Was macht die Handlungsfähigkeit staatlicher Organe aus? – Rede anlässlich der Feier zum hundertjährigen Bestehen der Verfassung von Zug

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

 

Was macht die Handlungsfähigkeit staatlicher Organe aus?

Rede anlässlich der Feier zum hundertjährigen Bestehen der Verfassung von Zug

am 11. Juni 1994

 

Sehr geehrte…..

Als Kind kam ich nach Zug zu den Feiertagen, meine Mutter stammte von hier. Die Grossmutter war früh gestorben, der Grossvater lebte in einem der alten Häuser an der Untergasse, mit einem Garten zum See hin, der mich anzog, mit den strengen Rabatten und den kiesbelegten Spazierwegen, in den ich aber mit zögernden Füssen ging, nie si­cher, ob der Boden hielt, von dem erzählt wurde, dass er vor Jahrhunderten, im Jahr 1435, plötzlich abbrach und die Menschen mitzog ins Wasser, bis auf den Knaben in der Wiege, den Urahnen meiner Mutter, der gerettet wurde, fast wie das Moseskind, wenn den Erzählungen und den Bildern zu glauben war, mit dem hochgehenden Wasser und der kleinen Wiege zwischen den spitzen Wellen. Einer der Familienstiche hängt noch in meiner Küche, seit Jahren zieht er mit mir von Ort zu Ort, von Küche zu Küche: Erinne­rung an die mütterliche Herkunft.

Einen Feiertag wie heute habe ich allerdings nie erlebt: einen Feiertag, der alle familiä­ren Feiertage weit überhöht, einen Tag der Besinnung auf die “res publica” des Kantons Zug, damit auf die Bedeutung der Demokratie, als deren Garantie die Verfassung gilt – seit hundert Jahren. Ich freue mich sehr, nicht als Urenkelin der Hildebrands und Wickarts, wofür ich kein Verdienst in Anspruch nehmen kann, sondernals Philosophin dazu etwas beitragen zu dürfen – Überlegungen zur Handlungsfähigkeit der staatlichen Organe -, und ich danke den Behördenmitgliedern, die mich dazu eingeladen haben, sehr herzlich für die Ehre.

Ich möchte einleitend skizzieren, worauf ich mich einlassen werde. Es geht um Zusammenhänge, die heute von grösster Wichtigkeit sind, die mich auch seit Jahren beschäftigen: Mit der Frage nach der Handlungsfähigkeit stellt sich in zentraler Weise die Frage nach der Macht der staatlichen Organe. Zugleich die Frage nach der Legitimität der Macht, mithin nach der Souveränität, die diese Macht durch Delegation verleiht, mithin nach dem Volk, in dessen “Gesamtheit die Souveränität beruht”, wie es in Artikel 2 der Allgemeinen Grundsätze der kantonalen Verfassung heisst. Es ist eine ganze Ver­ästelung von Fragen, deren philosophische Bedeutung insgesamt mit dem zu tun hat, was den Sinn, das Ziel und den Zweck des Politischen ausmacht.

Wie beantworten wir diese Fragen heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, angesichts von politischen Erscheinungen, die als Verfallserscheinungen der Demokratie mit Sorge wahrgenommen werden, angesichts von politischer Indifferenz und Stimmabstinenz, die  unter dem Begriff der “Staatsverdrossenheit” oder unter dem Vorwand der Bürger-/Bürgerinnenüberforderung das Terrain ebnen für propagandistische Verführbarkeit? Der heutige Tag gibt Gelegenheit, nach Antworten zu suchen.

Merkwürdigerweise ist in der kantonalen Verfassung nirgendwo von Macht die Rede, obwohl eine ihrer zentralen Aufgaben die Abgrenzung und Kontrolle der Macht, damit die Verhinderung von Machtmissbrauch ist, und obwohl ihre bedeutendste Errungen­schaft die Einführung des Proporzes ist, damit eine Garantie zur Verhinderung der Machtdominanz einer einzigen Partei. Allein die Abgrenzung und Kontrolle der Macht kann den Hautpzweck der Verfassung garantieren, wie er in deren “Allgemeinen Grundsätzen” vorrangig Ausdruck findet: die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger – die Frei­heit, diese kostbarste “Unvollkommenheit”, wie  Montesquieu sie in “L’Esprit des Lois” von 1748 bezeichnet, diese Voraussetzung für Wandel und Fortschritt, für jede Art von Lernprozess und Neubeginn, beim Individuum wie in der Demokratie.

Es ist also keineswegs so, dass die Frage der Macht in der Verfassung von 1894 unter­schlagen wäre, doch anstelle von “Macht” wird der Begriff “Gewalt” verwendet. In Ar­tikel 21 der “Allgemeinen Grundsätze” heisst es: “Die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche Gewalt sind getrennt”, worauf Vorschriften folgen, die die Verhin­derung von Ämter- resp. von Machtkumulation bezwecken. Der ganze Dritte “Titel” oder Teil der Verfassung befasst sich mit der genauen Definition und Kompetenzzutei­lung der sogenannten “öffentlichen Gewalten” – all dies Beweis genug, dass im Sinn auf­geklärter Öffentlichkeit, die Sorge um die schnell gefährdete, fragile Machtbalance der Zuger Bevölkerung Ende des letzten Jahrhunderts durchaus bewusst war.

Die unklare Begriffsverwendung von “Macht” und “Gewalt” ist im Deutschen häufig und folgenschwer, sowohl in der  Rechts- wie in der Staatstheorie des 18., 19. und noch die­ses Jahrhunderts (auch in den Übersetzungen der massgeblichen Werke aus den Engli­schen und Französischen, etwa von John Locke, Montesqieu, John Stuart Mill und ande­ren, bei denen die Begriffe eindeutig geschieden und unmissverständlich für Verschiede­nes verwendet werden), eine folgenschwere Begriffsverwechslung in mancher Hinsicht, gerade bezüglich der Legitimität der Machtausübung, nicht nur in öffentlichen Zusam­menhängen, auch in privaten. Denken wir nur an die Häufigkeit der Missbräuche dessen, was “elterliche Gewalt” genannt wird. Begriffe sind nicht einfach austauschbar, ihre Verwendung ist mit der Vermittlung von Inhalten, von Bildern verbunden, die in star­kem Mass die Moral, mithin das Handeln – gerade auch das politische Handeln -, beein­flussen.

Bleiben wir beim politischen Handeln, ich möchte näher darauf eingehen. Das politische Handelns ist es, das Macht konstituiert.

Einen der wichtigsten Beiträge zur Unterscheidung von Macht und Gewalt leistete in un­serem Jahrhundert Hannah Arendt. Sie löste “Macht” aus dem handlungsstrategischen Zusammenhang, in dem etwa Max Weber und nach ihm ganze Rechtsphilosophie-Gene­rationen ihn verstanden haben, nämlich als “Möglichkeit, den eigenen Willen dem Ver­halten anderer aufzuzwingen”. Was Max Weber definiert, versteht Hannah Arendt als Gewalt, nicht als Macht. Macht und Zwang haben nichts gemein. Der Machtbegriff ist auf eindeutige Weise positiv besetzt.

Macht setzt die Tatsache voraus, dass viele Menschen zusammenleben und daran inter­essiert sind, dieses Zusammenleben zu organisieren, auf Grund ihrer Fähigkeit, sich über die Sprache, in zwangsfreier Kommunikation, auf eine gemeinsames Handeln zu einigen. Bei dem, was Macht bedeutet, geht es mithin nicht um die Umbiegung, nicht um das Ge­fügigmachen fremden Willens zu Diensten eines einzelnen Willens, sondern um die akti­ve politische Handlungskompetenz, um das Entscheidungs- und Handlungspotential einer Vielzahl von Menschen oder von Gruppen, zu einem Zweck, der über die aktuellen Ge­schäfte hinausweist. Gemäss Hannah Arendt löst Macht sich auf, wenn die Gruppe sich auflöst oder wenn sie zur Masse erstarrt. Auch kommt, entsprechend dieser Definition,  Macht nie einer einzelnen Person zu. Schon in “Vita activa” von 1958 wie in ihrem Es­say “On violence” von 1970 (deutsch: “Macht und Gewalt”) hält sie fest, dass es nur im metaphorischen Sinn möglich sei, von einer “mächtigen Persönlichkeit” zu sprechen, sei es, dass diese von einer Gruppe ermächtigt sei, in deren Namen und stellvertretend für diese zu handeln, sei es, dass es eine “starke” Persönlichkeit sei, denn Stärke und Autori­tät (d.h. die Anerkennung der Stärke durch andere) komme dem einzelnen Menschen zu, im Gegensatz zu Macht. Macht entsteht nur “zwischen den Menschen, wenn sie zusam­men handeln” (Vita activa, S.194), wobei dieses “zusammen Handeln” bei Hannah Arendt immer das öffentliche, gemeinsame Interesse meint, immer das Geschäft des Po­litischen, das die höchste Stufe menschlicher Tätigkeit darstellt, das unabschliessbar ist und ständig offen bleibt und gerade auf diese Weise, das heisst durch diese Praxis, Frei­heit gewährleistet und erhält. Denn Freiheit bedeutet das Vermögen, immer wieder von neuem einen Anfang zu setzen, nicht in den Zwängen des Getanen verharren zu müssen, sondern dank der besseren Einsicht, die durch den – häufig widersprüchlichen und viel­fältigen – Diskurs der Vielen, die zusammenleben, zustandekommt, einen neuen Weg be­schreiten zu können.

Die Gewährleistung der Freiheit konkretisiert sich in Gesetzen und Institutionen, denen dank der Abstützung auf die Pluralität der Menschen, die zusammenleben, eine weitest mögliche Zustimmung zukommt. Diese Zustimmung ist, nach Hannah Arendt, wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsens, der die Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat, das heisst selbst politische Praxis ist. “Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, so­bald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt”, hält sie fest. Die “lebendige Macht des Volkes” ist jedoch, per definitionenm, freiheitsbe­stimmt , das heisst, nach ihren Worten, “von der niemals ganz zuverlässigen und immer nur zeitweiligen Übereinstimmung vieler Willensimpulse und Intentionen abhängig”. Im Sinn dieses – zutiefst demokratischen – Machtverständnisses kam mit der Verfassung von 1894 die Ersetzung des Majorz durch den Proporz zustande, als Garantie des politischen Pluralismus, eine Entscheidung, die damals beispielhaft war.

Gerade die Pluralität der Meinungsbildung, diese sprach- und argumentationsdefinierte Praxis, aus der heraus Macht sich bildet, erhält und erneuert, und die sich in der Plurali­tät der Parteien und in der proportionalen Regierungsbeteiligung eine institutionelle Form gibt, ist auch die Voraussetzung für die Begrenzung und Kontrolle der Macht. “Die Grenze der Macht liegt im gleichzeitigen Vorhandensein von anderen Machtgruppen, die ausserhalb des eigenen Machtbereichs stehen und selbst Macht entwickeln”, hält Hannah Arendt in “Vita acitva” fest. “Hieraus erklärt sich”, fährt sie fort, “auch die merkwür­dige Tatsache, dass Machtteilung keineswegs Machtverminderung zur Folge hat, (…) indem – vermöge des in (einem lebendigen Verhältnis) waltenden Miteinander – mehr Macht erzeugt wird, jedenfalls solange es sich wirklich um ein lebendiges Zusammenspiel handelt, und die in solchen Systemen immer bestehende Gefahr der gegenseitigen Para­lysierung und des sich Festfahrens gebannt ist”. Hannah Arendt nimmt hier auf, was John Locke schon 1690 in seinen “Treatisies of Government” oder Montesquieu gute fünfzig Jahre später, 1748, in seinem staatstheoretischen Hauptwerk “De l’Esprit des Lois” festgehalten hat: “Um den Missbrauch der Macht zu verhindern, muss vermöge ei­ner Ordnung die Macht der Macht Schranken setzen”.

Wo der Macht keine Kontrolle und keine Schranken gesetzt sind, oder wo das “lebendige Zusammenspiel” unterbunden wird, wo infolgedessen die Sprache zum Zweck partikulä­rer  Interessen und Zwecke missbraucht wird, und wo anstelle der freien Argumentation Propaganda oder Einschüchterung durch die Mehrheit sich durchsetzen, pervertieren die machthabenden Institutionen zu Herrschaftsapparaten und zu Gewaltherrschaft , bis zur totalen Herrschaft. Die Analyse dieser Pervertierung, wie sie sich, auf der Grundlage demokratischer Strukturen, in Deutschland in den dreissiger Jahren entwickelte, gehört zu Hannah Arendts grossen Leistungen. Es ist hier nicht der Ort, darauf einzugehen. Hier nur dies: Macht und Gewalt sind Gegensätze. Während Macht sich durch die plurale und lebendige, widerspruchsfähige Praxis der Freiheit selbst legitimiert, ist Ge­walt nie legitim.

Hannah Arendt gesteht allerdings ein, dass, je nach dem zu erreichenden Ziel, Gewalt als Mittel zur Erreichung dieses Ziels unvermeidlich sein kann, etwa bei revolutionären Si­tuationen, bei manifestem Machtzerfall, wenn sich innerhalb einer grossen dissidenten Gruppe Macht heranbildet, die sich in politische Praxis umsetzen möchte, ohne dass die damit bezweckte demokratische Machtänderung  von den machtausübenden Apparaten zugelassen wird, wie dies zum Beispiel 1956 bei der ungarischen Revolution der Fall war. Anders ist es, wenn in revolutionären Situationen eine Gruppe nicht nach Verände­rung der Machtapparate, sondern, ebenfalls im Sinn der Freiheit, lediglich nach Macht­partizipation, nach Mitsprache bei den politischen Zielsetzungen strebt, wie dies etwa 1968 nicht nur in Paris, Berlin und in den USA, sondern auch in der Schweiz der Fall war, wie dies als Bedürfnis auch den Jugendunruhen von 1980-1983 zugrunde lag. Je nachdem, ob die machtausübenden, staatlichen Organe sich als Apparate bedroht fühlten oder nicht, je nachdem, ob sie auf der Argumentationsebene zu konsensfähigen Konzes­sionen bereit waren oder nicht, zeigte es sich, ob die politische Macht intakt war oder ob sie schwach und zerfallen war, das heisst ob von staatlicher Seit mit dem Einsatz von Gewalt das politische Anliegen der Jugendlichen zum Verstummen gebracht wurde oder ob es zum Anstoss für politische Veränderungen wurde, wie etwa in den USA in der Rassenfrage und in der Vietnamkriegsfrage. Wo politische Anliegen auch kleiner Grup­pen mit Gewalt unterbunden werden, wie dies gerade in der Schweiz während der soge­nannten achtziger Unruhen der Fall war, wird die politische Erneuerung verhindert, ja anstelle möglicher Erneuerung kommt es auf Seiten der machtausübenden Organe zu Er­starrung, auf Seiten der aus dem politischen Diskurs, aus der möglichen Machtpartizipa­tion  ausgeschlossenen Jugendlichen zu einer Erfahrung der Ohnmacht und der Sprach­losigkeit, die sich zu einem schwärenden Gewaltpotential entwickeln kann, ein  Poten­tial, das die Jugendlichen aus der Erfahrung ihrer Ohnmacht immer mehr gegen sich selbst richten – zum Beispiel im Drogenkonsum. Und auch dagegen findet ein erstarrtes öffentliches System keine diskursiven Angebote der Veränderung, sondern wieder nur Repression. Repression, als Mittel der Politik eingesetzt, verweist immer auf Machtman­gel. Die Folgen systematischer Gewaltanwendung sind zunehmende Erstarrung dessen, was eigentlich lebendiges Potential sein könnte. Sie führen daher zu zunehmender Auflö­sung von Macht.

Gestatten Sie, dass ich nochmals zur politischen Praxis zurückkomme, um anschliessend die Frage nach der Souveränität, nach dem Souverän, nach dem Volk angehen zu kön­nen. Wenn tatsächlich nur die lebendige Partizipation der vielen Verschiedenen, der vie­len “Unvollkommenen”  Macht im demokratischen Sinn schafft, erhält und erneuert, wenn die – noch in aller Erinnerung präsente – Gewaltanwendung den Jugendlichen ge­genüber deren Partizipationswillen auf so verhängnisvolle Weise zum Verstummen brachte und zugleich die Machtdefizienz der handelnden Organe demaskierte, um wie viel deutlicher zeigt sich da das nicht genutzte politische Erneuerungspotential  und damit der politische Erneuerungsverlust durch die bis in die jüngste Zeit, bis vor 24 Jahren, praktizierte Partizipationsverhinderung der Frauen.

Als 1894 die Zuger Kantonsverfassung durch Volksentscheid in Kraft trat, bedeutete “Volk” ausschliesslich “Männervolk”. Und auch Artikel 2 der “Allgemeinen Grundsätze” der kantonalen Verfassung “Die Souveränität beruht in der Gesamtheit des Volkes” ver­stand unter “Volk” ein Volk ohne Frauen. Aber gibt es eine “Gesamtheit des Volkes” ohne Frauen? Der Souveränitätsbegriff war somit eigentlich wertlos, ein Windei. Die Verhinderung der Frauen an der Partizipation der Macht, diese Repression ihres politi­schen Erneuerungs- und Veränderungswillens, beruhte vermutlich während der langen Vergangenheit, als es so war, nicht zuletzt auf der Angst des sich “Gesamtheit”  anmas­senden  männlichen “Souveräns”, seiner Unvollständigkeit und Anmassung überführt zu werden. Denn die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts war weltweit eine Zeit des furchtlosen Frauenaufbruchs – einer bedeutenden politischen Praxis ohne Macht, da die­ser Praxis jegliche institutionelle Garantie entzogen war. Frauen assoziierten sich überall in der Welt zu grossen Bewegungen, aus dem Widerstand gegen den Machtmissbrauch der machthabenden Männer, aus der Unerträglichkeit von Missachtung, Rechtlosigkeit und Ausbeutung, aus der Überzeugung, dass allein gleiche Rechte für alle, gleiche Mög­lichkeiten der Schulung und Bildung für alle, gleiche Entlöhnung für gleiche Arbeit, Schutz der Kinder vor Ausbeutung und Missbrauch, Schutz der Lohnabhängigen vor plötzlicher Entlassung und Arbeitslosigkeit, Mutterschaftsschutz und Selbstbestimmung der Frauen in Bezug auf Schwangerschaft oder Schwangerschaftsabbruch gesellschaftli­chen Fortschritt und damit Zukunftsfähigkeit bedeuten.

Die Frauen assoziierten sich auch aus dem Willen, der nicht abbrechenden Wiederholung und exponentiellen Steigerung von Aufrüstung, Krieg und Zerstörung ein Ende zu setzen und alle Kräfte für das Zusammenleben in Frieden einzusetzen. In der Schweiz hatte da­mals der Sonderbundskrieg eben ein Ende genommen, in Europa der Deutsch-Französi­sche Krieg, aber die Kriege gingen weiter, sie multiplizierten sich innerhalb weniger Jahre, ein Netz von Tod und Zerstörung, das sich über die ganze Welt legte: der Rus­sisch-Türkische Krieg, der Englisch-Ägyptische Krieg, der Englisch-Burmesische Krieg, die Eroberung der Hawai-Inseln durch die USA, der Kubanische Krieg, der Burenkrieg, der Japanisch-Russische Krieg, die Balkankriege, sodann verzweifelte, verlustreiche und zumeist erfolglose Aufstände unterdrückter Völker in Afrika und Asien gegen die die Unerträglichkeit der imperialistischen Unterwerfung – etwa, unter vielen anderen, der Boxeraufstand in China, der Aufstand der Hereros und Hottentotten gegen die Deut­schen, der Zulu gegen England, der Bevölkerung der Marianen gegen die Portugiesen -, gleichzeitig erste Erhebungen des rechtlosen Bauern- und Industrieproletariats in Russ­land und deren blutige Bekämpfung, zugleich die bedrohlichen Vorbereitungen der Grossmächte auf einen Weltkrieg und schliesslich der Erste Weltkrieg selbst – all dies ei­ne unselige Herrschaft der Gewalt, eine “Bestialität der Praxis, der die Bestialität der Gedanken und der Gesinnung entsprechen muss, die  jene vorbereiten und begleiten”, wie Rosa Luxemburg in einer ihrer Schriften festhielt.

Es war eine Zeit, in der die Frauen gegen diese Praxis aufstanden und ihr, obwohl sie keine politischen Rechte hatten, eine andere Praxis entgegenstellten, eine politische Pra­xis ohne institutionalisierte Macht: Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Inter­nationale Friedensdemonstration der Frauen statt, zu der sich Frauen aus allen Ländern Europas (auch aus der Schweiz), aus England und Amerika, ja selbst aus Brasilien, Au­stralien, Britisch-Indien und Japan zusammengeschlossen hatten. Am gleichen Tag ver­anstalteten Frauenorganisationen überall in der Welt Kundgebungen gegen Militarismus und Krieg, gegen Menschenverachtung und Minderheitenunterdrückung – für den Frie­den. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung im damaligen Russland, obwohl die zaristische Polizei öffentliche politische Veranstaltungen, insbesondere solche von Frauen, unter Strafe verboten hatte. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an jenem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich über 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an. Auch in der Schweiz waren die Frauen zahlreich, die gegen Rechtlosigkeit und Elend kämpf­ten, die das politische System, wie es war, zu verändern suchten. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, waren religiös oder nicht religiös. katholisch, reformiert oder jüdisch, waren Bürgerliche, Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete, sie stammten von Genf, aus dem Waadtland, aus Neuen­burg, Bern, Zürich, aus dem Aargau, von Bern, aus Graubünden – aus den verschieden­sten Gegenden, nur nicht von Zug. Bei meinen Recherchen nach Frauen aus Zug, die vor oder zur Zeit der Entstehung der kantonalen Verfassung, aus dem Widerstand gegen den Nichteinbezug in die politische Praxis und aus dem Wissen, was politische Praxis sein sollte, als selbstverantwortliche Rebellinnen das Wagnis der Freiheit vorgelebt und Spu­ren hinterlassen hätten, stiess ich auf keine. Ich stiess wohl auf  bedeutende Frauen, ge­wiss, auch auf eigenwillige Frauen, etwa auf Elise Sidler und Josefine Stadlin, die in den vierziger Jahren die ersten Hörerinnen an der neu gegründeten Zürcher Universität gewe­sen waren, wobei Josefine Stadlin (Zehnder-Stadlin) sich später als Schulgründerin und -leiterin einen Namen machte, oder Lisetta Ruepp Uttinger, eine Pestalozzischülerin und selbst eine bedeutende Erzieherin, sodann die vielleicht berühmtesten Zugerinnen jener Zeit, Adelheid Page-Schwerzmann, die sich als Unternehmerin um gerechte Lohn- und Arbeitsverhältnisse ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen und um Heilungsstätten für die da­mals zahlreichen Tuberkulosekranken kümmerte, und Isabella Kaiser, die französisch- und deutschschreibende Schriftstellerin, vor allem stiess ich auf mehrere bedeutende Or­densfrauen, unter denen mir Maria Salesia Strickler besonderen Eindruck machte, die als 16jährige in den Orden von Menzingen eintrat, mit 21 schon Oberin und mit 29 Jahren Generaloberin war, die eine Vielzahl von Schulen, Ordensniederlassungen und Missions­häusern gründete und 1898, mit 64 Jahren, starb, eine Frau der Tat, zweifelsohne, die innerhalb ihrer Institution grosse persönliche Stärke und Autorität entwickeln konnte, die sich aber der patriarchalen Herrschaft, für welche gerade Frauenklöster ein ungebroche­nes Beispiel darstellen, beugte, so wie alle diese Frauen aus Zug, die entweder allein oder mit dem Rückhalt einer grossen und mächtigen Institution soziale Verbesserungen anstrebten, die jedoch alle das System, wie es war, akzeptierten.

Zug  konstituierte sich als Kanton mit der nicht hinterfragten Vorherrschaft von Bürger­tum und Kirche, in einer ständischen Koalition, die zwar durch die Einführung des Pro­porzes ein offenes, demokratisch weitsichtiges und kluges Machtverständnis bewies, die aber auf Erhaltung gerade auch dieser Koalition bedacht war.  Doch selbst in Zug ist Macht nicht etwas Unveränderliches, sondern ein Potential, das die Impulse des Behar­rens zu durchbrechen und zu erweitern imstande ist. Wenn Freiheit heisst, einen Neuan­fang setzen, so gilt dieser Freiheitsbegriff auch für Zug. Nachdem 1971 auf Bundesebene endlich das Frauenstimmrecht und zehn Jahre später in der Bundesverfassung der Gleich­stellungsartikel eingeführt wurde, ging es nochmals fast zehn Jahre, bis die Gleichstel­lung der Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz auch Eingang in die Zuger Kantons­verfassung fand, das heisst bis die Änderung von Artikel 5 der kantonalen Verfassung mit der Volksabstimmung vom 2. Dezember 1990 beschlossen wurde. Seither sind Frauen auch in den staatlichen Organen vertreten, wenn auch noch lange nicht im Sinn des Proporz.

Wie verhält es sich nun mit der Frage nach der Souveränität? Können sich seit 1990 die handelnden Organe des Kantons Zugs statt auf ein “Windei” auf eine lebendige “Gesamtheit” abstützen, jetzt, wo auch die Frauen das Stimm- und Wahlrecht haben? Doch ist damit tatsächlich die “Gesamtheit” erfasst? Wie verhält es sich mit der politi­schen Partizipation jenes – ausländischen – Teils der Bevölkerung, der zum Teil seit Jah­ren, ja seit Jahrzehnten hier lebt, zumeist durch Arbeit und Steuern zum wirtschaftlichen Gedeihen beiträgt, jedoch keine politischen Rechte geniesst? Und nochmals muss die Frage gestellt werden, was “Gesamtheit” heisst, angesichts der ständig abnehmenden Partizipation an den politischen Geschäften, die sich sowohl bei der Meinungsbildung und der damit verbundenen Informationspflicht wie bei den Urnengängen zeigt, auch wenn in Zug die Stimmbeteiligung, gemessen am eidgenössischen Durchschnitt, noch relativ hoch ist? -was “Gesamtheit” heisst,  angesichts der Marginalisierung einer zu­nehmend wachsenden Anzahl von Jugendlichen, von Frauen und Männern, die im er­barmungslosen Wettbewerb nicht mithalten können, die arbeitslos sind und verarmen? Bedeutet “Gesamtheit” letztlich die Gesamtheit derjenigen, die sich für das Gemeinwesen interessieren oder die dafür noch Kapazität an Energie und Zeit haben, wie wenig zahl­reich diese auch seien? Aber wie erklärt sich überhaupt der herrschende Missstand der mangelnden Partizipation? Dürfen Antworten wie “Staatsverdrossenheit” oder “Überforderung” genügen?

Nachdem nicht mehr hauptsächlich formale Kriterien – insbesondere der Ausschluss der Frauen, das heisst der Hälfte der Bevölkerung – für eine eventuell fragwürdige, wenn nicht gar ungenügende Machtlegitimation namhaft gemacht werden können, muss die Frage nach den Inhalten des Politischen gestellt werden und damit  nach dem Sinn des Politischen. Dies betrifft die Zusammenhänge dessen, was als “Staatsverdrossenheit”, als Indifferenz den Formen und Aufgaben des Zusammenlebens gegenüber, erscheint. Und es muss die Frage nach der Befähigung zur Partizipation neu gestellt werden, auch wenn diese Frage in der Demokratie ungern gestellt wird, da sie sich quasi durch die Tatsache der Demokratie zu erübrigen scheint.

Der Sinn des Politischen besteht in der vorweg zu erfüllenden Aufgabe, die Bedürfnisse des Zusammenlebens zu erfüllen, das heisst diejenigen Bedürfnisse, die alle Menschen empfinden, die zusammenleben und die für die Bedürfniserfüllung aufeinander angewie­sen sind, unabhängig davon, ob es Einheimische oder Fremde seien, Kinder, Erwachsene oder alte Menschen, Gesunde oder Kranke, oder ob es an materiellen Gütern oder an Bildung Privilegierte oder weniger Privilegierte seien. Die Bedürfnisse des Zusammenle­bens können sich auch die privilegiertesten Menschen nicht allein erfüllen. Das grundle­gendste Bedürfnis betrifft den Respekt vor der personalen Würde. Dieses scheinbar so grosse Wort meint auch etwas Grosses, das aber zugleich so schwer erfassbar und fragil ist, dass es eigentlich nur wahrgenommen werden kann, wenn es zerstört ist oder wenn es unerfüllt bleibt. Das nicht erfüllte oder missachtete Bedürfnis nach Respekt vor der personalen Würde, jede Art von personalem Missbrauch, von systematischer Demüti­gung, von unentrinnbarer Abhängigkeit wird als existentielles Unglück erfahren, auch dies wiederum unabhängig von den übrigen partikulären Bedingungen des Lebens, wobei bestimmte Bedingungen  – etwa extreme Armut, langanhaltende Arbeitslosigkeit oder Rechtlosigkeit, wie sie zum Beispiel Asylsuchende und Flüchtlinge empfinden – an sich schon entwürdigend sind.

Der Sinn des Politischen ist es, durch die Schaffung und Anwendung gerechter Gesetze Unrecht zu verhindern, damit für alle Menschen, die zuzsammenleben, ein Raum des Wohlbefindens entsteht, der dem entspricht, was die Griechen “eudaimonia” genannt ha­ben: Glück – nicht als Utopie, sondern als vorweg zu lebende Praxis. Ich denke, dass al­lein in diesem Raum der Zweck des Politischen, das, was über die aktuellen Zusammen­hänge hinausweist, nämlich die ständige Erhaltung und Erneuerung der Freiheit, erreicht werden kann, dass andererseits Entwicklungen hin zu personaler Gewalt, zu Gesetzes­missbrauch und zu Kriminalität Folgen systematischer Missachtung dieses Grundbedürf­nisses sind, Folgen, die sich wiederum unweigerlich auf das kollektive Wohlbefinden auswirken. Dieses wird zweifelsohne auch durch Entwicklungen beeinträchtigt, die das Verhältnis zwischen bäuerlicher und handwerklicher Arbeit einerseits und Dienstlei­stungsbetrieben andererseits auf Kosten des ersten und zweiten Sektors unmässig ver­schieben, die die Bedeutung des ersten und zweiten Sektors auf kurzsichtige Weise miss­achten, die den Wert der körperlichen Arbeit herabsetzen. Dieses wird ebenso beein­trächtigt durch Entwicklungen, die die Natur zerstören. Die tatsächliche, die effektive Handlungsfähigkeit der staatlichen Organe misst sich letztlich am Mass, in dem die grundlegenden Bedürfnisse der Vielen, die zusammenleben, erfüllt werden.

Was aber befähigt die Vielen, die zusammenleben, zur Demokratie, das heisst zur Parti­zipation an der Ausübung der Souveränitatsrechte und an deren Übertragung auf Frauen und Männer, die wiederum als fähig erachtet werden, stellvertretend fürs ganze Volk die politischen Geschäfte auszuüben? Was ist das für ein Talent, das die Menschen demo­kratiefähig macht? – das heisst, das sie befähigt, die eigenen partikulären Interessen hintan zu stellen und diejenigen Interessen als vorrangig zu werten, die dem Wohl – dem Wohlbefinden – der Vielen gerecht werden? Kant hatte sich lange Zeit mit dieser Frage beschäftigt, die für ihn das Phaenomen der “Geselligkeit” erklären sollte, und er kam zum Schluss, dass es ein Talent ist, das “gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will” und das er als Urteilskraft bezeichnet. Die Urteilskraft befähigt, eine allgemeine Regel auf das Besondere anzuwenden, respektive das Besondere, das einen Entscheid und ein bestimmtes Handeln erfordert, mit einer übergeordneten Regel zu verknüpfen. Wie soll denn dieses Talent, diese Fähigkeit zum Leben in der Gemeinschaft, geübt werden? – ist es doch, laut Kant, “nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauch (der Urteilskraft) jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen”. Wie lässt sich denn dieser “Mangel” vermeiden?

Ich denke, dass zur Erlangung und Stärkung der Urteilskraft eine in frühester Kindheit beginnende, ein Leben lang nicht abbrechende Einübung in den Widerspruchsreichtum des menschlichen Zusammenlebens, in das begründete Ja- und Neinsagen, in Einstim­mung und in Differenz nötig sind, dass nur aus dieser Übung heraus sowohl Willkür des Handelns wie nicht begründbares Mitläufertum oder resigniertes Beiseitestehen vermie­den werden können. Die Heranbildung der Urteilskraft ist somit in erster Linie eine Er­ziehugnsaufgabe, die in den Familien wie auf allen Schulstufen zu üben ist, die in den Arbeits- und Anstellungszusammenhängen ihren Platz haben muss, die das unverzichtba­re Salz des politischen Lebens sein muss. Die Urteilskraft ist Voraussetzung wie Resultat der Freiheit, dieser kostbarsten “Unvolkommenheit”, die Voraussetzung und Garantie von Neubeginn und Fortschritt im Zusammenleben ist, Voraussetzung und Garantie da­für, dass der Souverän die ihm in der Verfassung verbrieften Souveränitätsrechte tat­sächlich wahrnehmen kann.

Ich könnte mir vorstellen, dass Zug, getreu der Avantgarde-Rolle, die dieser kleine Kan­ton 1894 im gesamteidgenössischen Umfeld mit der Einführung des Proporzes ausgeübt hat, auch heute für die Schweiz in Fragen, die einer innovativen Lösung bedürfen, rich­tungweisend sein könnte, zum Beispiel in Bezug auf einen proportionalen Ausgleich be­züglich der Lasten, die im Gebiet der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, von Vere­lendung und Verwahrlosung vor allem auf den grossen Städten liegen, oder bezüglich der an diesem Wochenende zur Abstimmung vorliegenden erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer, die hier geboren sind, oder bezüglich der besseren Inte­gration – statt der stärkeren Marginalisierung – von Flüchtlingen, oder bezüglich der stärkeren Veranwortung für die Länder des Armutsgürtels der Welt, etwa in Form einer über Jahre zu realisierenden Partnerschaft, die im Rahmen europäischer Übereinkünfte nicht zum Zweck der Abschottung Europas, sondern zum Zweck der Partizipation mit dem – unglücklicheren – Rest der Welt zustandekommen müsste.

Doch es sind nicht die Vertreterinnen und Vertreter der staatlichen Organe allein, die diese Avantgarde-Rolle wahrnehmen können. Die Frage nach der Handlungsfähigkeit der staatlichen Organe lässt sich, wie dies deutlich wurde, nur im Rekurs auf die politische Handlungskompetenz des Souveräns beantworten, das heisst derjenigen Menschen, die zusammenleben, die auf Grund dieser Tatsache Rechte und Pflichten haben, die in die­sem Zusammenleben alle aufeinander angewiesen sind, damit die Komplexität der zu lö­senden Aufgaben nicht auf Experten abgeschoben wird und zur Selbstentmündigung der zum Handeln befugten Menschen führt, sondern im Sinn eines demokratischen Macht­verständnisses von allen getragen und verantwortet werden kann, als gemeinsame Ver­antwortung für das Wohlbefinden derjenigen Menschen, die auch künftig zusammenleben werden – eine ökologische und soziale Verantwortung, die unabschliessbar ist, die aber zugleich das Glück und die Chance des politischen Handelns heute ist.

 

Write a Reply or Comment