…”die Scham ist erfinderisch” – Schuldhaftes Handeln: Wem steht das Verzeihen zu?

…”die Scham ist erfinderisch”[1]

Schuldhaftes Handeln: Wem steht das Verzeihen zu?

 

Warum geht die Klärung von “Scham” so zurückhaltend voran, frage ich mich. Verbindet sich schon mit dem Begriff etwas Hemmendes? –wie ein Tabu der Klärung? Daran liegt es kaum, bedarf doch jeder Begriff der Klärung und bietet sich dafür an. Wovor und wozu also die Zurückhaltung? Ist sie eine Warnung vor vorschneller Deutung? – oder vor vorschneller Preisgabe des Wissens? “… die Scham ist erfinderisch” – tatsächlich, wie Nietzsche, der selber von Gefühlen der Scham gepeinigt wurde, in seinen Überlegungen festhielt, gleichzeitig aber bemerkte, dass “man seine Erkenntnis nicht genug mehr liebt, sobald man sie mitteilt”[3]. Und er fügte an, wohl als Selbstkritik gemeint, dass “die Dichter gegen ihre Erlebnisse schamlos sind; sie beuten sie aus”[4].

Zeigt sich im Zögern somit schon ein Teil dessen, was Scham mit Selbstschutz verbindet? Geben nicht nur “die Dichter ihre Erlebnisse schamlos preis”? Auffallend ist, welch angstvolle Scheu und Scham die meisten Menschen lähmend besetzt, sowohl Kinder wie Erwachsene, die unter einem psychischen Leidensdruck stehen, wie häufig sie ein Schuldgefühl empfinden, wenn sie es wagen, den Deckel zu öffnen, der über dem Verbot zu sprechen liegt: Scham und sich schämen, Scham und Schweigen, Scham und Scheu, sich scheuen und Schüchternheit, Scham und Schutz, Scham und Schande, Scham und schänden, Scham und Schmach, schmachten und schmächtig, Scham und Schuld. Immer geht es um belastende, zum Teil schwer aus dem Innern nach Aussen zu lösende emotionale und moralische Lebensgeschehnisse. Eine archaische Sprache ist Deutsch im Zusammenhang von “Scham”. Die Wörter geben mit grosser Genauigkeit wieder, was die Geschichte im Menschen angestaut hat.

Eine Erinnerung taucht auf und drängt sich vor: “psch…” und “sch… [5]“, Erinnerung an die fordernde, lang gezogene, wortlose Sprache, die in der Kindheit Schweigen gebot, mit dem Zeigefinger über den Lippen wie eine senkrechte, abgrenzende  Barriere, ob es um den schonenden Schutz Schlafender ging oder um das geforderte Ehrfurchtsverhalten vor hierarchisch höher gestellten Erwachsenen im Haus, denen gegenüber das laute Treiben der Kinder gedämpft werden musste; oder ob es um das Verbot zu sprechen ging, wenn ein Geheimnis gewahrt werden sollte oder musste. Immer ging es um das Gebot zu schweigen. Wurden damit nicht nur den Worten, sondern auch den Gefühlen Schranken gesetzt? – oder haben sich die Gefühle gerade durch das Verbot, sie auszusprechen, vertieft und verstärkt, eventuell auch verdunkelt? Wer sich nicht an die Forderungen zu schweigen hielt, hatte Strafe zu befürchten: Erfahrungen des Ungenügens, aus welchen Erfahrungen der Ohnmacht, eventuell der Ausgrenzung und Erniedrigung folgten, daraus der anwachsenden Angst und Scham[6].

Schweigen und Scham verbinden sich im tabuvernetzten Geflecht von Gebot und Verbot, das die Psyche besetzt hält und sich im ganzen Körper verklammert. Werden die Forderungen, die an Gehorsam, Unterwerfung und Schweigen ins Masslose ansteigen, nicht erfüllt, wachsen Gefühle der Schuld, der Selbstzweifel und der qualvollen Abwendung vom eigenen Ichwert an. Der innere Blick wird zum verurteilenden Richter, der mit dem Gefühl einhergeht, dass alle äusseren Blicke das eigene Versagen und die eigene Wertlosigkeit wahrnehmen. Dabei überträgt die Psyche auf die gesenkten Augen, die eingezogenen Schultern, die zu geschlossenen Fäusten verschraubten oder kraftlos herunterhängenden Hände, auf den zögernden oder flüchtig eilenden Schritt, wovon gleichzeitig im verborgenen Teil des Körpers der knappe Atem, der verkrampfte Darm oder die ungehemmte Blase, das Nervensystem der Stirn und des Nackens geprägt werden, einen Notzustand, den das verunsicherte Ich, dessen Bedürfnisse ohne Gewähr und voller Zweifel um den eigenen Wert sind, nicht zu lösen vermag. Häufig geht die Verzweiflung darob bis an die Grenze der Tragbarkeit oder über diese Grenze hinaus. Lähmende Traurigkeit, die als Depression diagnostiziert wird, schweigender Rückzug in den geschlossenen Raum oder masslose Fluchtversuche, die als Suchtverhalten bezeichnet werden, aus der von Verboten und Geboten geprägten Realität, denen nicht genügt und deren Belastung nicht erzählt werden darf, häufig auch nicht durchschaut werden kann, Verletzungen, welche Menschen sich selber zufügen, um der Leere Einhalt zu gebieten, bis zu suizidalen Schritten gehören zu den Folgen schwer belastender Erfahrungen mangelnder innerer Sicherheit, bohrender Gefühle des Ungenügens angesichts von Forderungen und Erwartungen, die sich von Aussen und von Innen seit der frühen Kindheit fortsetzen: von Scham. Die Gefühle der Schuld, die mit der Scham einhergehen, prägen zumeist die Opfer und nicht die Täter oder Täterinnen.

 

Der Blick von Innen

Eine junge Ingenieurin, die – nach abgeschlossenem Studium und beginnender Tätigkeit bei einer Firma – fühlte sich dem zunehmenden Druck der technologisierten Gesellschaft nicht mehr gewachsen, wie sie erklärte. Zögerlich hatte sie sich mit einer psychiatrischen Untersuchung einverstanden erklärt, lehnte jedoch nach kurzer Zeit die Fortsetzung einer Therapie ab, da sie sich in der kleinen Stadt schämen müsse. Wer immer sie anschaue, halte sie für “gestört”; wieder eine Anstellung zu finden, sei ausgeschlossen. Wut und Scham, als Versagerin zu gelten, spitzten sich zu, auch eine wachsende Ausflucht in Zigaretten und Bier, vor allem in verbitterte Einsamkeit. Irgendwann im Spätherbst wanderte an einem Morgen durch das geöffnete Fenster eine magere Katze bei ihr ein, die offenbar gequält worden war und die den ganzen Winter lang sich nicht mehr von ihr entfernte. Allmählich wirkte sie wie eine stärkende dialogische Präsenz. Als der Frühling kam, begann die junge Frau, die Zeit des Rückzugs anders zu verstehen: als Auflehnung gegen ihre Geschichte. Dass sie als Kind durch einen Nachbarn, dem sie das kleine Radio ihres Vaters zur Reparatur bringen musste, missbraucht worden war, hatte sie nicht verdrängt, jedoch verdunkelt, da sie meinte, selber Schuld dafür zu tragen. Schon mit dem Ingenieurstudium hatte sie versucht, eine Korrektur gegen die sie besetzende Macht der Scham zu finden. Doch diese hatte überhand genommen, als sie einem jungen Mann begegnete, dessen Blick sie voll in die Kindheitsgeschichte zurückversetzte. Nach den Monaten des Rückzugs und der fürsorglichen Pflege, die sie der hilfebedürftigen, kranken Katze gewährt hatte, erlebte sie ein allmähliches Erkennen wie ein Erwachen. Sie wusste, dass sie nicht länger der Flucht bedurfte, dass sie sich auch als Frau nicht länger zu schämen brauchte. Weder Schuldgefühle, mit welchen sie den Täter und dessen Übertreten eines zentralen Gebotes gedeckt hatte, noch Scham mussten auf ihr lasten, die als Kind in ihrer Wehrlosigkeit zum Objekt gemacht worden war.

Ursache der Scham ist das Gefühl des persönlichen Ungenügens, des Selbstverrates und Unwertes, das durch den strengen inneren Blick, der sich in der frühen Kindheit einprägte, wie eine Klammer auf der Seele lastet. Die vielfältigen, nicht vereinbaren Massstäbe, die auf dem Kind ausgeübt und im Kind gespeichert wurden, deren Erfüllung durch Gehorsam und Anpassung verlangt wurde, galten als Bedingung – oder wurden als diese empfunden -, um überhaupt “leben zu dürfen”. Erfüllung, Befolgung und/oder Unterwerfung stimmten jedoch nicht mit den Massstäben der eigenen Bedürfnisse des Kindes überein. Das Unbehagen und Leiden, das in der Situation der völligen Abhängigkeit jede Art von erforderter Unterwerfung oder Anpassung begleitete, musste vertuscht werden. Die Nichtübereinstimmung wurde als Unfähigkeit oder als Feigheit empfunden und ging mit den ersten Gefühlen der Scham einher. Ständig musste das eigene Wertempfinden übergangen oder getäuscht werden. Das setzte sich auf kaum erträgliche Weise fort beim Erwachsenwerden. Trotz intellektueller und beruflicher Bemühungen um Erfolg, trotz des Hungers nach Liebe, der immer ungestillt blieb, aber sich mit Hoffnungen verband, konnte die Seele sich der Stolpersteine lähmender Traurigkeit nicht befreien, nicht der hemmenden Scheu und der anwachsenden Schuldgefühle des Ungenügens. Zumeist verhinderten Scham und Scheu, dass die Ursachen des Leidens geklärt werden durften.

Dass es sich nicht um ein Ungenügen des eigenen Verhaltens handelt, sondern um ein Ungenügen von Erwachsenen, denen das Kind in seiner Ohnmacht und Abhängigkeit ausgeliefert war, dass es somit um ein Leiden geht, das Klärung, Klage und Anklage, auf jeden Fall Genesung fordert, kann oft erst nach lang sich fortsetzender Verzweiflung erkannt werden.

 

Der Blick von Aussen

Eine andere Ursache liegt beim Anderssein im Zusammenhang kollektiver Kriterien, die als “gültig” oder “richtig” erklärt werden, die aber nicht erfüllt werden können. Vielen Menschen werden Aussehen, Name und Herkunft angelastet wie ein Mangel, für welchen sie selber verantwortlich sind, die Besonderheit gar wie ein Verbrechen, so dass die anfängliche Scheu sich in Angst und allmählich in Scham verdichtet, weil der geforderten “Anpassung” nicht genügt werden kann. Dieser Erfahrung sind zum Beispiel Kinder und Erwachsene mit dunkler Haut oder Angehörige einer “fremden” Religion ausgesetzt, die hier in der Schweiz als Asylsuchende in Dörfern untergebracht werden.

“Ich leide, weil noch immer Böses siegt.

Ich leide, weil das Rad stillsteht.

Ich leide, weil die Scham sich nur bewegt.

Ich leide an der Niedrigkeit,

die kreischend Lächeln übertönt”[7].

Die knapp dreissigjährige Dichterin, die diese Zeilen schrieb, kam als Zehnjährige mit ihren Eltern aus Polen in die Schweiz. Nicht das Leben sei für sie unerträglich gewesen, sagt sie im Gespräch, im Gegenteil. Ihr Vater konnte eine Anstellung finden, sie wurde in eine Schule aufgenommen, auch eine Wohnung wurde der Familie angeboten. Aber die Erniedrigung, die ihre Mutter in der ersten Zeit beim Sozialamt erlebte, prägte sie zutiefst. Ein Gefühl der Scham geht mit einher, wie sie es im Gedicht zum Ausdruck bringt

Der Blick von Aussen richtet sich auf den “Stempel”, von dem Menschen sich geprägt fühlen, auf den gesellschaftlichen oder rechtlichen Status, der ihnen angehängt wird, der sie bewertet und den sie in der Hand oder auf der Haut tragen. Es ist der Status von “Fremden”, der hemmend und ängstigend sich auf das eigene Ich senkt, der dieses sich selbst fremd werden lässt und zunehmend verletzt oder gar erstickt. Es ist der Status, der den Asylsuchenden übergestülpt wird, der Status von Flüchtlingen oder einfach von Ausländern und Ausländerinnen, der Armuts- und Fürsorgestatus, der Psychiatrie- oder Gefängnisstatus, es ist der Status der dunkleren Haut, jener der Behinderung im Sprechen, im Verstehen und Sehen oder in der Bewegung. “Unwert” wird über den Blick von Aussen vermittelt, und Unsicherheit, Angst und Scham sind die Antwort. Wenn ich mich in Zürich in den Bezirken hinter dem Bahnhof und in einigen der Aussenquartiere aufhalte, wenn ich die Schulhäuser in den ärmeren Stadtgebieten oder in den Dörfern besuche, allein schon wenn ich an einer Tramhaltestelle oder im Bahnhof die Wartenden betrachte, ist sofort erkennbar, wer den Blick des/der Anderen scheut, wer angstbesetzt entwertendes Urteil ahnt und mit zusammengezogenen Schultern und gesenktem Kopf nach unten schaut. Kinder erröten allein schon auf die freundliche Frage, welche Schulklasse sie besuchen oder in welchem Fach sie sich wohl fühlen. Eine grosse Traurigkeit ist spürbar, eine Scham, nicht ein anderer Mensch zu sein. Bei den Kindern führt das Unwissen über die Ursachen der Entwertung dazu, dass sie meinen, auch am besonderen Aussehen Schuld zu tragen, so dass sie vor Scham, Schüchternheit und Ratlosigkeit unsichtbar sein möchten.

Wie sehr wurde dies von Menschen erlebt, die Ende der Dreissigerjahre des eben vergangenen Jahrhunderts in Wien, Berlin oder in Warschau an der Hand gehetzt gehender Mütter oder Väter plötzlich angehalten und bespuckt wurden, oder die im Gymnasium, das sie besuchten, wegen des “Stempels”, den sie trugen, kaum mehr beachtet wurden. Es ist nicht mehr ein “Stern”, der die Kinder von heute stempelt, sondern es sind andere, zum Teil ebenfalls rassistische Bedingungen des “Gleichseins” oder Forderungen der Anpassung, welche die heutige Gesellschaft stellt. Häufig kommen dazu Armut und ein “anderes” Aussehen, oft allein schon die Herkunftsgeschichte und der “Name”, welche die Familie prägen. Für die meisten Kinder und Jugendlichen, die unter diesen Bedingungen ihre Familienzugehörigkeit erlebten, ist es schwer, den eigenen Lebenswert beim Erwachsenwerden umsetzen zu können.

 

Wie wird Scham zum Schutz?

Eine 28jährige Frau, die als älteste von drei Kindern in einer – von der religiösen und sprachlichen Herkunftsgeschichte der Eltern her –  gemischten Familie aufwuchs, deren Mutter und Vater sich in der Schweiz beide als “Fremde” fühlten und von denen die Kinder angehalten wurden, möglichst gehorsam zu sein und zu schweigen, hatte in der Schule als eine der Begabtesten zugleich Neid wie Bewunderung erlebt. Als junge Erwachsene hatte sie begonnen, Mathematik zu studieren, musste aber nach einigen Semestern das Studium aus finanziellen Gründen abbrechen. Sie nahm eine Anstellung als Buchhalterin an und ermöglichte damit ihren zwei Brüdern eine berufliche Ausbildung. Als ihr infolge von mobbinghaften Intrigen gekündigt wurde und ihr Vater dies als “Schande” für die Familie bezeichnete, fühlte sie sich wie gelähmt und konnte sich nicht wehren. Gleichzeitig liess ihr Freund sie im Stich; es kam es zum Abbruch einer Beziehung, die sie als Lebensbeziehung verstanden hatte. Die zunehmenden Gefühle der Entwertung und Erniedrigung, denen sie ausgesetzt war, weckten die Erinnerung an Erfahrungen, die sie in der Kindheit und Jugend erlebt, aber verdrängt hatte. Doch weder Gefühle des Zorns noch der Auflehnung wagte sie sich zuzugestehen. Sie getraute sich nicht, Bewerbungen für eine neue Arbeitsstelle zu schreiben oder eine berufliche Weiterbildung ins Auge zu fassen, allmählich kaum mehr, die Wohnung zu verlassen. Sie mochte ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr zu sehen. Der Blick der Anderen liess sie in den eigenen vier Wänden nicht mehr frei. Nur noch Erschöpfung und Scham spürte sie, Scham über den Namen, den sie trug und über das Gesicht, das sie hatte.

Als sie sich “ohne Absicht, wie zufällig” mit einem Messer schwer verletzte, dies jedoch mit Entsetzen wahrnahm und selber über die offizielle Telephonnummer nach einem Notfallarzt rief, schämte sie sich über das Ausmass an Scham, das sie zu dieser lebensgefährdenden “Unachtsamkeit” geführt hatte. Die eine Scham veränderte sich zu einer anderen Scham, die allmählich mit dem Bedürfnis von Schutz einherging. Irgendwie konnte durch die Verzweiflung, dass sie sich selber mit dem Blick der Anderen verraten und im Stich gelassen hatte, das erste Mal eine Wut wach werden, die ihren Lebenswillen und allmählich wieder ihr eigenes Wertgefühl anwachsen liess. Sie verstand, dass sie sich selbst Schutz bieten musste, da sie von niemandem Schutz erhalten hatte und erwarten konnte.

Sie bemühte sich um eine therapeutische Unterstützung. Zunehmend spürte sie, wie sich ihr eigener innerer Blick auf sie als Mensch veränderte, wie er zwar noch immer kritisch war, wie aber mehr und mehr liebevolle Sorgfalt ihr selbst gegenüber massgeblich wurde.

Es gelang ihr, die eine Scham von der anderen Scham zu unterscheiden und eine Art Imperativ gegen die eigene Herabsetzung aufzubauen, wie er in einigen Zeilen durch Joanna Lisiak ausgedrückt wird:

“… Halt den Haltlosen!

Boden für die Bodenlosen!

Herzen für die Herzlosen!

Scham für die Schamlosen!

Schutz für die Schutzlosen!

Mittel für die Mittellosen!

Sinn für die Sinnlosen!

Nutzen für die Nutzlosen!

Auswege für die Ausweglosen!

Brot für die Brotlosen![8]” ….

Die komplexe Bedeutung von Scham schliesst den Selbstschutz ein, wenn es gelingt, ein Mass an Selbstvertrauen aufzubauen, das ermöglicht, den Blick nach Innen als stärkende Kraft zu spüren, unabhängig vom vielfältigen Blick von Aussen, der zur “schweren Last von tausend unbarmherzigen Augen” werden kann, wie Léon Wurmser in einem seiner Fallbeispiele festhält[9]. Scham kann mit destruktiver Entwertung verbunden sein, wenn sie mit dem Missbrauch von Macht und willkürlicher Wertbeurteilung einhergeht, durch welche kein stärkendes Selbstwertgefühl entstehen kann; sie kann aber zum abschirmenden und schützenden Mantel werden, wenn dadurch dem eigenen Ich ein unantastbarer Wert zukommt – häufig selbst hinsichtlich der Familienzugehörigkeit, in welcher die eigene Person den Anfang nahm, ohne Wahlmöglichkeiten, auch ohne Einfluss auf Zeit und Status. Es ist ein schwieriger, oft leidvoller Weg, der vom Wunsch geleitet wird, den eigenen Wert trotz aller dunkler, belastender oder sogar lähmender Erfahrungen kennen zu lernen und nie mehr in Frage zu stellen, um tatsächlich den “inneren Kompass”[10] zu finden und befolgen zu können, durch welchen ein angstfreies Leben möglich wird. *

 

[1] Friedrich Nietzsche. Jenseits von Gut und Böse. Aus: Das zweite Hauptstück.  Der freie Geist: Absatz 40 (geschrieben 1885 in Sils-Maria)

[2] Dr. phil. Maja Wicki-Vogt  (geb. 1940) ist Philosophin, Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin in Zürich.

[3] a.a.O. Absatz 160

[4] a.a.O. Absatz 161

[5] In der deutschen Sprache ist die “Ton-Einheit” des “sch…” in den vielen Wörtern, die mit der Bedeutung von “Scham” verbunden sind, eindrücklich, anders als in zahlreichen europäischen Sprachen: so wird mit “shame” im Englischen das meiste ausgedrückt, was “Scham/Schande/Schmach” und “Scham/Scheu” bedeuten; auf Französisch – und analog in den anderen vom Latein beeinflussten Sprachen –  wird mit “honte” und “pudeur” die unterschiedliche Bedeutung zum Ausdruck gebracht etc. etc.

[6] Aus der psycho-analytischen und traumatherapeutischen Litertur empfehle ich Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1997. – Mario Jacoby. Scham-Angst und Selbstwertgefühl. Walter-Verlag, Solothurn Düsseldorf, 1991.

[7] Joanna Lisiak. Cocktails zum Lesen. Verlag Nimrod. Werkstatt-Reihe. Zürich 2000. S. 41

[8] Joana Lisiak. a.a.O. aus: “Anordnung”,  S. 173-174

[9] Léon Wurmser. Die Maske der Scham, cf. 5, S. 228 ff

[10] gemäss Anna Freud

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