alt, als er mit der Publikation der Harzreise und seines Buchs der Lieder  beinah schlagartig berühmt wurde. Es waren Clara und Robert Schumann – Robert Schumann an die zehn Jahre jünger wie er[183] -, die viele seiner „Dichterlieder“ vertonten und öffentlich aufführten. Auch hatte er in Julius Campe[184] einen Verleger gefunden, der ab dann alle Schriften Heines in seinem Verlag in Hamburg veröffentlichte und ihm auch in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die dem Verlag gehörte, freien Raum liess. Hier konnte Heine u.a. über die Julirevolution von 1830 in Paris berichten und sich zunehmend ein aufmerksames Publikum sichern. Doch die von Metternich geschaffene Überwachung der Universitäten und die strenge Pressezensur, die nicht von Verhaftungen, selbst nicht von Todesurteilen zurückschreckte, nahm Heine zunehmend stärker ins Visier, und als seine Berichterstattung noch als Buch erschien – Französische Zustände – und Begeisterung bei der Leserschaft  weckte, wurde die Publikation verboten: ab 1833 galt in Preussen das Verbot für alle Schriften Heines, ab 1835 in ganz Deutschland. „Solche  Bücher lässt du drucken!- Teurer Freund, du bist verloren!- Willst du Geld und Ehre haben, – musst du dich gehörig ducken. – (…) – Teurer Freund, du bist verloren!-  Fürsten haben lange Arme, – Pfaffen haben lange Zungen, – und das Volk hat lange Ohren.“[185]

Für Heine  – nun nicht mehr Harry, nein, Henri Heine („Enri Enne“, wie er nachzuahmen suchte, was er als seinen Namen ausgesprochen hörte) – war Paris seit 1831 zum Ort des Exils und der Freiheit geworden, wo er Kunst und Kultur, Heimatlosigkeit und politische Freundschaften, Liebe und Verzweiflung kannte, wo er schliesslich die Februar-Revolution von 1848 erlebte, die in Deutschland mit der März-Revolution eine ebenso verhängnisvolle Auswirkung nach sich zog wie er sie für Frankreich bedauerte. „Beständig Getrommel, Schiessen und Marseillaise. Letztere, das unaufhörliche Lied, sprengte mir fast das Gehirn und ach! Das staatsgefährlichste Gedankengesindel, das sich dort seit Jahren eingekerkert hielt, brach wieder hervor. (…) Ich hatte einen guten Platz, um der Vorstellung beizuwohnen, ich hatte gleichsam einen Sperrsitz, da die Strasse, wo ich mich zufällig befand, von beiden Seiten von Barrikaden gesperrt wurde. Nur  mit knapper Not konnte man mich wieder zu meiner Behausung bringen. Gelegenheit hatte ich hier vollauf, das Talent zu bewundern, das die Franzosen beim Bau ihrer Barrikaden bekunden. Jene hohen Bollwerke und Verschanzungen, zu deren Anfertigung die deutsche Gründlichkeit ganze Tage bedürfte, sie werden hier in einigen Minuten improvisiert, sie springen wie durch Zauber aus dem Boden hervor, und man sollte glauben, die Erdgeister hätten hier die Hand im Spiel. (…) Die Todesverachtung, womit die französischen Ouvriers gefochten haben, sollte eigentlich uns nur deshalb in Verwunderung versetzen, weil sie keineswegs aus einem religiösen Bewusstsein entspringt und keinen Halt findet in dem schönen Glauben an ein Jenseits, wo man den Lohn dafür bekommt, dass man hier auf Erden fürs Vaterland gestorben ist. Ebenso gross wie die Tapferkeit, ich möchte auch sagen ebenso uneigennützig, war die Ehrlichkeit, wodurch jene armen Leute in Kittel und Lumpen sich auszeichneten. (…) Die Reichen zitterten für ihre Geldkasten und machten grosse Augen, als nirgends gestohlen wurde. (…) Zerstört wurde vieles von der Volkswut, zumal im Palais Royal und in den Tuilerien, geplündert ward nirgends. Nur Waffen nahm man, wo man sie fand, und in jenen königlichen Palästen ward auch dem Volk erlaubt, die vorgefundenen Lebensmittel sich zuzueignen. Ein Junge von fünfzehn Jahren, der in unserm Haus wohnt und sich mitgeschlagen, brachte seiner kranken Grossmutter einen Topf Konfitüre mit, die er in den Tuilerien eroberte. Der kleine Held hatte nichts davon genascht und brachte den Topf unerbrochen nach Hause. (…) Armer Ludwig Philipp! In hohem Alter wieder zum Wanderstab greifen! Und in das nebelkalte England, wo die Konfitüren des Exils doppelt bitter schmecken.“[186]

Es war eine neue Art von Literatur, die mit Heine einsetzte, jene der Feuilletons, in denen die persönliche, kosmopolitisch offene Beobachtung politischer und menschlicher Geschehnisse einhergeht mit der kritischen Reflexion und mit emotionaler Ungeschminktheit, eine ziemlich gnadenlose Denkarbeit des persönlichen Betroffenseins durch die Wahrnehmung der Anderen, eine untrennbare Vernetzung von Verstand und emotionalen Impulsen, bei welcher die Vernunft nicht mehr die dominante Rolle im Sinne Kants  ausübte. In seinen unzählbaren Gedichten, die lyrische Kurzerzählungen wurden voller Staunen, Witz und Traurigkeit, in seinen packenden Reiseberichten wie in seinen Zeit- und Gesellschaftsanalysen, die jene haarscharfen Kommentare zu Auftritten auf jeder Art von Bühne enthalten – jener des Theaters wie jener der Macht -, mit denen er am meisten aneckte, mit Schauspielern wie Edmund Kean[187], dessen Darstellung des Shylock aus Shakespeare‘s  Kaufmann von Venedig  ihn zutiefst aufgewühlt hatte, mit politischen Grossintendanten, Reformatoren und Emporkömmlingen, mit Schriftstellerinnen, Philosophen und Dichtern, die alle um Rang und Erfolg rivalisierten – immer versuchte er, dem vielfältigen Rollenspiel der Männer und Frauen seiner Zeit wie dem Verhängnis der unaufhaltsam sich in neue Fehden verstrickenden Geschichte auf die Spur zu kommen und diese zu dokumentieren. Dass Heine sich gleichzeitig mit Kopf und Herz für die Kunst interessierte und diese als „höchste Form der Wahrheit“ empfand, unter der Voraussetzung, dass sie nicht „Dienerin des Luxus“ sei, war einer der Gründe für das Zerwürfnis mit dem elf Jahre älteren Ludwig Börne[188], der ursprünglich sein Freund war, in der Entwicklung mit ähnlichen Schritten vorausgegangen war und in Paris hohes Ansehen erworben hatte, ihm jedoch zunehmend mit Vorwürfen über mangelnde politische Klarheit und Seriosität im revolutionären Kampf Steine in den Weg stellte. Als 1840, drei Jahre nach Börnes Tod, aus Heines Feder in Deutschland die Denkschrift Über Ludwig Börne erschien, in welcher Heine auf dessen Briefe aus Paris, in welchen er von ihm angegriffen worden war, unverblümt, ja selbst indiskret reagierte, löste diese Publikation insbesondere in Frankfurt heftige Gegenwirkungen aus, unter anderem sogar ein Pistolenduell, durch welches Heine leicht verletzt wurde.

Die Auseinandersetzung zwischen Börne und Heine macht deutlich, wie leidenschaftlich im Kreis der in Paris lebenden Emigranten die politischen Theorien und Zielsetzungen kommentiert wurden. War Heimatlosigkeit die Ursache aggressiver Verteidigung einer zur „Heimat“ erklärten Überzeugung? Selbst Freundschaften fielen politischem Fanatismus zum Opfer, wenn Meinungsdifferenzen Misstrauen und Feinderklärung bewirkten – eine Tatsache, die sich bis in die jüngste Zeit wiederholt. Was Heine in Frankreich, seiner Wahlheimat, die trotzdem nie zur vollen Heimat werden konnte,  aufwühlte, das war der wiederholte Zusammenbruch der Hoffnungen, die mit Napoleon und seiner während fünfzehn Jahren gehaltenen Herrschaft geweckt worden waren, auch die frühsozialistischen Bewegungen, etwa die religiös beeinflussten der Saint-Simonisten, mit denen er in Verbindung stand und bei deren Radikalisierung er den Missbrauch der Notleidenden durch ideologisierte Bedingungen und Versprechen befürchtete, eine Skepsis, die er auch gegenüber den Entwürfen des 1848 in London publizierten kommunistischen Manifests hegte, nachdem er mit dem einundzwanzig Jahre jüngeren Karl Marx , mit Arnold Ruge und Friedrich Engels[189] einen regen Austausch gepflegt hatte, vermutlich auch mit Michail Bakunin, der damals ebenfalls in Paris weilte, bevor er 1849 nach Dresden reiste und den dortigen Aufstand voran trieb[190].  In Deutschland, womit Heine über Herkunft und Sprache, Sehnsucht und Sorge zutiefst verbunden blieb und dessen Entwicklung er von Frankreich aus verfolgte, aus der Distanz mit grösserer Freiheit, war es die rohe „Teutomanie“ und der „Phrasenpatriotismus“ sowohl in Preussen, Sachsen und Bayern, denen er schon bei seinen 1843 und 1844 zögernd gewagten, letzten Reisen mit Erschrecken begegnet war und denen er in Deutschland. Ein Wintermärchen Ausdruck gegeben hatte, mit Wehmut und mit prophetischem Schaudern.  (…) „Die Zukunft Deutschlands erblickst du hier – gleich wogenden Phantasmen, – doch schaudre nicht, wenn aus dem Wust – aufsteigen die Miasmen.“[191] Was er in diesen Zeilen mit den Geschehnissen in Hamburg verknüpfte, war nur ein Teil unter vielen weiteren, die ihn belasteten. „Man muss ganz Deutschland kennen“, mahnte er, „ein Stück ist gefährlich. Es ist die Geschichte vom Baume, dessen Blätter und Früchte wechselseitiges Gegengift sind.“ Die Warnung  beruhte auf seiner Kenntnis der Betörbarkeit durch autoritäre und grossspurig uniformierte Erklärungen des allein Richtigen, die für blinde Gefolgschaft das Gute und Schöne vom Himmel herab verkündeten. „Der Deutsche gleicht dem Sklaven, der seinem Herrn gehorcht ohne Fessel, ohne Peitsche, durch das blosse Wort, ja durch einen Blick. Die Knechtschaft ist in ihm selbst, in seiner Seele. Schlimmer als die materielle Sklaverei ist die spiritualisierte. Man muss die Deutschen von innen befreien, von aussen hilft nichts.“[192] Deutschland und Frankreich waren allerdings für Heine nicht mehr vom übrigen Europa zu trennen, nicht von England und Russland, von Italien und Spanien, wo er die politischen Veränderungen mit seinen persönlichen Vorprägungen im Auge hatte, dabei zusätzlich zu den Differenzen der Entwicklung auf Grund kultureller Einflüsse die neue Macht der industrialisierten Produktion, der Beschleunigung von Transport durch die Eisenbahnen und der Steigerung kriegerischer Zerstörung durch neue Waffengewalt mit grosser Wachheit zur Kenntnis nahm, immer im Vorausahnen der Folgen machthungriger Entscheide.

1841 heiratete Heine in Paris „Mathilde“, Augustine Crescence Mirat, auf ihren Wunsch nach katholischem Ritus, eine heitere, lebensfrohe Schuhverkäuferin, die kaum achtzehn Jahr alt gewesen war, als er sie kennengelernt und mit der er vermutlich seit 1834 zusammengelebt hatte. Ohne Zweifel galten ihr die Verse „Fliegt dir das Glück vorbei einmal, – so fass es am Zipfel. – Auch rat ich dir, bau dein Hüttchen im Tal – und nicht auf dem Gipfel.“[193] Seine jüdische Herkunft hatte er ihr gegenüber verschwiegen, doch gleichzeitig wünschte er dringlich, sie seiner Mutter, die noch lebte, vorstellen zu können – auch hier eine belastende Nichtübereinstimmung von Bedürfnissen, von Nähe und Fremdheit. Sie wusste wohl, dass er ein Dichter war, doch seine Gedichte kannte sie nicht. Sie verstand kein Deutsch und meinte, diese seien auch nicht besonders gut, da er sich selber kaum damit zufrieden zeigte. Sie konnte auch seine Kommentare zu den verwirrenden Kämpfen und Machtwechseln in den deutschen Fürstenländern und Königreichen nicht verstehen, ebenso wenig jene über die revolutionären und monarchistischen Machtentwicklungen  in Frankreich, über den Wandel von Louis Philippe I, diesen  Nachkommen der Bourbonenkönige, der nach der Juli-Revolution von 1830 zum „Bürgerkönig“ gewählt worden war und bis zur Februarrevolution von 1848 regierte, für Heine leider ausschliesslich zu Gunsten des Bürgertums und unter Vernachlässigung des Elends der Arbeiterschaft, die schliesslich aufbegehrte und ihn zur Flucht nach England drängte. Auch Heines Einstellung zu England war ihr fremd, das er noch 1827 von Hamburg aus besucht hatte und als „unerquickliches Land“ verachtete[194], das ihm jedoch ermöglicht hatte, sich mit Shakespeare’s Werk direkt zu befassen und 1838 sein viel beachtetes Buch über Shakespeares Mädchen und Frauen beim Verleger Henri Delloye zu veröffentlichen, das von diesem in Auftrag gegeben und grosszügig mit 2500 francs honoriert worden war. Was Mathilde mit Heine teilen konnte, das waren die eleganten Salons, den vielseitigen künstlerischen Austausch und die leidenschaftliche Liebe. Wenige Jahre später, als Paris zu seiner „Matratzengruft“[195] wurde, wie er schrieb, und er in erster Linie ihrer zärtlichen Fürsorge bedurfte, waren Nähe und Differenz eine andere Tatsache. 1848 erlebte er einen gesundheitlichen Zusammenbruch, unklar ob infolge komplexer tuberkulöser Erkrankung, Syphilis, wie er selber meinte, chronischer Bleivergiftung oder multipler Sklerose, wie lange nach seinem Tod die diagnostische Vermutung lautete, auf jeden Fall gingen grosse körperliche Einschränkungen damit einher, zunehmende Lähmungen und Schmerzzustände, acht Jahre lang ein vielfältiges, wachsendes Leiden, bis der Tod ihn verstummen liess, wie er voraus in mehreren Gedichten festhielt: „Der Vorhang fällt, das Stück ist aus, – und Herrn und Damen gehen nach Haus. –  Ob ihnen auch das Stück gefallen? – Ich glaub ich hörte Beifall schallen. – Ein hochverehrtes Publikum – beklatschte dankbar seinen Dichter. – Jetzt aber ist das Haus so stumm – und sind verschwunden Lust und Lichter. (…) Die letzte Lampe ächzt und zischt – verzweiflungsvoll und sie erlischt. – Das arme Licht war meine Seele.“[196]

Der Körper war zur quälenden Realität geworden – zum „schrecklichen Lebensleide“[197], wie er im Gedicht An die drei Parzen schrieb -, und stand in störendem Widerstreit zum wachen Geist, der noch 1851 Gedichte wie jene des Romanzero schuf, sich täglich dreist in Briefen sowie in zeitkritischen und literarischen Betrachtungen, in ausführlichen Auseinandersetzungen mit der literarischen und künstlerischen Szene in  Paris äusserte – mit Victor Hugo, den er verachtete, und mit Alfred de Vigny, François Guizot, Alfred de Musset und George Sand, die er ehrte, mit Frédéric Chopin, Franz Liszt und Eugène Delacroix, die er bewunderte, mit Honoré de Balzac, Alexandre Dumas père und vielen mehr -, eine Fülle von Zeitanalysen, die sich schon in seiner Auseinandersetzung mit Shakespeares Mädchen und Frauen[198] von 1838 finden wie dicht gedrängt in Lutezia, woran er von 1840 bis 1852/1853 arbeitete. Als er nicht mehr selber schreiben konnte, setzte er die witzige und zugleich böse Kritik fort, indem er sie diktierte. Noch 1854 hielt er seine uneingeschränkte Begeisterung für George Sande fest: „George Sand hat Wahrheit, Natur, Geschmack, Schönheit und Begeisterung, und alle diese Eigenschaften verbindet die strengste Harmonie.  George Sands Genius hat die wohlgeründet schönsten Hüften, und alles was sie fühlt und denkt, haucht Tiefsinn und Anmut. Ihr Stil ist eine Offenbarung von Wohllaut und Reinheit der Form. Was aber den Stoff ihrer Darstellungen betrifft, ihre Süjets, die nicht selten schlechte Süjets genannt werden dürften, so enthalte ich mich jeder Bemerkung, und ich überlasse dieses Thema ihren Feinden.“[199]

Die Begegnung im Juni 1855 mit Elise Krinitz[200], die sich, wie angenommen wird, mit Manuskripten des Wiener Komponisten Johann Vesques von Pittlingen[201], der an die hundert Gedichte von Heine vertont hatte, bei ihm angemeldet hatte, vielleicht auch, weil er eine Schreibkraft und Vorleserin brauchte, die ihn auf jeden Fall als grossen Dichter verehrte und die er seine „Mouche“ und „Lotusblume“ nannte, diese Begegnung versetzte ihn im letzten Lebensjahr, als er schon fast erblindet war und nicht mehr das Krankenbett verlassen konnte, nochmals in Phantasien sehnsüchtiger Verliebtheit, von welcher kleine Briefe und die zärtlichsten Liebesgedichte Kenntnis geben, traurig und jugendlicher Leichtigkeit. Vermutlich wurden diese Momente von Mathilde nicht ohne Eifersucht oder Zweifel zur Kenntnis genommen, brachen sie doch plötzlich ab[202]. „Liebe Mouche“, schrieb er noch am 24. Januar 1856, etwa drei Wochen vor dem Tod, „ich habe eine böse, sehr böse Nacht verjammert und verliere fast den Mut. Ich rechne darauf, dass ich dich morgen sumsen höre. Dabei bin ich sentimental wie ein Mops, der zum ersten Mal liebt.“ Gleichzeitig schrieb er voller Schmerz „Den Strauss, den mir Mathilde band –  und lächelnd brachte, mit bittender Hand – weis‘ ich ihn ab – nicht ohne Grauen kann ich die blühenden Blumen schauen. – Sie sagen mir, dass ich nicht mehr – dem schönen Leben angehör‘, – dass ich verfallen dem Totenreiche, ich arme, unbegrabene Leiche.“[203] Oder es entstanden Verse wie „Wahrhaftig, wir beiden bilden – ein kurioses Paar, – die Liebste ist schwach auf den Beinen, – der Liebhaber lahm sogar. (…)  Worte! Worte! Keine Taten! – Niemals Fleisch, geliebte Puppe,- immer Geist und keinen Braten, – keine Knödel in der Suppe“  (…) Du ringst sogar die schönen Hände – o tröste dich – das ist das Los, –  das Menschenlos – was gut und gross – und schön, das nimmt ein schlechtes Ende.“[204]

In der Verspieltheit der Sprache – im dünnhäutigen und lebenserhaltenden Bedürfnis nach Glück, gleichzeitig in Kenntnis der Lebensregeln, wohl nah der Schiller’schen Bedeutung von „Spiel“, doch moderner und freier – äusserte sich bei Heine unverblümt die schmerzliche Widersprüchlichkeit zwischen scharfem Denken und starken Gefühlen, zwischen Geist und Körper. „Das Glück ist eine leichte Dirne, – und weilt nicht gern am selben Ort; – sie streicht das Haar dir von der Stirne – und küsst dich rasch und flattert fort. – Das Unglück hat im Gegenteile – dich liebefest ans Herz gedrückt; sie sagt, sie habe keine Eile, – setzt sich zu dir ans Bett und strickt.“[205] Qualvoll anstrengend müssen die letzten Wochen seines Lebens gewesen sein, ein zutiefst leidvoller Kampf  gegen das Erschlaffen der Widersprüchlichkeit –  denn das „was gut und gross und schön, das nimmt ein schlechtes Ende“. Er wehrte sich gegen „ein schlechtes Ende“, wollte nicht kampflos dem Elend preisgegeben sein von „Siechtum und Verderben – meine sämtlichen Gebresten (…) Koliken, die den Bauch wie Zangen zwicken (…) Harnbeschwerden (…) Speichelfluss und Gliederzucken, Knochendarre in dem Rucken“[206], nein. Seine Erfahrung liess ihn wissen, dass die Vorstellungskraft die innere Realität traumartig mit Gefühlen des Glücks erhellen und von der tatsächlichen ablenken konnte, ohne betrügerisch zu sein, wurde sie doch sowohl von der Erinnerung genährt als einem warmen Licht und wie eingeholt von der Tatsache, dass „der Vorhang fällt, das Licht ist aus (…), die letzte Lampe ächzt und zischt, verzweiflungsvoll, und sie erlischt. Das arme Licht war meine Seele.“[207]  Die Vorherschau des Sterbens als Teil des Lebens, ja selbst jene der Gedächtnisfeier, bei welcher „Keine Messe wird man singen, – keinen Kadosch wird man sagen, – nichts gesagt und nichts gesungen, – wird an meinen Sterbetagen. – Doch vielleicht an solchem Tage, – wenn das Wetter schön und milde, – geht spazieren auf Montmartre mit Paulinen Frau Mathilde.  – Mit dem Kranz von Immortellen – kommt sie, mir das Grab zu schmücken, und sie seufzet ‚Pauvre homme!‘ – feuchte Wehmut in den Blicken. – Leider wohn‘ ich viel zu hoch, – und ich habe meiner Süssen – keinen Stuhl hier anzubieten; – ach! Sie schwankt mit müden Füssen. – Süsses, dickes Kind, du darfst – nicht zu Fuss nach Hause gehen; – an dem Barrieregitter – siehst du die Fiaker stehen.“[208]

Heines Blick auf den Abschied vom Leben bedeutete einfach und ohne Pathos, kein „Hüttchen im Tal“ mehr zu haben, in welchem er selber die Tür öffnen könnte. Spöttisch und ungehalten, doch letztlich nachsichtig kommentierte er den eigenen Lebenskampf, aufmerksam vermutlich bis zum letzten Moment.  Sah er sich letztlich in der trotzigen und zugleich hilflosen Rolle jenes Enfant perdu, das als „verlorner Posten in dem Freiheitkriege, seit dreissig Jahren treulich ausgehalten“ hatte, ohne sich je zu scheuen, die Krassheit und Widerlichkeit des als gut vorgegebenen Zwecks anzuprangern, über den ein Mächtiger  entschieden hatte? – gottähnlich, Gott selber? „Ich kämpfte ohne Hoffnung, dass ich siege, ich wusste, nie komm‘ ich gesund nach Haus. (…) Der eine fällt, die andern rücken nach – doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen sind nicht gebrochen – nur mein Herze brach. “[209]

Tatsächlich war Heinrich Heine „kampfesmüde“, als am 17. Februar 1956  sein „Herz brach“. Drei Tage später wurde er auf dem Friedhof Montmartre beigesetzt. Für Mathilde, die mit dem „Kranz von Immortellen“ um ihn trauerte, hatte er vorgesorgt und ihr sein ganzes Hab und Gut vermacht, auch den Platz neben ihm im gleichen Grab, auf der gleichen Höhe und Tiefe, als sie diesen siebundzwanzig Jahre später brauchte.

 

„Um etwas Neues zu schaffen, braucht man nicht unbedingt Revolutionär zu sein.“[210]

„Worauf zielt die Kunst ab, wenn nicht gerade darauf, uns in der Natur und im Geiste ausser uns und in uns Dinge sehen zu lassen, die unsere Sinne und unser Bewusstsein nicht in expliziter Weise beeindrucken? (…) In demselben Masse, wie sie zu uns sprechen, erscheinen Nuancen des Fühlens und Denkens, die seit langem in uns schlummerten und unsichtbar blieben, ähnlich wie ein photographisches Bild, das noch nicht in das Bad getaucht worden ist, in dem es sich enthüllen wird.“[211]

Tatsächlich entsprach Henri Bergson nichts Revolutionäres, weder „Umsturz“ noch Gefecht wie Heine diese im Lauf seines Lebens gekannt hatte. Bergson ging es um das Erkunden aller „Nuancen des Fühlens und Denkens“, vor allem jener, die sich dem unmittelbaren Erkennen entziehen und im Verborgenen wirken, die sich – je nach der Intensität – auf den Körper mit Hunger oder Sattheitsempfindungen, mit Muskelkontraktionen oder -entspannungen, mit vielfachen Kälte- und Wärmegefühlen, mit allen Schattierungen beim Wahrnehmen von Klängen und Farben auswirken, die auch mit einem grösseren Zeit- und Raumempfinden einhergehen als mit dem Augenblick selbst, in welchem die  Wahrnehmung geschieht und zu wirken beginnt, indem diese verborgene Gefühle tangiert. „Es ist zum Beispiel ein dunkles Verlangen zu einer tiefen Leidenschaft geworden. Man wird sich überzeugen können, dass die geringe Intensität dieses Wunsches zunächst darin bestand, dass er uns isoliert und gleichsam dem ganzen übrigen Innenleben fremd erschienen war. Doch allmählich hat der Wunsch eine immer grössere Zahl psychischer Elemente durchdrungen, indem er ihnen sozusagen seine eigene Farbe verlieh; und nun scheint sich allen Dingen gegenüber unser Standpunkt verwandelt zu haben. Wird man etwa nicht eine tiefe Leidenschaft, wenn sie einmal entstanden ist, daran gewahr, dass die gleichen Dinge auf einen nicht mehr denselben Eindruck machen? All unsere Empfindungen, alle Vorstellungen erscheinen neu; es ist, als erlebten wir eine zweite Kindheit.“[212]

Ein Beispiel für die durch ästhetische Empfindungen geweckten Gefühle war für Bergson das Gefühl der Hoffnung. Er schilderte die Hoffnung als „so intensive Lustempfindung“, dass sie „fruchtbarer ist als die Zukunft selbst (…), dass ihr ein grösserer Reiz beiwohnt als dem Besitz so wie der Traum anziehender ist als die Wirklichkeit“[213]. Bei gewissen Träumen führe die Einbildung nur ganz Gewöhnliches vor und dennoch töne ein gewisser noch nie dagewesener Klang durch die Traumbilder hindurch. „Wenn man sagt, ein Gegenstand nehme einen grossen Raum in der Seele ein, oder sogar, er nehme sie ganz und gar ein, so darf man darunter nur verstehen, dass sein Bild die Tönung Tausender von Wahrnehmungen und Erinnerungen modifiziert hat, und dass er sie in diesem Sinne durchdringt, ohne doch selber zum Vorschein zu kommen.“[214]  Die Hoffnung erachtete er als schöpferische geistige Kraft, die der Vorstellungskraft ermöglicht, die Zukunft, die „nach Belieben auszumalen“ ist und die „eine Unendlichkeit von Möglichkeiten in ihrem Schosse birgt“, mit dem inneren Auge gemäss den eigenen Bedürfnissen zu sehen. Die Wechselwirkungen der geistigen und körperlichen Kräfte im Menschen, zugleich Antrieb und Anziehung, bedürfen der bildhaft stärkenden Konzentration und Ausrichtung auf ein Ziel hin, damit sie nicht in Hemmungen und Abwehr erschlaffen.

Was Bergson 1888 in seiner Doktorarbeit festhielt, war im Bereich der Philosophie aufsehenerregend und ergänzte gleichzeitig, was im Bereich der Neurologie und Neuropathologie durch Jean-Martin Charcot im Hôpital de la Salpêtrière in Paris mit Hypnose und Suggestion bei sogenannt „hysterischen“ Patientinnen zu Untersuchungsergebnissen führte, die u.a. Sigmund Freud in seinen Bemühungen, die geheimnisvollem Kräfte des Unbewussten erkennen zu können, massgeblich beeinflussten. Freud befand sich 1885 zu Forschungszwecken für ein halbes Jahr in Charcot’s Klinik, nachdem er schon 1880 durch die Gespräche mit Josef Breuer in den „Fall Anna O.“ einbezogen worden war.[215] Die Entwicklung der Psychoanalyse wurde in starkem Mass durch die Pariser Erfahrungen gefördert. Bergson seinerseits setzte den von ihm damals mit Sorgfalt gewählten philosophischen wie zugleich neuro-psychologischen und naturwissenschaftlich physikalischen Ansatz bis ins hohe Alter fort; er war für ihn programmatisch in seinem Streben nach Erkenntnis des menschlichen Werdens zum Sein fort, im individuellen – ontogenetischen – Prozess des Werdens wie im phylogenetischen resp. in der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Im Fortschreiten seines grossen Werks blieb die Berücksichtigung der körperlichen und seelischen Bedürfnisse und Kräfte erhalten, weitete sich aus und vertiefte sich, bis er diese1907 in L’évolution créatrice mit dem Begriff des „élan vital“ zusammenfasste, immer unter Einbezug der Bedingungen von Raum und Zeit als massgeblichen Einfluss auf den Prozess des vom Gemüt bestimmten Denkens und der Handlungsentscheide. Es ist vermutlich berechtigt anzunehmen, dass die Doktorarbeit von 1888 ihm in erster Linie die „sprachliche Bildwerdung“ der eigenen sich fortsetzenden Erkenntnisprozesse wie deren Verwirklichung im Handeln ermöglichte, ja dass ihm dabei die Bedeutung der „Kunst“ bewusst wurde.

Bergson‘s Kunstbegriff betraf  – vergleichbar mit jenem Schillers – jede Art individueller Besonderheit im Umsetzen von sich allmählich entwickelnden inneren Bildern, die eigene Gefühle wecken und sich durch das Gestalt- und Formwerden anderen Menschen zur Wahrnehmung anbieten – klanglich oder dichterisch, zeichnerisch, malerisch, bildhauerisch oder architektonisch, politisch, philosophisch oder naturwissenschaftlich. Kunst ist für Bergson ein sinnliches und geistiges, stetes Wechselspiel, das aus dem Vergangenen schöpft und in die Zukunft weist, dabei an räumlicher Ausdehnung gewinnt und in zeitlicher Hinsicht das Gefühl von Dauer bewirkt. Da sowohl das Naturhafte wie das Geistige jedem Individuum eine je persönliche Fülle von Eindrücken vermitteln und von Gemütsbewegungen „schwängern“, geschieht tatsächlich durch die kunstvolle  „Kundgebung“ ein Angebot „des Künstlers, der Künstlerin“ an andere Individuen, sich „in den undefinierbaren psychologischen Zustand hineinzuversetzen, der jene Kundgebungen hervorgerufen hatte. So wird die Schranke beseitigt, die Zeit und Raum zwischen seinem/ihrem und unserem Bewusstsein gezogen hatten; und je ideenreicher, je gehaltvoller an Empfindung und Affekten das Gefühl ist, in dessen Bannkreis er uns hineinführt, desto mehr Tiefe oder Erhebung wird das dargestellte Schöne besitzen. Die sukzessiven Intensitäten des ästhetischen Gefühls entsprechen somit Zustandsänderungen in uns und die Grade der Tiefe der grösseren und kleineren Anzahl elementarer psychischer Vorgänge, die wir in der fundamentalen Emotion unterscheiden.“[216]

Tatsächlich ermöglichen für Bergson die unterschiedlich leichten und starken Gefühle für das Schöne, die durch die Wahrnehmung Vibrationen von den feinsten bis zu den tiefsten auslösen, Erfahrungen, die die Flüchtigkeit der Zeit und die Begrenztheit des Lebensraums aufheben. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass Empfinden und Denken dabei übereinstimmen. Diese verblüffende Erfahrung machte er auch bezüglich der ethischen resp. der „moralischen Gefühle“, die seines Erachtens „einer Untersuchung gleicher Art zu unterziehen“ seien wie die ästhetischen. Die Erbschaften von Descartes und Kant, auf die er sich immer wieder bezog, ergänzten sich gewiss durch jene von Blaise Pascal und stärker noch durch jene von Spinoza, die wiederum durch die post-aufklärerischen und post-revolutionären Schwingungen seiner Zeit beeinflusst wurde. Wie er als Beispiel für die Variationen im Gefühl für das Schöne die Hoffnung gewählt hatte, verwies er bezüglich des Guten auf das Gefühl des Mitleids, das er zu untersuchen anbot. „Es besteht zunächst darin, dass man sich in Gedanken an die Stelle der anderen versetzt, ihr Leid erleidet. Wäre es aber nichts als dieses (…), so würde es uns eher anweisen, die Unglücklichen zu meiden als ihnen beizustehen, denn das Leiden erregt in uns naturgemäss Widerwillen. Es ist möglich, dass dies Gefühl des Widerwillens dem Mitleid zugrunde liegt, doch es kommt alsbald ein neues Element hinzu, ein Bedürfnis, Unseresgleichen zu helfen und ihr Leid zu lindern. Werden wir nun mit François de la Rouchefoucault[217] sagen, diese angebliche Sympathie sei Berechnung, eine „schlaue Voraussicht künftiger Übel“? Es mag sein, dass die Furcht auch noch in das Mitgefühl eingeht, das uns beim Anblick des Leidens unserer Nächsten befällt; doch sind das nur immer untergeordnete Formen des Mitleids. Das wahre Mitleid besteht darin, dass man das Leid eher wünscht als fürchtet. Es ist ein flüchtiger Wunsch, dessen Verwirklichung man kaum begehren würde und den man noch wider Willen in sich aufkommen lässt, gleich als ob die Natur irgend eine grosse Ungerechtigkeit beginge und es gelte, jeden Verdacht des Einverständnisses mit ihr zu beseitigen. Das Wesen des Mitleids ist also ein Bedürfnis nach Demütigung, ein Aufschwung der Seele, sich herabzulassen. Dieser schmerzliche Aufschwung hat übrigens seinen Reiz, da es (das Mitleid) uns in unserer eigenen Wertschätzung erhöht und bewirkt, dass wir uns über jene sinnlichen Güter erhaben fühlen, von denen sich unser Denken in diesem Augenblick abwendet.“ Und Bergson  kommt zum Schluss: „Die anwachsende Intensität des Mitleids besteht somit in einem qualitativen Fortschritt, in einem Übergang vom Widerwillen zur Furcht, von dieser zur Sympathie und von der Sympathie selbst zur Demut.“[218]

Bergson setzte unermüdlich seine klärende Auseinandersetzung mit den Fragen des Schönen und des Guten fort, sein Erforschen der Kräfte, die den Gemütszustand des Menschen und durch diesen das Denken und das Handeln bestimmen. Es ist ein Dreiklang von Kräften, die er selber immer wieder spürte und die seinen Vorlesungen in Paris (an der Ecole Normale Supérieure ENS und anschliessend am Collège de France) wie seinen Vorträgen in Bologna, in Oxford, in Birmingham und in London, an der Columbia University in New York und immer wieder in Paris und im übrigen Frankreich eine ungewöhnliche Ausstrahlungskraft  gaben. War es das innere Feuer seines eigenen Wissenshungers, das für ihn Antrieb zur Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit war, das ihm ermöglichte, stets in echter Bescheidenheit und frei von jeglichem Pathos aufzutreten?

Henri-Louis Bergson, wie er offiziell hiess, war in Paris am 18. Oktober 1859 zur Welt gekommen,  drei Jahre nach Heinrich Heines Tod, als zweites Kind von Kate Levinson (aus einer irisch-englischen Familie, die in London aufgewachsen war) und von Michel resp. Michaïl Jozef Sonnenberg Bergson (ursprünglich Berekson)[219], einem damals berühmten Komponisten und Pianisten aus Warschau, der mit dem zehn Jahre älteren Frédéric Chopin[220] in regem und unterstützendem Kontakt gestanden hatte. Die Kindheitssprache von Henri Bergson war somit zugleich Englisch wie Französisch gewesen, und diese sprachliche Doppelzugehörigkeit bewahrte er während seines ganzen Lebens. Bald nach der Geburt ihres Sohnes zog die Familie nach Genf, wo Michel Bergson eine Anstellung am Konservatorium in Genf angeboten worden war und wo 1865 Henri‘s Schwester Mina[221] zur Welt kam; wiederum zwei Jahre später folgte ein neuer Umzug nach Paris. Henri Bergson war damals acht Jahre alt, ein hochbegabter, empfindsamer Knabe, der 1870, drei Jahre später, als der Deutsch-französische Krieg ausbrach und seine Eltern infolge der judenfeindlichen politischen Entwicklung in Frankreich nach London übersiedelten, von seiner Familie getrennt wurde. Er lebte im jüdischen Knabeninternat Springer in Paris, besuchte das Gymnasium mit intellektueller Leichtigkeit, war jedoch zutiefst introvertiert. Als Achtzehnjähriger wurde er mit einem Mathematikpreis geehrt, der ihm seine erste Publikation in einer Fachzeitschrift ermöglichte.  Auch das Studium in Philosophie und Literatur an der Ecole Normale Supérieure (ENS) schloss er mit Bravour ab, im gleichen Semester u.a. wie Jean Jaurès, dem späteren französischen Sozialistenführer, wie mit Emile Durkheim, der in Frankreich die Sozialwissenschaften aufbaute. Infolge des vorzüglichen Studienabschlusses, der  Bergson auch ermöglichte, Louise Neuburger zu heiraten[222], wurden ihm sofort erste Lehrstellen angeboten, in Angers und in Clermont-Ferrand, wo er sich in mystische und hypnotische Erfahrungen vertiefte, ebenso ins Werk von Lukrez und wo er an seiner Dissertation – in Frankreich „la thèse d’Etat“ – arbeitete, die er 1888 unter dem Titel Essai sur les données immédiates de la conscience einreichte (dt. Zeit und Freiheit), auf die wir eingangs schon hingewiesen haben. Dieses Werk war, wie ich schon erwähnte, in Verbindung von Philosophie, Psychologie und Naturwissenschaften, zugleich von literarischer Sprache so verblüffend, dass Bergson vom Moment der Publikation an einen Kreis von Bewunderern, von Schülern und Schülerinnen wie von Freunden um sich scharte, der sich ständig erweiterte. Dazu  gehörten – neben Marcel Proust – u.a. Eugène Minkowski, Paul Valéry, Jacques Maritain und dessen Frau Raïssa Maritain, Henri Matisse und andere Maler und Malerinnen, als er schon älter war auch Maurice Merleau-Ponty, mit der Zeit ebenso Denker und Schriftsteller aus dem anglo-amerikanischen und deutschen Bereich wie Henry Miller, William James, Georg Simmel und viele mehr. Gleichzeitig stand er im Visier der zunehmenden antijüdischen Macht der Medien und der unzufriedenen Masse, die sich 1893 im Dreyfus-Prozess[223] zuspitzte und Frankreich durch die Spaltung der Bevölkerung an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Im gleichen Jahr wurde Bergson’s einziges Kind Jeanne Adèle[224] geboren, deren Entwicklung sein Leben zutiefst beeinflusste. Sie war als Gehörlose zur Welt gekommen und als „Sprachlose“ aufgewachsen,  die über das Zeichnen und die Bildhauerei eine eigene Sprache finden konnte, die sich ihrem Vater auch tief verbunden fühlte.

Die verhängnisvollen politischen Skandale und innerstaatlichen Zerwürfnisse der Dritten Republik lasteten ohne Zweifel schwer auf Bergson, der inzwischen ein vielfaches Paket an Verantwortung auf sich trug. Nicht nur belegte er seit 1904 am Collège de France den Lehrstuhl für neuere Philosophie, nachdem ihm schon 1900 jener für griechische und lateinische Philosophie zugesprochen worden war, d.h. er verfügte über den hierarchisch höchsten akademischen Status in diesem noch immer sehr hierarchiehungrigen Land, das nach der Niederlage im Deutsch-französische Krieg von 1870-71 und dem Sturz Napoléons III keine Rückkehr zur Monarchie mehr ertrug, gleichzeitig grosse Mühe hatte, eine sozial gerechte, politisch tragbare Republik aufzubauen und daher der Vordenker-Figuren bedurfte, selbst wenn diese nicht nach Rang und Titeln strebten. Als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg begann, war Bergson kurz vorher noch zum Mitglied der Académie française erklärt worden, ferner zum Vorsitzenden der Académie des Sciences morales et politiques wie zum Mitglied der Ehrenlegion. Wie konnte er diese Summierung von Amt und Würde ertragen? Sein Innenleben muss sich in grossem Zwiespalt befunden haben: einerseits bedurfte er des Rückzugs zu sich selbst, andererseits fühlte er sich verpflichtet, sich für seine Heimat und die unzähligen Soldaten im Feld einzusetzen, für die er herumreiste, Vorträge hielt und Zeitungsartikel schrieb, gleichzeitig fühlt er sich durch den Krieg in moralischer und ästhetischer Hinsicht zutiefst erschüttert, war doch durch die Familiengeschichte seiner Frau und durch die zahlreichen Freunde auch Deutschland Teil seiner inneren Zugehörigkeit. Dem sinnlosen, durch nationale Machtgier als legitim erklärten Zerstören und Töten musste Einhalt geboten werden. Als schliesslich 1917 auch die USA in den Krieg eintraten, wurde er in eine diplomatische Delegation einbezogen, die zu Gunsten Frankreichs zu vermitteln suchte.

Was durch diesen Krieg geschaffen wurde – das Ausmass an Zermürbung, Hunger und Leiden beim Militär wie bei der Zivilbevölkerung, an Toten und Verstümmelten in den Gräben, Bunkern und auf den Schlachtfeldern, an technisch neu entwickelten Waffen im Bereich der Artillerie, der Flugwaffe und der chemischen Waffen, an Zerstörung von Städten, Dörfern und landwirtschaftlichen Lebensgrundlagen, an feindbesetzter Zersetzung der moralischen Grundlagen in allen 34 am Krieg beteiligten Staaten und deren Kolonien – letztlich bei Dreivierteln der damaligen Weltbevölkerung -, all dies war nie mehr heilbar. Der Waffenstillstand von Compiègne am 11. 11. 1918, der auf die Oktoberrevolution in Russland folgte, und ebenso der sogenannte „Friedensvertrag“ von Versailles, um den unter den Allierten (mit Ausschluss von Deutschland und Österreich-Ungarn sowie deren Verbündeten)vom 18. Januar 1919 an bis zum 21. Januar 1920 verhandelt wurde, setzte den Krieg auf andere Weise fort, mit Demütigungen, Zahlungsforderungen und neuen nationalen Grenzlinien. Die grosse Wirtschaftskrise folgte, archaische Revanche-Triebe wurden geschürt, der Nationalsozialismus wuchs zur tragenden Partei in Deutschland an und zersetzte auch die konservativ-nationalistischen Kräfte in den übrigen europäischen Ländern. Der Völkerbund (Société des Nations), der etwa gleichzeitig mit dem „Friedensvertrag“ ab dem 10. Januar 1920 in Kraft trat (ohne Einbezug der USA) und der zum Zweck der Einhaltung der darin aufgeführten völkerrechtlichen Verpflichtungen gegründet worden war, blieb leider ein ungenügendes oder untaugliches Versuchsgebilde. Als Ergänzung dazu war die Commission Internationale de Coopération Intellectuelle  – die Vorstufe der UNESCO – ein Projekt, das von besonderem Engagement getragen wurde, mit Henri Bergson als erstem Präsidenten und mit Marie Curie, Albert Einstein und weiteren bedeutenden Denkern und Denkerinnen als Mitgliedern, gewissermassen ein Ansatz kollektiver Hoffnung in Hinblick auf eine Zukunft ohne Krieg.

Als Bergson 1927 für seine 1907 geschriebene  Abhandlung L‘évolution créatrice[225] den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam (einen Nobelpreis für Philosophie gibt es nicht) – als erster jüdischer Preisträger -, war er infolge der rheumatischen Schmerzen, die ihn seit 1925 plagten, kaum mehr in der Lage zu reisen und die Ehrung in Oslo entgegen zu nehmen. Anders als Heine wurde ihm noch zu Lebzeiten eine grosse Anerkennung gewährleistet. Es war eine sehr ungleiche Entwicklung, obwohl beide mit ähnlichen geistigen Erbschaften denkerische und künstlerische Kräfte zu vereinen suchten, auf die Zeitgeschehnisse empfindsam reagierten, sich mit grosser Offenheit christlichen Glaubenslehren zuwandten, jedoch der jüdischen Herkunft treu blieben, letztlich auf ungleiche und ähnliche Weise im modernen Sinn „Weltbürger“  waren.

In seinem Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion, das 1932 erschien, ging Bergson nochmals auf die Fragen der Menschheitsentwicklung ein, die trotz der von den religiösen Geboten getragenen gesellschaftlichen Imperativen in die destruktive Perversion der Kriege mündete, „Mord und Raub, ebenso wie Hinterlist, Betrug und Lüge nicht nur erlaubt, sondern sogar verdienstlicht“, mit der verwirrenden Umkehrung der Grundverpflichtung, dass das Schöne dem Guten zu entsprechen habe, so wie Shakespeare sie im Macbeth den Hexen in den Mund legte: „Fair is foul und foul is fair“[226]– „das Schöne ist widerlich und das Widerliche ist schön.“ Gab es in Hinblick auf die Zukunft einen Ausweg aus dieser Verengung und Verstrickung? Bergson war damals 73 Jahre alt, körperlich unter den rheumatischen Schmerzen schwer leidend, doch ohne Einbusse seiner geistigen Wachheit. „Was für eine Kindheit hätten wir gehabt, wenn man uns immer hätte gewähren lassen! Wir wären von Vergnügen zu Vergnügen geeilt. Aber da erhob sich ein Hindernis, nicht sichtbar und nicht fühlbar: das Verbot. Warum haben wir gehorcht? Diese Frage kam uns kaum; wir waren gewöhnt, unsern Eltern und Lehrern zu gehorchen. Dabei fühlten wir sehr wohl, dass es so war, weil sie unsere Eltern und weil sie unsere Lehrer waren. Ihre Autorität beruhte also in unsern Augen weniger auf ihrer Person als auf ihrer Stellung uns gegenüber. Sie nahmen einen bestimmten Rang ein. Von dort kam – mit einer Eindringlichkeit, die er nie gehabt hätte, wenn er von einer anderen Stelle ausgesandt worden wäre – der Befehl. Mit anderen Worten: Eltern und Lehrer schienen auf Grund eines Auftrags zu handeln. Zwar gaben wir uns darüber nicht klar Rechenschaft, doch erahnten wir hinter unsern Eltern und Lehrern ein Ungeheures, oder vielmehr Unendliches, das durch ihr Medium mit seiner ganzen Wucht auf uns lastete. In späterem Alter hätten wir gesagt, es sei die Gesellschaft. Wir hätten darüber philosophiert und sie mit einem Organismus verglichen, dessen Zellen durch unsichtbare Bande miteinander verknüpft, in einer kunstvollen Hierarchie sich einander unterordnen und sich von Natur aus, zum grösseren Wohl der des Ganzen, einer Disziplin beugen, die von jedem Teil verlangen kann, dass er sich opfere. (…) Von diesem ersten Gesichtspunkt aus erscheint uns das soziale Leben als ein System von mehr oder weniger stark eingewurzelten Gewohnheiten, die den Bedürfnissen der Gemeinschaft entsprechen. (..) Jede dieser Gewohnheiten des Gehorchens übt einen Druck auf unsern Willen aus. Wir können einer solchen Gewohnheit zwar entschlüpfen, aber dann werden wir zu ihr hingezogen, zu ihr zurückgeführt, wie das Pendel, das sich von der senkrechten Richtung entfernt hat. Es ist dann eine gewisse Ordnung gestört – und sie sollte wieder hergestellt werden. Kurz, es ist wie bei jeder Gewohnheit: wir fühlen uns genötigt.“[227]

„Sich genötigt fühlen“ widersetzt sich der Freiheit, die gemäss Bergson’s Verständnis[228] eine dem Ich innewohnende zeitliche Beziehung bedeutet, die ermöglicht, aus der abgelaufenen, vergangenen Zeit, die sich zur Dauer im Sinn einer Einklammerung angestaut hat, ins Jetzt der ablaufenden Zeit einzusteigen, einen Entscheid zu treffen und eine Handlung auszuführen. Besteht somit dank der Freiheit die Möglichkeit, aus der „Nötigung“ auszusteigen? Für Bergson war klar, dass dies möglich ist, dass jedoch kein Ausstieg aus den Verpflichtungen denkbar war, die mit der Freiheit im Austausch stehen, diesbezüglich in Fortsetzung von Kants Erklärung der Freiheit als Voraussetzung der „Sittlichkeit“. Die Abwendung des Einzelnen von der Gesellschaft konnte nicht dem Guten, somit auch nicht dem Schönen entsprechen, dagegen wohl der Einbezug der Freiheit in das System der Gesellschaft, damit deren Befreiung von der „zur Dauer erstarrten Gewohnheit“ der Unterwerfung unter autoritäre Befehle, Befreiung von der Beuge-Disziplin und von den Opferforderungen, Befreiung von der „ganzen Wucht“ der „Gewohnheiten des Gehorchens“, die auf den Einzelnen lastet, vergleichbar der sklavenhaften, immer gleichen Pendelbewegung, die erst in der völligen Ermattung endet. Die Befreiung vom äusseren Zwang  setzt jedoch die Befreiung von den inneren Zwängen voraus: das Freiwerden von der Angst des eigenständigen, selbständigen Urteilens und Entscheidens. Für Bergson war klar, dass kein „retour à la nature“ als Lösung gelten kann, da die Natur selber als System der Unterwerfung funktioniert; der Staat der Bienen wie jener der Ameisen, auf welche er einging, macht deutlich, dass im System der Natur die transgenerationelle Wiederholung blinden Gehorsams nicht wegzudenken ist. Das menschliche System staatlich hierarchischer Struktur von Gesetzen und unausweichlicher Notwendigkeit deren Befolgung entspricht als System dem naturhaften, auch der Kampf um Besitz und um Grenzziehung zur Verteidigung des Besitzes wie die daraus wachsenden Feinderklärungen, gewalttätigen Streitereien und Kriege. Gleichzeitig wiederholte er, dass in jedem einzelnen Mitglied des menschlichen Staates die widersprüchlichen Kräfte von Antrieb und Anziehung resp. Rückzug und Abwendung zu beachten seien (auf welche auch Schiller eingegangen war), dass diese die Fähigkeiten des Geistes – des Intellekts und der Gefühle – kennzeichnen und dass im Umsetzen dieser Fähigkeiten nicht unbedingt ein Zwang bestehe, sondern die Möglichkeit der Wahl: der Mensch könne sich selber für offenere, gerechtere Verpflichtungen „des Menschen gegenüber den Mitmenschen“ entscheiden. Voraussetzung sei allerdings, führte Bergson illusionslos weiter aus, dass diese nicht von den Verpflichtungen gegenüber den „Mitbürgern“ unterschieden würden. Es sei die Differenz zwischen „Mitmenschen“ und „Mitbürgern“ resp. die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einem Staat oder einer Nation, welche die Enge der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen begründe, von denen die Beachtung und Umsetzung – oder Ungleichbeachtung und Nicht-Beachtung – der Verpflichtungen abhingen. „Zwischen Nation (wie gross sie auch sei) und Menschheit liegt der ganze Abstand (…) des Geschlossenen vom Offenen.“[229]

Die Gründung der Commission Internationale de Coopération Intellectuelle, die Bergson 1920 mitbegründete, nachdem die Kriegführenden mit der Kriegführung sich nicht mehr weiter zu überbieten wussten, mag als praktischer Entwurf einer neuen Ethik des menschlichen Zusammenlebens gedient haben, die dem menschlichen Bedürfnis nach dem Schönen ebenso gerecht würde wie jenem nach dem Guten. Bergson verstand darunter die „offene Ethik“, die „Ethik der offenen Seele“. Er fand sie im Evangelium ausgesprochen, insbesondere in der Bergpredigt. Die sich darin manifestierenden Widersprüchlichkeiten erachtete er als Anstoss an die schöpferischen Kräfte der Freiheit, „wenn man die Absicht der Maximen betrachtet, die darin besteht, einen Seelenzustand zu erregen“, der das herkömmliche Gehorchen in Frage stellt. „Nicht für die Armen, sondern um seiner selbst willen soll der Reiche seinen Reichtum aufgeben: Selig der Arme ‚im Geiste‘! Das Schöne ist nicht, beraubt zu sein, nicht einmal sich selbst zu berauben, sondern die Entbehrung nicht zu fühlen. Der Akt, durch den die Seele sich öffnet, hat die Wirkung, eine in Formeln eingesperrte und materialisierte Ethik zu erweitern (…). Diese Ethik wird dann im Verhältnis zur andern wie eine photographische Momentaufnahme von einer Bewegung. Das ist der tiefe Sinn der Gegenüberstellungen, die in der Bergpredigt aufeinanderfolgen: ‚Man hat euch gesagt… Ich aber sage euch…‘. Auf der einen Seite das Geschlossene, auf der anderen Seite das Offene. Die landläufige Moral wir nicht beseitigt, doch sie erscheint wie ein Moment im Verlauf des Fortschritts (…), so wie es geschieht, wenn das Dynamische das Statische in sich aufsaugt, das dann zu einem Sonderfall wird. (…) Daher möchten wir das Undurchführbare, das in gewissen Vorschriften des Evangeliums enthalten ist, mit dem vergleichen, was die ersten Erklärungen der Differentialgrösse an Unlogischem aufweisen.“[230]

Unmissverständlich erschien Bergson die mit diesem Vergleich einhergehende Erkenntnis, dass der denkende und entscheidende Geist den Grundbedürfnissen des Gemüts – des „Seelenzustandes“ – einen Antrieb geben  k a n n  (nicht muss), der im Moment des Denkens geschieht, der ein Anhalten im Ablauf des Handelns ermöglicht und eine andere Orientierung als die gewohnte ermöglicht, ein Staunen – schliesslich ein Gefühl der Freude. Für Bergson konnte trotz der Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht der „Fortschritt“ als „Fortschritt“ für ungültig erklärt werden, nein. Es galt,  die Bedeutung von „Fortschritt“ zu hinterfragen. Fortschritt bedurfte des nachdenklichen Anhaltens, einer Neubesinnung und Neuorientierung. „Die Menschheit seufzt, halb erdrückt, unter der Herrschaft der Fortschritte, die sie gemacht hat. Sie weiss nicht genügend, dass ihre Zukunft von ihr abhängt. Es ist an ihr, zunächst zu entscheiden, ob sie weiterleben will (…).“[231] Für diesen grundsätzlichen Entscheid braucht es, wie schon erwähnt, eines Anhaltens resp. einer Unterbrechung des automatisierten Ablaufs von Denken und Handeln. Es bedarf des Innehaltens und  des Nach-Denkens bis in die Tiefe des Gemüts, das zum intuitiven Erkennen eines anderen, vom gewohnten abweichenden, „unlogischen“ Entscheids führt.

Für Bergson kam dieses intuitive Erkennen resp. die Intuition des vom inneren Zwang befreienden Erkennens, Verstehens und Entscheidens der Mystik nah, die – gemäss seiner Überzeugung – der eigentlichen Religiosität gerecht wird, die sich durch ihre Offenheit von der Zugehörigkeit zu jeglicher durch Bedingungen und alleinigen Wahrheitsanspruch eingeengten Religion frei halten kann. Im praktischen Umsetzen ethischer Maximen des menschlichen Zusammenlebens löst dieser „unlogische“ innere Prozess des Erkennens den Gehorsam des in erstickende Gewohnheiten „eingesperrten“ Menschen auf, der spürt, dass er aus dem angstbesetzten Unterwerfungsvollzug des Müssens und Sollens in jenen des sich öffnenden, lichtvollen des Könnens einsteigen darf, dass er dazu ebenso berechtigt ist wie jeder andere Mensch. Es geht dabei um die gleichen Regeln der Ethik – jene, die sich ebenso in der Bergpredigt wie in Kants kategorischem und praktischem Imperativ finden -, jedoch um ein völlig neues Verstehen der schöpferischen Möglichkeiten des „élan vital“, die sich aus dessen neuen, anderen Beachtung und Umsetzung ergeben. Bergsons Verständnis von „Kunst“, das er in seiner Jugend mit dem Erkunden und Umsetzen der Gefühle, der Aufmerksamkeit und Intensität mit den körperlichen und geistigen Befähigungen in Verbindung dichterischer, malerischer, musikalischer und wissenschaftlicher Werke gebracht hatte, öffnete sich nun für den Entscheid der Gestaltung menschlichen Weiterlebens im Zusammenleben, letztlich für den Entscheid der Erhaltung der Menschheit in der Weite von Raum und Zeit, „damit sich auch auf unserem widerspenstigen Planeten die wesentliche Aufgabe des Weltalles erfülle, das dazu da ist, Götter hervorzubringen.“[232]

Mit dieser „Zweckerklärung“ der Freiheit des Einzelnen zu Gunsten der Vielen schloss Bergson sein letztes philosophisches Werk ab, eher warnend als ermutigend, irgendwie an Prometheus und Epimetheus erinnernd, die sich gottähnlich gegen die Unterwerfung unter Zeus‘ Verbote entschieden hatten, in Kenntnis der angedrohten Strafen.  Bei Prometheus blieb trotz der herzverzehrenden Qual, die er in der Folge zu erdulden hatte, das Wissen um die licht- und wärmespendende Kraft des Feuers, bei Empimetheus die Scham ob dem sich über die Erde verstreuenden und vermehrenden Bösen, das in Pandoras Gefäss eingeschlossen gewesen war, doch gleichzeitig das Wissen um die Kraft der Hoffnung, die erhalten blieb – all dies unter den Zeitentwicklungen von 1933 mit den wachsenden Verengungen menschlicher und zwischenmenschlicher, innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Bedingungen des Weiterlebens durch die anwachsende und sich zunehmend aufblähende Macht und Gewalt des Nationalsozialismus.  Der Zweite Weltkrieg kündigte sich an. Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland wie der Abtransport in Arbeitslager, die zunehmend zu Vernichtungslagern wurden, die Verfolgung politischer Oppositioneller und „lebensuntüchtiger“ Kinder und Erwachsener hatten schon begonnen. Als am 1. September 1938 die Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht erfolgte, wurde der Krieg zur Tatsache europaweiter, zunehmend weltweiter Verdüsterung des Glaubens an Ethik und Ästhetik im menschlichen Zusammenleben. Die Destruktivität des „Fortschritts“ in der Wiederholung und vielfach gesteigerten Fortsetzung des archaïschen Zahn-um-Zahn, das schon im Ersten Weltkrieg über die Grenzen des Ertragbaren umgesetzt worden war, die staatlich befohlene und von Menschen umgesetzte Entmenschlichung zertrat und zerfleischte jegliche Erbschaft der Bergpredigt.

Bergson starb mit dem gelben Stern an der Brust in Paris am 4. Januar 1941, nachdem die Stadt wie ein grosser Teil Frankreichs sich ein halbes Jahr vorher ohne Widerstand der deutschen Wehrmacht unterworfen hatte.

Die Art und Weise des trotzdem nicht erstarrenden Widerstandes gegen Unterwerfung und Destruktivität konnte sich im Bereich von Malerei und Musik, von Dichtung und von Denken, auch von geheimem Aufbau zwischenmenschlicher Unterstützung beim Überleben, insbesondere von Freundschaft erhalten und sich immer wieder neu verwirklichen. Jegliche Erneuerung der schöpferischen Kraft, die für Bergson im „élan vital“ dem Menschen eigen ist, bedarf der entscheidenden Möglichkeit des Anhaltens, des Nachdenkens sowie des erhellenden und die geheimnisvolle Lebensfreude weckenden Sich-Öffnens zur Zukunft hin.

 

Textbeilagen:

Heinrich Heine. Shakespeares Mädchen und Frauen. 1978 Frankfurt am Main. S. 117-125 (Cordelia / Julia); 144-150 (Portia)

Henri Bergson. Zeit und Freiheit. 1911 Jena. S. 1-19

Wassily Kandinski. Über das Geistige in der Kunst. 1952 Bern. S. 52-65

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