Was ist das Gute, was das Böse? – zu Fragen der Sozialethik

Was ist das Gute, was das Böse? – zu Fragen der Sozialethik

 

Die ältesten Mythen, auf welche sich die abendländischen Kulturen[1] beziehen, handeln von der Trennung der Elemente – Erde, Feuer, Wasser Luft -, von der Trennung von Finsternis und Licht, von den Gestirnen, von den Ursprüngen und vom Kreislauf des vielfältigen Lebens in der Welt. Sie handeln noch nicht vom Guten, resp. vom Bösen. Zwar wird mit der hebräischen Silbe „ra‘ah“ alles bezeichnet, was nicht gut, was schlecht ist: die verdorbene Frucht, der unfruchtbare Boden, ein Tag, der Unglück bringt, eine Naturkatastrophe, Leiden und Schmerzen, die auf dem Menschen lasten etc. Schlecht ist eine Eigenschaft, die den Dingen oder den Menschen anhaftet, eine Eigenschaft, die nicht weiter hinterfragt wird, die einfach auf die Wirklichkeit verweist. Was „gut“ ist, findet sich vor allem im Wahrnehmen und Anerkennen, im Befolgen einer höheren Ordnung. Dass diese Ordnung sich zu Gesetzen zuspitzte – den Zehn Geboten auf den zwei Tafeln, die Moses, wie die Geschichten schildern, in den vierzig Tagen seines Rückzugs auf den Berg von Gott erhielt -, war eine Folge der menschlichen Nichtbeachtung der höheren Ordnung, der gemäss jeder einzelne Mensch in der nicht wählbaren Herkunft, Geschlechtlichkeit und Zeit, in welcher er/sie geboren wird, in Strukturen der Abhängigkeit lebt, immer gleichzeitig als Subjekt und als Objekt. Letztlich hängt der Wert jeder Existenz, hängt „das Gute“ mit seiner stärkenden Kraft und hängt das Schlechte mit der dadurch verursachten Tragik vom Wissen und Empfinden der wechselseitigen Abhängigkeit ab. Auch wer Macht ausübt, bedurfte der Mutter, um geboren zu werden und leben zu können, bedarf selber der medizinischen Hilfe und der Pflege, wenn die eigenen Fähigkeiten vermindert sind.

Im Gegensatz zu diesem existenznahen Ordnungsentwurf des menschlichen Zusammenlebens thematisiert Platon (427-347) die ethischen Grundsätze auf eher abstrakte Weise, indem er in seiner Ideenlehre das Gute mit Hilfe von Mathematik und Geometrie zu erfassen sucht und es als das Eine, damit als das Unteilbare, Wahre und Vollkommene bezeichnet. Alles, was nicht das Eine ist, ist daher auch nicht das Gute. Aber was ist es dann? Da es sich bei Platon um eine „Seinslogik“, eine Ontologie, handelt, ist es weder das Schlechte noch das Böse, sondern es ist das Nicht-Wahre, das Falsche, das, was irreführt und täuscht, d.h. was eben falsch ist. Da es dem Guten, resp. der Wahrheit entgegensteht, muss es, gemäss Platon, als das irreführende Schlechte bezeichnet werden.

Das gemeinsam menschliche Verhaltenssystem gab es jedoch auch in der griechischen Antike. Bei Heraklit, einem Denker aus Ephesos, der (544-483) etwa ein Jahrhundert vor Platon lehrte, steht im Fragment 133: „Schlechte Menschen sind die Widersacher der wahrhaftigen“, d.h. sie stören oder gar zerstören das gute Leben derjenigen Menschen, die sich um das „wahre Leben“ bemühen. Dass ethisches Ungenügen im Zufügen von Leiden besteht, findet sich bei den Vorsokratikern am deutlichsten bei Xenophanes (580/77-485/80), und zwar in einer kleinen Geschichte, die er von Pythagoras, einem der grossen Zeitgenossen (580-500), erzählt. Xenophanes‘ Fragment 7 lautet: „Und es heisst, als er (Pythagoras) einmal vorbeiging( und sah), wie ein Hündchen misshandelt wurde, habe er Mitleid („sym-pathein“) empfunden und dieses Wort gesprochen: ‚Hör auf mit deinem Schlagen, denn es ist ja die Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich seine Stimme hörte“. Der Satz verweist nicht nur auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre. Er lässt klar werden, dass unter dem „mitleidenden Empfinden“ – der eigentlichen Bedeutung von „Sympathie“ – das Nicht-Ertragen der Misshandlung eines Lebewesens, d.h. des Zufügens von Leiden gemeint ist, dass das etwas Schlechtes ist, das der Wiedergutmachung bedarf.

Bei anderen vorsokratischen Denkern wird in – nur teilweise erhaltenen – Mythologien das Masslose, die Überheblichkeit als das dem Guten Widerstrebende dargestellt. Prometheus‘ überheblicher Griff nach dem Feuer, zum Beispiel, entspricht interessanterweise der in der Bibel dargestellten ersten strafbaren „Überheblichkeit“ der geschaffenen Menschen, dem Griff nach der verbotenen Frucht im Garten Eden, d.h. der masslosen  Erfüllung der Lust wie des Hungers nach Erkenntnis und nach Wissen. Die Nichtbeachtung der menschlichen Begrenztheit, der Übergriff in ein Allmachtsempfinden und Allmachtshandeln findet sich in weiteren alten Texten. Es ist z.B. ein Fragment des Pherekydes von Syros zu erwähnen, dass, wer „aus Überhebung frevelt“, von Zeus in den Tartaros geworfen werde. Oder bei Heraklit heisst es in Fragment 43: „Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuerbrunst“.

Unklar erscheint es Aristoteles, weshalb die einen Menschen gut und tugendhaft sind, die anderen aber schlecht, Fragen ,die auch heute gestellt werden. Aristoteles mutmasst, dass dies entweder „von Natur aus“ so sein könnte, oder durch „Gewöhnung“, oder durch „Belehrung“; andernorts führt er noch den Zufall und die göttliche Fügung ein[2]. Was bei Aristoteles mit dem „Zufall“ gemeint wurde, könnte das Unberechenbare und scheinbar Unbegründbare sein, das sich im Wirken zeigt, das vom Unbewussten verursacht wird. Wichtig ist festzustellen, dass es bei Aristoteles letztlich immer um einen bewussten oder unbewussten Entscheid geht, der in bestimmten Momenten des praktischen Lebens, d.h. in Konfliktsituationen, gefordert wird. Der antike Denker zieht dabei drei entscheidende mögliche Einflüsse auf die moralische Entwicklung, resp. auf das Handeln der Menschen in Betracht, die dem modernen Wissen nahe kommen. Was er als „von Natur aus“ nennt, könnte sich mit dem decken, was heute mit dem Einfluss der genetischen[3] Faktoren gemeint ist, d.h. mit dem verborgenen und geheimnisvollen Gepäck der Eltern und deren Vorfahren, das jeder Mensch in sich trägt. Was bei Aristoteles „Gewöhnung“ heisst, könnte durch die heutigen Begriffe der Sozialisation und der Beziehungserfahrungen übersetzt werden; und was er als „Belehrung“ bezeichnet, könnte sich sowohl mit den Welt-, Gesellschafts- und Erziehungstheorien decken, mit denen ein Mensch schon als Kind konfrontiert wird, als auch das Über-Ich meinen, d.h. die innere Stimme, die wie eine je persönliche höhere Instanz sich als Gewissen äussert und welche die internalisierten Verbote, Gebote und Vorbilder, zumeist den frühen Einfluss der Vater und Mutter-Vorbilder widergibt. Allerdings beachtet Aristoteles die eigentliche Gewissensfrage, d.h. die Selbstverantwortung des Menschen, nur teilweise. Damit bleibt seine „Nikomachische Ethik“ in erster Linie eine Tugendlehre.

Das Abwägen und Erwägen des Handelns zieht eine Vorstellung von „Wert“ mit ein, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit, auch Schönheit und/oder Lustgewinn gebunden ist. Daraus ergab sich schon früh eine Prioritätenordnung der Werte. Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog/zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet wurden/werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten oder eine auferlegte Verantwortung mit Verlässlichkeit ernst u nehmen, zog/zieht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit nach sich.

So entwickelten sich seit der Antike aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte Regeln des Verhaltens, welche zu einem Wert- und Regelbewusstsein führten.

Denn es ist unbestritten, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten ethischen Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden, häufig nicht im Sinn eines möglichst übereinstimmenden Gewissens, auch nicht einer möglichst breiten Konsensfindung in Hinblick auf das grösstmögliche “bien commun” zwischen Subjekt und Objekt des Handelns, sondern zumeist in Hinblick auf ausschliesslich partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten. Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Wertordnungen, die untereinander rivalisierten, im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien, auf die ebenfalls schon Aristoteles in seiner “Nikomachischen Ethik” hinwies, und jene Gewissenskonflikte, die wir zum Teil auch heute kennen, deren Ursprung in der Nichtübereinstimmung von – eventuell gleichrangigen – Werten oder Handlungsregeln liegt, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen. Wir sehen uns ständig mit der Tatsache konfrontiert, dass das eine oder das andere, was wir tun oder unterlassen sollten resp. müssten, sich widerspricht.

Über die – nicht-abbrechende – Aktualität von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität nachdenken soll daher Anlass sein, die stete, zeitunabhängige soziale Verpflichtung zur ethischen Frage zu machen. Worauf gründet sich die Verpflichtung zur Solidarität?

Simone Weil argumentiert, dass, selbst wenn ein Mensch völlig allein auf sich gestellt wäre, diese Grundverbindlichkeit besteht. “L’obligation prime le droit”.

Simone Weil hält fest, dass, wer diese Grundverbindlichkeit nicht anerkennt, sich eines Vergehens schuldig macht. Sie gesteht allerdings ein, dass es Situationen geben mag, wo sich widersprechende Handlungserfordernisse durch deren Gleichzeitigkeit bewirken, dass einer bestimmten Verbindlichkeit nicht Genüge getan werden kann. Und sie folgert, dass die Qualität eines Gemeinwesens oder einer Gesellschaft danach zu bewerten sei, wie häufig oder wie selten solche Unvereinbarkeiten sich zeigen.

Was nun im konkreten Fall wie die Erfordernis eines Leistungsausweises in Hinblick auf zu erwartenden Sozialleistungen aussehen könnte, ist bei Simone Weil nicht so gedacht. Es heisst lediglich, dass Rechte eine abgeleitete Bedeutung haben und nicht eine primäre; auch dass der Solidaritätsgedanke auf Grund der existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen nicht weiter hinterfragt werden kann, sondern zu den primären Gegebenheiten des gleichzeitigen In-der-Welt-Seins, zum immer bestehenden Beziehungsgeflecht des gleichzeitigen Menschseins gehört. Daraus ergeben sich Fragen. Ist der Begründungsansatz der je gleichen existentiellen Bedürftigkeit tauglich, um den schwindenden Solidaritätsgedanken zu stärken? Ist es tauglich, statt auf Grundrechte auf Grundverbindlichkeiten zu rekurrieren, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den einzelnen Gesetzesvorlagen und Verträgen als unumstösslich vorauszusetzen und um deren praktischer Umsetzbarkeit eine grössere Chance zu geben? Um die Fragen zu klären, gehen wir zum abschliessenden Teil des Vortrags über.

 

[1] lat. „cultura“ – Bearbeitung. Bebauung, geistige Pflege, abgeleitet von „colere“ –bearbeiten, bebauen, geistig pflegen.

[2] Der Rekurs auf die „göttliche Fügung“ findet sich in der Prädestinationslehre wieder; es wurde damit auf vergleichbare Weise Unheil angerichtet wie mit der späteren biologistisch-rassistischen Vererbungslehre.

[3] griech, „genesis“ – Werden, Entstehen, ethymologisch verbunden mit „gennan“ – erzeugen, hervorbringen, auch mit „gignesthai“ – entstehen, geboren werden.

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