Väterliche Erbschaften – Wie gehen Söhne und Töchter damit um?

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Väterliche Erbschaften[1]

Wie gehen Söhne und Töchter damit um?

 

“In allem meinem Denken stand ich unter Deinem schweren Druck”, heisst es in Franz Kafkas “Brief an den Vater”, der nie an diesen gelangte. Kritik und Klage standen dem Sohn nicht zu, das Gefühl von Schuld, von Ungenügen und Versäumnis, von noch mehr Schuld zermalmten ihn. Doch richtete sich die Klage tatsächlich an den Vater? Oder brauchte Kafka den Vater als Projektionsobjekt für die Übervater, den göttlichen Vater, den als leidender Sohn anzuklagen seit Hiob und Jesus nur wenige gewagt haben? Ist die väterliche Erbschaft tatsächlich Ursache fortgesetzten Leidens? Bei René Char findet sich in seinen Aphorismen, dass “unserer Erbschaft keinerlei Testament vorausgegangen ist”, es liege an uns Menschen, damit umzugehen: ein Bekenntnis zur Akzeptanz der nicht wählbaren Herkunftsgeschichte und zur eigenen Verantwortung in deren Gestaltung, das auf Hannah Arendt einen massgeblichen Einfluss ausübte, als sie mit ihrer Geschichte in Einklang zu kommen suchte.

Nachdem während Jahren die Mutter-Tochter- und Mutter-Sohnbeziehung im Mittelpunkt meiner philosophischen und psychoanalytischen Untersuchungen stand, entschloss ich mich, mich näher mit der Vater-Sohnbeziehung – auch der Vater-Tochter-Beziehung –zu befassen. Eine knappe Auswahl aus der Arbeit eines ganzen Semesters liegt hier vor, die sich mit Sigmund Freud, Franz Kafka, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Simone Weil befasst hat. Jeder Vater ist Sohn eines Vaters, der auf den Sohn und dieser auf den nächsten ein Tabu hierarchischer Macht überträgt, ob er präsent sei oder ob er fehle. Was über älteste Mythologie in der abendländischen Kultur mit der Schöpfungsmacht des göttlichen Urvaters begann, setzte sich innerhalb der patriarchalen Strukturen in der Wiederholung von Gehorsamsforderung und Strafe, von Rache und Ohnmacht, von Mangel und Verherrlichung oder von einer anderen, eventuell tatsächlich schöpferischen Entwicklung fort.

Doch wie und warum? Wie viel Angst und hemmende Unterdrückung oder wie viel Ansporn, Widerstand und letztlich Freiheit verbindet sich mit dem Tabu gegenüber väterlicher Macht oder Gewalt, die als väterliche Liebe erklärt wird? Was geht mit der Infragestellung des Tabus einher? Wie wird der mangelnde Vater erlebt? Wie wirkt sich die Vaterbeziehung in der Beziehung zum eigenen Ich aus,  in der Beziehung zur Mutter und zu weiteren Familienmitgliedern? Wie wirkt sie sich in anderen Beziehungen aus, die durch hierarchische Strukturen bestimmt werden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der individuellen Vaterbeziehung und kollektiven Entwicklungen, in welche der einzelne Mensch eingebunden ist? Warum sind Vertrauen, Zuversicht und Freiheit eine seltene Tatsache? Wir werden auf die Frage eingehen.

 

Vorspann

Der eigene Vater? In der Kindheit erschien er unerreichbar, gross und fern, unantastbar und fremd, auf merkwürdig Weise beinah gottähnlich. Angetastet wurde das Gottähnliche, wenngleich mit Herzklopfen, schon in den Kinderjahren durch Fragen, die offen blieben. Was „Vater“ in seiner Unerreichbarkeit bedeutete, das deckte sich mit „Vater“ in den Gebeten, Gottvater, Vater, die von Erwachsenen ausgesprochen und dem Kind gelehrt wurden. Wer war gemeint? Wie war die gleiche Bezeichnung zu verstehen? Besondere Ehrfurcht war gefordert, doch warum? Weil der Vater unerreichbar war? Es gab in der Kindheit auf meine Fragen nur die eine Antwort: „Weil es so ist“. Durfte somit nicht hinterfragbar sein, was nicht erreichbar war? Was als Gebot erklärt wurde, war das Gebot zu glauben. Kein Gebot konnte jedoch Neugier und Wissenshunger stillen. Was bedeuteten Worte? Wie viel Zweifel an Worten war erlaubt?

Wichtig schien mir, mein Fragen ob der unbefriedigenden Antworten nicht verstummen zu lassen. Auch dies war nicht leicht. Gewissensbisse bauten sich auf, sie mussten ertragen werden, ein merkwürdiges Wagnis. Die Ursachen leuchteten nicht ein, die Folgen – vage Androhungen, die mit Unbestimmtem und Unbekanntem zu tun hatten – ebenso wenig, doch sie weckten beklemmende Gefühle.

Was mit dem Kindheitsempfinden einhergegangen war, liess sich in der Gymnasiumszeit mit Erstaunen teilweise erklären, als die Bedeutung des griechischen „hieros“ (heilig) und ebenso jene von „arche“ (Herrschaft) zum Lernprogramm gehörten und die Bedeutung des Wortes Hierarchie – der väterlichen und gottväterlichen Herrschaft – im Wortkleid durchschaubar wurde, wenngleich in ihrem Inhalt weiterhin unantastbar blieb.

Näher erschien mir der Vater meines Vaters, wortlos zurückversetzt hinter seinen Sohn, machtlos und trotzdem nicht ohnmächtig. Keine Ähnlichkeit bestand zwischen ihnen. Eine lange Reise war erfordert, um die örtliche Distanz zu überwinden. Bei den väterlichen Grosseltern verbrachte ich viele Kindheitswochen. Frühmorgens vor Sonnenaufgang und abends nach Sonnenuntergang, wenn meine Schlafzeit begann im kleinen Hinterhofraum, der angehängt war ans Schlafzimmer der Grosseltern, sprach der Grossvater seufzend immer das gleiche Gebet wie ein Kindergedicht, mehr nicht. Fähig war er, wilde Bäume in fruchttragende Bäume zu verwandeln, in ruhigem Rhythmus schnitt er Gras und Korn, stand sicher auf hohen Leitern und pflückte Kirschen oder Mirabellen und Birnen, die nirgendwo besser gediehen als unter seiner Hand. Unter einzelnen Bäumen hatte er eine Bank gebaut. Auf dieser Bank neben ihm wortlos zu sitzen und über die Baumkronen und Wiesen hinweg in die hügelige Weite des Elsass zu blicken, löste ein nicht benennbares Gefühl aus, ein Glücksgefühl, ein Gefühl von Zeitlosigkeit.

Erkundungshunger und Wissensdurst hatten hohe Preise: schrittweise Erfahrungen, ständige Neugier und Sehnsucht, Denkanstösse und Enttäuschungen, das Glück, die Last von Schuld  und wachsender Verantwortung, dunkle Zeiten, helle Momente. Die sokratische Bedeutung von „eros“ ging mit allem Erkunden einher, geht weiter damit einher. Spät im Leben, nach dem plötzlichen Tod der Mutter, waren Auseinandersetzungen mit dem alt gewordenen Vater möglich. Die innere Freiheit war erstarkt.  Das Gewesene und Vergangene war wohl noch zu benennen und zu erfragen, doch gleichzeitig zu akzeptieren. Und das Gegenwärtige und Zukünftige? – es war von seiner Seite her nicht mehr zu gebieten noch zu verbieten, sondern ebenfalls zu akzeptieren. Kam eine Gleichheit im Wagnis des Nichtwissens zustande? Von Vaters Seite her unmöglich, auch als Vater blieb er Sohn des Vaters, des allmächtig wissenden und strafenden, göttlichen Jenseitsvaters, dessen er in einer nicht hinterfragbaren Notwendigkeit des Glaubens bedurfte; meinerseits möglich als Hoffnung – eine Neugier in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitige, im Zeitlosen -, die sich mit dem Ordnungskonstrukt von Raum und Zeit als Methode der eigenen Lebensordnung zunehmend weniger beschränken oder verwirren liess.

War ich vaterlos geworden? Das war / ist nicht möglich, auch nicht nach dem Tod des Vaters. Ein vaterloses Wesen würde zum Konstrukt. Das Gegenteil war der Fall: eine andere Art von Nähe und Dankbarkeit setzte ein, damit einhergehend, ohne bewusste Absicht, von Verstehen, Verzeihen und Vertrauen.

So setzte sich die Erkundungssuche nach den Vatergeschichten und Muttergeschichten fort, rückwärtsschauend die transgenerationelle Geschichte erforschend, in welche hinein wir versetzt wurden und mit welcher wir vernetzt bleiben, um vorwärtsschauend furchtlos zu werden. Mit zunehmender Gewissheit verdeutlichte sich die geheimnisvolle Kraft des Lebens als tragende Verbindung zwischen dem eigenen Erdendasein und jenem der Kinder und Grosskinder wie jenem der dahingegangen Generationen und den weiten, zwischenmenschlichen Verbindungen. In ihrer grossen,  doppelgeschlechtlichen Bedeutung sowohl im körperlich wie geistig Kreativen ist es die Wirkungskraft von Überlebenskraft und Denken, von Empfinden und Tun, von Bedürfnissen und Zielsetzungen, von Beziehungswillen, Freiheit und Verantwortung, die als gemeinsame Erbschaft zu überzeugen begann.

Doch ist dieser Erbschaft  ein Testament vorausgegangen? Die Frage wird von Religionen und Ideologien unterschiedlich beantwortet und wird auch von den einzelnen Menschen unterschiedlich gedeutet, als Glaube und Glaubensverpflichtung oder als Wagnis des Nichtwissens und der je eigenen Suche nach Sinn, auch als schwierige und häufig leidvolle, nicht erfüllbare Verpflichtung, wie noch das letzte Gespräch mit meinem alten Vater verdeutlichte. Welche Gebote stellen das Testament dar? Dürfen Gebote nicht erfüllt werden? Oder gibt es persönliche Wahlmöglichkeiten in deren Erfüllung? Wie damals stellt sich erneut die Frage, was in Frage gestellt werden darf. Sicher erscheint mir, dass Verstehen und  Vergeben der Schlüssel für Entscheiden und Handeln sind,  zu „Tat und Freiheit“, wie Hannah Arendt mehrmals festhielt, damit zur inneren Sicherheit, dass Fragen und Hinterfragen nicht zu fürchten war.

Die Kernfragen jüdischer und ebenso christlicher väterlicher Erbschaft finden sich in den Berichten aus der Urzeitgeschichte, wie sie in Zusammenhang der babylonischen Exilgeschichte und der damit einhergehenden Ängste um den persönlichen Wert aufgezeichnet, immer wieder nacherzählt und nachgezeichnet wurden, bis zu den jüngsten Übersetzungen, aus welchen ich die mehrmals neu bearbeitete Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig auswählte[2]:

„ER, Gott, sprach: Da, der Mensch ist geworden wie einer im Erkennen von Gut und Böse.

Und nun könnte er gar seine Hand ausschicken und auch vom Baum des Lebens nehmen und essen und in Weltzeit leben. (…)

Der Mensch erkannte Chawwa sein Weib, sie wurde schwanger, und sie gebar den Kajin. Da sprach sie: Kaniti – erworben habe ich mit IHM einen Mann. Sie fuhr fort zu gebären, seinen Bruder, den Habel. (…)

Nach Verlauf der Tage wars, Kajin brachte von der Frucht des Ackers IHM eine Spende, und auch Habel brachte von den Erstlingen seiner Schafe, von ihrem Fett.

ER achtete auf Habel und seine Spende, auf Kajin und seine Spende achtete er nicht.

Da entflammte Kajin sehr, und sein Antlitz fiel.

ER sprach zu Kajin: Warum entflammt es dich? Warum ist dein Antlitz gefallen? Ist es nicht so: meinst du Gutes, trags hoch, meinst du nichts Gutes aber: vorm Einlass Sünde, ein Lagerer, nach dir seine Begier – du aber walte ihm ob.

Kajin sprach zu Habel, seinem Bruder. Aber dann wars, als sie auf dem Felde waren: Kajin stand auf wider Habel seinen Bruder und tötete ihn. (…)

Und ER legte Kajin ein Zeichen an, dass ihn unerschlagen lasse, allwer ihn fände.

Kajin zog von SEINEM Antlitz hinweg und er wurde sesshaft in Lande Nod, Schweife, östlich von Eden.

Kajin erkannte sein Weib, sie wurde schwanger und gebar den Chanoch. (…)

Dem Chanoch wurde Irad geboren,

Irad zeugte Mechujael,

Mechujael zeugte Metuschael,

Metuschael zeugte Lamech.

Lamech nahm sich zwei Weiber, der Name der einen war Ada, der Name der zweiten Zilla.

Ada gebar den Jabal, der wurde Besitzer von Zelt und Herde.

Der Name seines Bruder war Jubal, der wurde Vater aller Spieler auf Harfe und Flöte.

Und auch Zilla gebar, den Tubal-Kajin, Schärfer allerlei Schneide aus Erz und Eisen.

Tubal-Kajins Schwester war Naama.

Lamech sprach zu seinen Weibern: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, Weiber Lamechs , lauscht meinem Spruch: Ja, einen Mann töt ich auf eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme!

Ja, siebenfach wird Kajin geahndet, aber siebenundsiebzigfach Lamech!

Adam erkannte nochmals sein Weib, und sie gebar einen Sohn.

Sie rief seinen Namen: Schet, Setzling! (…)

Auch Schet wurde ein Sohn geboren, er rief seinen Namen Enosch, Menschlein.

Damals begann man den NAMEN auszurufen..

Dies ist die Urkunde der Zeugungen Adams, des Menschen. (…)

Als Adam hundertunddreissig Jahre gelebt hatte, zeugte er in seinem Gleichnis nach seinem Bild und rief ihn mit dem Namen Schet. (…)

Als Schet hundert und fünf Jahre gelebt hatte, zeugte er Enosch. (…)

Als Enosch neunzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Kenan. (…)

Als Kenan siebzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Mahalalel. (…)

Als Mahalalel sechzig und fünf Jahre gelebt hatte, zeugte er Jared. (…)

Als Jared hundert und zweiundsechzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Chanoch. (…)

Als Chanoch fünfundsechzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Metuschalach. (…)

Als Metuschalach hundert und siebenundachtzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Lamech. (…)

Als Lamech hundert und zweiundachtzig Jahre gelebt hatte, zeugte er einen Sohn.

Er rief seinen Namen: Noach! – sprechend „Se jenachmenu“ – Dieser wird uns leidtrösten

In unserem Tun und der Beschwernis unserer Hände an dem Acker, den ER verflucht hat.

Und nach Noachs Erzeugung lebte Lamech fünfhundert und fünfundneunzig Jahre,

er zeugte Söhne und Töchter. (…)

Als Noach fünfhundert Jahre alt war,

zeugte Noach den Schem, den Cham und den Jafet. (…).“

Die Erzählung setzt fort mit der Urkatastrophe, jener als Strafe für das menschliche Verhalten geschilderten Überflutung der Erde, welche allein Noach und seine Sippe sowie je ein Paar aller pflanzlichen und animalischen Geschöpfe überlebten. Und es geht weiter mit der Zeugungsgeschichte der Söhne und deren Söhne. Wer kann genügen? Die Namen füllen die Seiten, bis zu Tarach, einem der Nachkommen Schems, der als ersten Sohn Abram zeugte. Und auch mit Abram geht die Geschichte der Söhne und deren Frauen und der Mägde der Frauen weiter, die immer nur Erwähnung finden, wenn sie Söhne gebären, die als gute oder als böse Stammesväter weiter die Geschichte fortsetzten, bis zu einem der Söhne Jizchaks, zu Jaakov, der zwölf Söhne hatte, die ihm die Töchter Labans, seine zwei Frauen Lea und Rahel sowie deren Mägde  Bilha und Silpa geboren hatten. Und weiter geht die Geschichte mit jener dieser Söhne, die sich unter einander verfeindeten, da sie sich von ihrem Vater ungleich geliebt fühlten, sodass einer der Söhne Rahels, Joszef, von den Brüdern in einen Brunnen versenkt wurde, jedoch von Händlern aus Midjan gefunden, aus dem Loch herausgeholt und an Pozifar, einen Höfling des ägyptischen Pharao, verkauft wurde, worauf die Geschichte Joszefs zur generationenübergreifenden Vatergeschichte in Ägypten wurde, wo der Stamm leben und stark werden konnte, bis der ägyptische Pharao dieses sich bei ihm vermehrende, von Jaakovs Sohn Joszef und dessen Brüdern abstammende ebräische Volk als Bedrohung empfand und deren Geburtshelferinnen gebot, allein die Töchter am Leben zu lassen und die Söhne zu töten. Da diese sich nicht an das Gebot hielten und es wagten, auch die Söhne am Leben zu lassen, wurde einer der Söhne, im Schilf in einem Kästlein aus Papyrusrohr versteckt, von einer Magd von Pharaos Tochter gefunden, von dieser gerettet und Moshe/Moses genannt, „der hervortauchen lässt“[3].

Die Fortsetzung der Jakob-Josef-Moses-Geschichte ist die Fortsetzung väterlicher Erbschaft, es ist die jüdische Geschichte von Schem, Cham und Jafet, der Söhne, die Söhne blieben und zugleich Väter wurden, einer Erbschaft, die in der jüdischen Geschichte erhalten blieb und die zugleich in die Jesusgeschichte hineinreicht sowie in jene von Muhammad, die in allen drei monotheistischen Religionen weiter- und weiterreicht. Mit dieser Geschichte einher gingen die hierarchischen Konflikte der völkerübergreifenden Verwandtschaften, neue Religionen, die sich von den ursprünglichen abspalteten, die sich auf die selben Urväter, jedoch auf die wahren Söhne beriefen. Aus dem je einseitigen Beharren auf der alleinrichtigen, alleinwahren  Umsetzung oder Fortsetzung des Testaments erwuchsen Feindseligkeiten, die in hass- und rachegeprägte Kriege mündeten, in kollektive Sehnsüchte sowie in ungezählte, sich über Generationen fortsetzende Familiengeschichten.

Ebenso entstand daraus die versengende Suche nach Klarheit – an Stelle verkündeter Wahrheit -, die immer wieder Aussenseitertum und Enterbung bewirkte. Findet sich hier die Ursache für die Erschwernisse, eine Deutungsmöglichkeit für den anwachsenden Mythos der geheimnisvollen, göttlichen Herkunft Jesu als Ewigen Sohn zu finden, dem in seiner jüdischen Herkunft die menschliche Vaterschaft abgesprochen wurde, von seiner Mutter „jungfräulich empfangen“ und so auch der eigenen Sohn- und Vaterschaft entmündigt?

Jesu Aufbegehren gegen hierarchische Macht und Gewalt, sein offenes, furchtloses Eintreten für gleichen menschlichen Lebenswert und gleiches Recht auf Respekt, ja auf Liebe und Verzeihen, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, bewegte Massen von Menschen und entsetzte die rabbinische Herrschaft ebenso wie die römische Besetzungsmacht. Gefangennahme, Folter und Tötung, deren Nachwirkungen mit nicht endender Anhänglichkeit und Trauer sowie mit nicht endender Fortsetzung von Rache bis heute andauern, stellen neue Fragen. Nichts ist sinnloser als nicht endende Gewalt.

Wurde Jesus durch seine Absage an jegliche Gewalt zum zeitlosen, gottähnlichen Bruder oder Geliebten? – auch zu einem geheimen Vater, einem anderen Vater? – einem göttlichen Wahlvater? Setzte sich über Jahrhunderte fort, was durch die Erzählungen und Berichte der ersten Anhänger, Freunde und Freundinnen einerseits zu einer Verpflichtung oder Sehnsucht wurde, andererseits jedoch  für ein neues, hierarchisch-patriarchales Ordnungs- und Machtgefüge benutzt wurde, in Rivalisierung sowohl mit dem jüdischen wie mit dem römischen?

Wie verbinden sich die Fragen im testamentarischen Rückwärtsblick mit der Gestalt von Moses? Lassen sich mit Moses die Fragen bezüglich der Herkunftsväter verknüpfen und mit Jesus jene bezüglich der Wahlväter? Es sind  Fragen, die seit Jahrhunderten sowohl mit tiefen Sehnsüchten wie mit einem mächtigen Verbot, sie zu berühren – mit einem Tabu – verbunden waren.[4]

Als Sigmund Freud bereit war, Moses’ Herkunftsgeschichte aus dem Tabu zu befreien, mit analytischer Akribie sogar dessen hebräische Vaterschaft in Frage zu stellen und die Annahme der ägyptischen zu bekunden, stand er selber dem Tode nahe [5], in seinem Streben nach persönlicher Vaterschaft geliebt, vielfach bewundert und angefeindet – sowohl der innerfamiliären, der für seine drei Söhne und drei Töchter aus der Ehe mit Martha Bernays nicht wählbaren Vaterschaft  wie der emotional vielschichtigen Vaterschaft, die von seinen Schülern und Nachfolgerinnen selber gewählt worden war. (Insbesondere jener von Arnold Zweig widmete ich eine eingehende Untersuchung).

Die Fragen rings um die Bedeutung des „Tabu“ hatte Freud über dreissig Jahre vorher aufgegriffen, jedoch nicht gewagt, das religiöse Tabu, dieses „uralte Verbot, von aussen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste des Menschen gerichtet“ [6],  durch kritisches Hinterfragen der verdrängten und neu überlieferten, übertuschten Zusammenhänge um die Moses-Geschichte offen zu berühren. Am nächsten stand ihm damals nicht Martha, seine Frau, sondern seine „Antigone“, wie er sie nannte, die jüngste Tochter Anna, die den Vater mit seinen körperlichen Leidensbelastungen zu entlasten trachtete, die ihn pflegte, begleitete und nach Aussen seine Stellvertreterin war,  kurz, die die väterliche Erbschaft teilweise mit den ihr zustehenden Wahlmöglichkeiten, jedoch in erster Linie mit einem verpflichtenden Testament verband. Ferner waren es einige der wenigen Wahlbrüder oder Wahlsöhne, die sich nicht gegen den mächtigen, mosesähnlichen Vater Freud erhoben hatten wie die meisten in der „Urhorde“ der „Wiener Vereinigung“ der Psychoanalyse[7]. Als seine loyalen Nachfolger in Wien resp. in Kanada konnten noch Ludwig Binswanger und Oskar Pfister in Zürich sowie Karl Abraham und Ernest Jones gelten. Arnold Zweig, der ihn als „geliebten Vater“ ansprach und mit welchem Freud vor allem in der Endfassung seiner Moses-Bearbeitung einen nahen Austausch hatte, verdeutlicht die Entstehungszusammenhänge einer Wahlvaterschaft in deren Dringlichkeit und Brüchigkeit.

Die jüdische mosaische Vatergeschichte sowie – in der Fortsetzung und religiösen Abspaltung – die auf Jesus bezogene Geschichte der göttlichen Vaterschaft, damit der Abwendung von der menschlichen Vaterschaft, die damit verbundene Ferne und Vergeistigung der väterlichen Zugehörigkeit, die Vaterlosigkeit oder die geheime Vaterschaft und Wahlvaterschaft gehören mit dem Tabu gegenüber deren Erbschaft zu den kulturellen Beständen, welche die Entwicklung  unserer Hemisphäre beherrschten und weiter beherrschen. Eine der grossen Differenzen zwischen den jüdischen und den christlichen besteht in der einerseits genetisch, andererseits glaubensmässig begründeten Nichtantastbarkeit der väterlichen Erbschaft. Zwar war während Jahrhunderten, unabhängig von Herkunft- und Religionszugehörigkeit, letztlich allein die mütterliche Herkunft eine Sicherheit – „mater semper certa est“ -, während für die Vaterschaft die offizielle Bestätigung bei der Geburt, häufig die Namensbestätigung erfordert war resp. noch immer ist.

Trotz aller kulturellen und technischen Fortschritte – bis zu den DNA-Überprüfungen – bleiben die Fragen der Identität und des persönlichen Wertes jedes Menschen mit den Mutter- und Vatergeschichten verbunden, ob sie bekannt seien oder nicht.

Die patriarchale Macht, welche die ganze westliche Geschichte prägte, war letztlich auf der in allen drei monotheistischen Religionen verankerten männlichen Zeugungs- resp.  Schöpfungspotenz aufgebaut, die als göttliche Allmacht und Weltherrschaft verstanden wurde. Die tragende matriarchale Kraft blieb eine verborgene und verehrte, jedoch machtlose. Auch die Vergeistigung des Gottesbegriffs, die sich durch das Bild- und Benennungsverbot in der jüdischen wie auch teilweise in der islamischen Religion verdeutlichte, veränderte in keiner Weise das Gewicht irdischer Patriarchalität, bei welcher die sexuelle Potenz ebenso als Herrschaftsbegründung erklärt wurde wie die – von der Wortbedeutung her allein männliche – geistige Schöpfungsmacht des Genius (genius abgeleitet vom lat. gignere zeugen).

Während in der im Alten Testament resp. in der Tora verankerten Mythologien (idg.„my“ –  Ton, Klang, „logos“: was erzählt wurde ) die Tragfähigkeit, Gebärkraft und Fürsorge der Mütter wie auch die vielseitige Begabtheit, der Mut und die Klugheit der Töchter erst hinter der Benennung der Vaterschaft sowie jener der Söhne eine Beachtung finden, hatte sich im frühesten monotheistischen Religionssystem des ägyptischen Pharao Echnaton resp. Amenhotep IV (um 1350 vor Chr.) mit der Erklärung der Sonnenscheibe Aton als dem alleinigen Gott die Verbindung und Gleichwertigkeit des Männlichen und Weiblichen während kurzer Zeit als kulturelle Revolution durchgesetzt.[8] Dass der grossen königlichen Gemahlin Nofretete und ihren sechs Töchtern der Vollzug der religiösen Handlungen zugesprochen wurde, dass gleichzeitig die Vielzahl der für das Volk wichtigen Götterverehrungen auf brutale Weise verboten wurde, erregte Aufsehen, Erschrecken und Widerstand. Als Echnaton 1334 v. Chr. starb, wurde alles, was während seiner 17 Jahre dauernden Herrschaft mit dem neuen religiösen und politischen System verbunden war, aufgehoben und vernichtet, verboten und zunehmend verdrängt[9].

Weder vernichtet noch verdrängt werden konnte die monotheistische Gottvorstellung, die mit Moses und der aus Ägypten emigrierenden hebräischen Bevölkerung in die jüdische sowie später in die christliche und islamische übertragen wurde.  Es ist eine merkwürdige Vielseitigkeit mythologischer Erbschaft, die in den drei Religionen erhalten blieb, einerseits die mit dem Aton- resp. Sonnengott-Glauben verknüpfte Eingottherrschaft, die in der jüdischen Religion zur Schöpfer-Vaterreligion und in der christlichen zur Vater- und Sohnesreligion wurde, während die islamische die Fortsetzung der väterlichen Gotterklärung übernahm, andererseits die mit dem menschlichen Bedürfnis nach mystischem Geheimnis und nach Wundern verbundenen Ausmass an Bedingungen und Bestimmungen, an Geboten und Verboten, an Ritualen und Gebeten, denen sich Millionen von Gläubigen unterwarfen und weiter unterwerfen.

Es sind verborgene Teile der mit dem Monotheismus verdrängten Aspekte der animalischen, weiblichen und männlichen Fülle göttlicher Kraft, die in der griechischen, ja schon in der vorgriechischen, minoischen  Mythologie wie in der römischen und in zahlreichen anderen Ursprungsgeschichten menschlichen Lebens ihren Platz und ihre Bedeutung hatten[10], welche weiter die religiösen, die sozialen und politischen Systeme unserer Geschichte beeinflussen, mit allen Folgen von Verdrängung, die sich in Ängsten, in Hassgefühlen und Feindvorstellungen, in Flucht- oder Ersatzbedürfnissen äussern. Gleichzeitig bleibt die Kraft der transzendenten, die kosmische Zugehörigkeit unserer Welt in der unendlichen Raumlosigkeit regulierenden Allmacht ein Geheimnis, das auch durch alle naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse (jene Albert Einsteins als Beispiel) nicht gelöst werden konnte, im Gegenteil. Das Erkennen und Zugestehen der Relativität und der Ungewissheit allen Wissens – das sokratische Wissen des Nichtwissens –öffnet dem Glauben eine neue, andere Berechtigung als geistigen Halt. So mag der Glaube Ausdruck der kaum erfüllbaren Sehnsucht nach bedingungslosem väterlich- und zugleich mütterlich-göttlichem Halt sein.

Dass jedoch weniger das glaubensbereite und zugleich kritische Nichtwissen des kindlich suchenden Menschen sich fortsetzte als in erster Linie die gottähnliche Macht der „Väter“, häufig in Eifersucht vor der wachsenden Männlichkeit der Söhne und mit Schuldgefühlen der Söhne gegenüber den eigenen Vätern, denen sie nicht genügen können oder deren Tod sie herbeiwünschen (oder verursachen, wie es Moses durch sein Volk geschah[11]), das hat sich in den Religionen wie in den staatlichen Systemen wie in den Familien fortgesetzt. Sigmund Freuds „Vermutung“, die er selber als „ansprechend“ bezeichnet, mag Auflehnung oder Beachtung bewirken, „dass die Reue um den Mord an Moses den Antrieb zur Wunschphantasie vom Messias gab, der wiederkommen und seinem Volk die Erlösung und die versprochene Weltherrschaft bringen sollte. Wenn Moses dieser erste Messias war, dann ist Christus sein Ersatzmann und Nachfolger geworden, dann konnte auch Paulus (ein römischer Jude aus Tarsus) den Völkern zurufen: ‚Sehet, der Messias ist wirklich gekommen, er ist ja vor unsern Augen hingemordet worden.’ Dann ist auch die Auferstehung Christi ein Stück historischer Wahrheit, denn er war (der auferstandene Moses und hinter ihm) der wiedergekehrte Urvater der primitiven Horde, verklärt und als Sohn an die Stelle des Vaters gerückt.“[12]

Da wird deutlich, dass in allen Mythologien die grosse Geschichte schöpferischer und zerstörerischer Geschehnisse als Folge göttlichen und animalischen Handelns erscheint, das sich im Menschsein sowohl verkörpert wie vergeistigt – und fortsetzt. Dass in Zusammenhang der monotheistischen Religionen die zwei sich ergänzenden Geschlechter – das männliche und das weibliche – in ungleiche Machtverhältnisse gerieten, durch welche die väterliche Herkunft während Jahrhunderten als jene der Zeugung zu jener der Namengebung wurde und von überwiegender Bedeutung bezüglich Herrschaft, Besitz und/oder Zugehörigkeit war – obwohl lediglich die mütterliche Herkunft mit Sicherheit feststand -, das wirkte sich in den privaten, innerfamiliären Verhältnissen ebenso aus wie in den öffentlichen Strukturen bis in die heutige Zeit, Aufklärung und Emanzipation zum Trotz. Der Machtkampf zwischen Vater und Sohn wie zwischen den Brüdern um den Platz der Herrschaft hat sich in unendlichen Variationen wiederholt, auch unter den Nachfolgern Freuds. Ohne Zweifel geht die Frage der Deutung des archaisch-testamentarischen Imperativs „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ -, wie J. W. Goethe ihn in Faust I formuliert hat, mit jener der persönlichen Wahlmöglichkeiten einher, die im Verhältnis zur nicht wählbaren Herkunftsgeschichte – Familiengeschichte, Stammbaum, Abkunft und Name – dem Menschen als Erben zustehen.

Doch was heisst letztlich in Zusammenhang väterlicher Herkunft „erben, erwerben und besitzen“?  Geht es um die Art der Fortsetzung des väterlichen Namens oder der familiären Geschichte? Oder geht es um die Übernahme und Verstärkung dessen, was die Macht des Vaters ausmachte: Nähe zur Mutter, Herrschaft über untergeordnete Menschen, z.B. über „schwächere“ oder jüngere Brüder, über Schwestern, über Angestellte und Arbeitnehmer, Lehrlinge, Schüler und Schülerinnen, letztlich über ein Volk? Geht es um materiellen Besitz, um Boden und Vieh resp. Geld und Aktien?  Geht es letztlich um Übernahme und Erneuerung väterlicher Potenz in der ganzen Bedeutung? Die Art der Vater-Erfahrung und des daraus wachsenden Vaterbildes entspricht einer Vielzahl von Abhängigkeiten, von deren verantwortungsbewusster Sorgfalt über missbräuchliche Ausnutzung bis zur Ausweitung individueller Macht in kollektive Unterwerfungsforderung oder in individuelle Ohnmacht innerhalb kollektiver Anpassung. Wichtig erscheint mir, dass es am Menschen liegt, durch seine Wahlmöglichkeiten zu entscheiden, wie er das ihm Vererbte umsetzt.

In meiner psychoanalytischen Arbeit, die sich in meinen analytischen Untersuchungen von Sigmund Freud und Arnold Zweig, von Berta Pappenheim, von Rosa Luxemburg, von  Ludwig Wittgenstein, Franz Kafka und Walter Benjamin, von Margarete Susman und Etty Hillesum, von Simone Weil und Hannah Arendt wie in jener weiterer jüdischer und nicht-jüdischer Denkerinnen und Denker dank der zur Verfügung stehenden Tagebücher und Briefen sowie deren literarischen und philosophischen Werken fortsetzte, konnte ein sorgfältiger Dialog möglich werden, in welchem sich das vielseitige Spannungsfeld in deren Auseinandersetzung mit den früh verstorbenen oder schweigenden, mit den fehlenden, geliebten oder den überstarken und gefürchteten Vätern verdeutlichte, insbesondere die Frage, ob und wie deren Fortsetzung gescheut oder angestrebt wurde, ob und wie deren Erbschaft belastet, verweigert oder gesucht und verehrt wurde. Alle Variationen kommen vor. (Im Gespräch können wir näher darauf eingehe)n.

Selten kommt es vor, dass der einfache, machtlose und doch starke Vater, wie er in Salvatore Quasimodo’s Erinnerungsgedicht erscheint, lange nach dessen Tod in einem zu Lebenszeiten nicht benennbaren Wert durch den Sohn geehrt wird:

„(…) Deine traurige, zarte

Geduld nahm uns die Angst

War Lehre von Tagen, zu denen gehörte

der betrogene Tod, die Verhöhnung der Diebe,

gefangen in den Trümmern und im Dunkel gerichtet

vom Gewehrfeuer der Gelandeten, eine Rechnung

niedriger Zahlen, die genau konzentrisch

aufging, eine Bilanz zukünftigen Lebens.

 

Deine Sonnenmütze ging auf und ab

in dem geringen Raum, den sie dir immer gaben.

Auch mir massen sie alles zu,

und ich habe deinen Namen ein wenig weiter

getragen, über Hass und Neid hinaus.

(…)

Und jetzt im Adler deiner neunzig Jahre

wollt ich sprechen mit dir, mit deinen bunten

Abfahrtssignalen aus der Nachtlaterne,

und hier, aus einem mangelhaften

Rad der Welt, auf einer Menge dicht gedrängter Mauern,

weit fort vom arabischen Jasmin,

bei dem du noch bist, um dir zu sagen,

was ich früher nicht sagen konnte

– schwierige Gedankenverwandtschaft –

um dir zu sagen, und es hören uns nicht nur

die Zikaden am Scheideweg, die Mastixagaven,

wie der Feldhüter sagt zu seinem Herrn:

‚Wir küssen die Hände.’ Dies, nichts anderes.

Geheimnisvoll stark ist das Leben.“[13]

 

Noch seltener lässt sich die Bescheidenheit eines Vaters vernehmen, der dem Kind liebevoll zu verstehen gibt, es möge sich besser von seiner Erbschaft abwenden und das eigene Leben in Sicherheit leben. Nicht an einen Sohn, sondern an eine Tochter richtet sich der Rat des Dichters René Beer-Hofmann „Horch nicht auf mich“, auch die Erklärung: weil „keiner keinem ein Erbe sein kann“. Es ist Ausdruck der Zuversicht in einen anderen, stärkeren Halt.

„Schlaf, mein Kind – schlaf, es ist spät!                        Schlaf mein Kind – der Abendwind

                                                                                       weht.

Sieh wie die Sonne zur Ruhe dort geht.                        Weiss man, woher er kommt, wohin er

                                                                                      geht?

Hinter den Bergen stirbt sie im Rot.                            Dunkel, verborgen die Wege hier sind,

Du – du weißt nichts von Sonne und Tod,                   Dir, auch mir, und uns allen, mein Kind!

                                                                                        

Wendest die Augen zum Licht und zum Schein –           Blind – so gehen wir und gehen allein,

Schlaf, es sind soviel Sonnen noch dein,                        Keiner kann Keinem Gefährte hier sein

Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein.                     Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf

                                                                                        ein!

 

Schlaf mein Kind und horch nicht auf mich!                    Schläfst du, Mirjam? – Mirjam, mein

                                                                                          Kind,

Sinn hat’s für mich nur, und Schall ist’s für dich.            Ufer nur sind wir, und tief in uns

                                                                                          rinnt

Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn,                   Blut von Gewesenen – zu Kommenden

                                                                                          rollt’s,

Worte – vielleicht eines Lebens Gewinn!                         Blut unserer Väter, voll Unruh und

                                                                                          Stolz.

Was ich gewonnen grabt mit mir ein,                              In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein?

keiner kann Keinem ein Erbe hier sein –                         Du bist ihr Leben – ihr Leben ist

                                                                                          dein—

Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein!                      Mirjam, mein Leben, mein Kind –

                                                                                         schlaf ein![14]

 

Angstfrei und sicher sein, voll Vertrauen in die guten Teile der Erbschaft, d.h. in all diejenigen, welche die eigene Lebenskraft bedeuten, so ist dieser väterliche Wunsch zu verstehen. Die Geschichte, auf welcher sich das eigene Leben verwurzelt findet und zugleich sich zu entfalten sucht, bietet offene Wege an, auf welchen es der Freiheit zusteht, sinnvolle, gute Beziehungsstrukturen selber zu finden und zu festigen.

 

[1] UniS Bern WS 2007-08 / Vorspann auch Vortrag am Jüdischen College Bern, 26.01.2008

[2] Die Schrift. Verdeutscht von  Martin Buber gemeinsam mit  Franz Rosenzweig.  Bd. I: Die fünf Bücher der Weisung. 10. neu bearbeitete Auflage 1954 / Lambert Schneider Verlag, Heidelberg 1981

[3] ibdi. 1), S. 155

[4] Wie aufwühlend es für viele Menschen, insbesondere für junge Menschen, war, den Film über den „Da Vinci-Code” zu sehen, der das Tabu der Beziehung zwischen Jesus und Magdalena sowie eine mögliche, tatsächliche Vaterschaft Jesu thematisierte, wurde deutlich, als dieser Film in den öffentlichen Kinos gezeigt wurde.

[5] Sigmund Freud. Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen (1939 / 1934-38), in Studienausgabe Bd. 9., S. Fischer-Verlag. Frankfurt a.M. 1974. – Yosef Hayim Yerushalmi. Le Moïse de Freud. nrf essais /Editions Gallimard, Paris 1993  (ursprünglich Freud’s Moses. Yale University Press 1991).

[6] Sigmund Freud. Totem und Tabu (1912-13), in: Studienausgabe, 9. Bd., S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

[7] u.a. Wilhelm Fliess (der Freud während fünf Jahren nächststehende, zwei Jahre jüngere Wahlbruder, den er bewunderte, verehrte und liebte und dessen zunehmende Entfremdung ihn zutiefst verletzte), C.G. Jung (von Ludwig Binswanger an Freud überwiesen, den dieser als nichtjüdischen Hoffnungsträger verherrlichte, der ihn jedoch nach anfänglicher Gefolgschaft durch den eigenen Machthunger zu entthronen  suchte), Otto Gross und V. Tausk sowie Otto Rank  (zerbrachen früher oder später ob den Folgen des Ersten Weltkriegs), Sandor Ferenzci (jener “Schüler“, den Freud  nach dem Verlust der Freundschaft mit Wilhelm Fliess als den ihm nächststehenden betrachtete und wie einen Sohn liebte), W. Stekel sowie A. Adler, die sich mit eigenen Theorien etwa gleichzeitig wie Jung von Freud abspalteten  u.v.m.

[8] Die religiöse Verehrung der Sonne resp. des Lichts kann als Ahnung der erst in jüngster Zeit erfolgten wissenschaftlichen Erkenntnisse des vor 4,5 Milliarden Jahren (nach dem mehr als doppelt so weit zurückliegenden Urknall, durch den die gewaltige Ausdehnung des Universums zustande kam) sich bildenden Sonnensystems betrachtet werden, bei dem der Planet Erde abgespalten wurde mit allem, was die allmähliche, vor rund 3,5 Milliarden Jahren durch die ernährende und regulierende Kraft des Sonnenlichts und des dadurch ausgelösten Sauerstoffgases sich entwickelnde Fülle von pflanzlichem und allmählich animalischen und menschlichem Leben bedeutet, ein sich physikalisch und biochemisch zwar erklärbarer Ablauf, der jedoch alle Zeit- und Raumkonstrukte menschlichen Verstehungsvermögens, das selber von der Lichtenergie abhängig bleibt, sprengt. – cf. Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger (geb. 12.08.1887 in Wien, gest. 04.01.1961 auch in Wien). What is Life? Dublin 1944 / Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Leo Lehner Verlag (Sammlung Dalp), München 1951 / Geist und Materie. Diogenes Verlag, Zürich 1994. – Zu empfehlen die Publikationen und u.a. in der NZZ erschienenen Artikel von Gottfried Schatz (geb. 18.08.1936 in der Nähe von Graz; Prof. emeritus für Biochemie an der Uni Basel und Leiter des Zentrums für Biochemie), der sich u.a. auf Erwin Schrödinger beruft.

[9] cf. Jan Assmann. Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. Verlag C.H.Beck, München 1990. – Ägyptisches Totenbuch. Übersetzt und kommentiert von Grégoire Kolpaktchy.  O.W. Barth Verlag, München 1990. –

[10] Variationen und Differenzen gab es schon seit frühester Zeit in den ersten Aufzeichnungen der über Generationen erzählten Mythen. Für Homer z.B. bestand die von Zeus, dem jüngsten Sohn des Urvaters Chronos, der diesen besiegt und in den Tartaros gezwungen hatte, nicht abhängige, sondern unabhängige Kraft der Moira – des Schicksals –, doch bei Hesiod waren auch die drei Moiren Töchter des Zeus und der Themis, einer der Töchter des Uranos und der Gaia. Zeus wurde so zum unumschränkten Herr, Gebieter und Richter, der als Schutzherr Gebete erhöhte und staatliche Ordnung schützte, doch jede Auflehnung mit Gewalt bestrafte, auch jene seiner göttlichen und halbgöttlichen Söhne und Töchter, die aus den vielfachen Ehen mit göttlichen und menschlichen Gemahlinnen geboren worden waren und selber über vielfache Macht verfügten.

[11] Sigmund Freud.  Der Mann Moses und die monotheistische Religion. cf. 4), III, I (D)

[12] ibid. 8), S. 537

[13] Salvatore Quasimodo (geb. 1901, gest. 1968), Sohn eines Eisenbahners, lernte im Selbststudium Latein und Griechisch, war ein hervorragender Übersetzer grosser Werke aus den alten Sprachen wie aus dem Englischen und Französischen, 1959 Nobelpreisträger für Literatur. – Das Gedicht “An den Vater” erschien 1958 in “La terra imperaggiabile” (Die unvergleichbare Erde); es findet sich in der Sammlung ausgewählter Gedichte von Salvatore Quasimodo (auf Italienisch und ins Deutsche übersetzt von Gianni Selvani) in “Das Leben ist kein Traum”. Piper Verlag, München/Zürich 1987, S. 52-55

[14] René Beer-Hofmann (geb 11.07.1866 in Rodau/Wien, gest. 26.09.1945 in New York). Schlaflied für Mirjam. In: Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Harald Hartung. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998, S. 32

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