Einleitung zu Philosophie und Musik / Philosophie und Kunst / Platon

Einleitung zu Philosophie und Musik / Philosophie und Kunst / Platon  

in der Theaterwerkstätte Luzern am 20. September 2004

 

 

Liebe Heidi Pfäffli

Sehr geehrte Damen und Herren

 

Ich danke für die Möglichkeit, den heutigen Abend mit einigen Überlegungen zu Philosophie und Musik resp. zu Philosophie und Kunst eröffnen zu dürfen. Es bedeutet mir eine Freude, auf das Verbindende und auf das je Besondere der grossen Bereiche denkerischer und empfindungsmässig geprägter menschlicher Arbeit einzugehen, insbesondere auf die Bedeutung, die für den Erkenntnis- und Wissenshunger wie für die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen damit einhergeht.

Leider geschah/geschieht die Auseinandersetzung über Philosophie und Kunst oft im Bedingungsraster von Entweder-Oder, von der Kindheit bis ins hohe Alter, auf allen Passagen der Lebensentfaltung und der damit verbundenen inneren Zeit, die geprägt wird durch vielseitige Abhängigkeit von anderen Menschengeschichten und Zeitgeschichten, durch Begrenzungen und Erfahrungen von Ohnmacht, durch – häufig erstickende – Unterwerfung unter hierarchisch definierte Erklärung von Richtigkeit und Wahrheit, doch gleichzeitig durch die gestaltende Kraft von Grundbedürfnissen, die ungestüm nach Erfüllung streben, insbesondere durch jene der Liebe und der Freiheit, wie durch die vielseitige Kraft der Kommunikation: durch die Vermittlung resp. Übersetzung der inneren Sprache des Empfindens, des Fragens und Erkennens in Sprache, welche die anderen Menschen verstehen können, in die Sprache der Worte, die der sinnesfälligen Zeichen bedürfen, einerseits des Tons oder Klangs, der Betonung und des Rhythmus in der gesprochenen Sprache, die sich verbindet mit der Musik, oder der Bewegung der Hände und des Ausdrucks des Blicks resp. der Augen, schliesslich der Schrift in der geschriebenen Sprache, die Bilder darstellt analog zu jenen der Malerei, mit diesen vergleichbar und trotzdem anders.

Dass nicht Hans Saner hier ist, um wie angekündigt in den Abend einzuführen, mag Sie enttäuschen. Doch gerade diese Enttäuschung mag Ihnen vermitteln, dass auch die Absenz eines Menschen Präsenz bedeuten kann, Päsenz im Verborgenen resp. in der Vorstellung. Platon hielt in der “Politeia” fest, dass “die Vorstellung zwar dunkler ist als die Einsicht, aber heller als die Unkenntnis” (478 c-d). Ob Hans Saner daran dachte, als er mich anfragte, an seiner Stelle hier zu sein, weiss ich nicht, doch die Bedeutung, die der Vorstellungskraft zukommt, mag einen Teil des sokratischen Dialogs vermitteln, durch den zuerst Platon und der ganze Freundes- und Schülerkreis um ihn, insbesondere Aristoteles, geprägt wurden, sodann über alle Generationen hinweg ungezählt viele Frauen und Männer, die danach strebten – und auch heute danach streben -, den Geheimnissen der Lebens- und Weltzusammenhänge auf die Spur zu kommen, ob im privaten Gespräch oder im öffentlichen Raum. Hans Saner und ich haben oft den philosophischen Dialog zu Fragen von politischer Brisanz in der Öffentlichkeit geführt haben, zum Teil mit Insistenz und Verbissenheit, zugleich mit grosser Offenheit, als Philosoph und als Philosophin, ungefähr gleich alt und ungefähr gleich selbständig, sowohl in der Lektüre der grossen Bibliothek der Denkerinnen und Denker, auf welche sich unser Beruf abstützt, wie in der kritischen Auseinandersetzung mit deren Theorien und mit den aktuellen Erklärungen von Wahrheit: ungefähr gleich, doch gleichzeitig sehr ungleich.

Damit finden wir uns erneut mitten in Platons “Politeia” – nicht nur was Platons Forderung nach gleicher Erziehung, Bildung und öffentlicher Aufgabenverteilung für Frauen und Männer betrifft, sondern auch was den Wert des Ungleichseins, jenen der je einzelnen – sowohl geschlechtlich wie herkunftsmässig beeinflussten – Besonderheit betrifft, der individuellen Nicht-Austauschbarkeit, die geprägt ist zugleich vom Alleinsein wie vom Bedürfnis des Nicht-Alleinseins, resp. der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Auch darin äussert sich ein Grundbedürfnis – jenes nach Sicherheit -, das nur erfüllt werden kann, wenn für Menschen die gleichen Grundrechte und Grundregeln gelten, wenn jene soziale Grammatik, die das Subjekt-Objekt-Verhältnis ertragbar macht, beachtet wird. Es war eine Erkenntnis, die Platon dem städtischen Zusammenleben – man könnte sagen jeder Art von Zusammenleben – zugrundelegte: …”weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf” (369 b ff).

Es scheint mir von Bedeutung zu sein, die Untersuchung von Platons Geschichte und Werk in unsere Aktualität hineinzuholen: Die Zeit des Übergangs vom fünften zum vierten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, als Platon in Athen zur Welt kam (im Jahr 427 v. Chr.), dort heranwuchs und gegen 90 Jahre alt wurde, war eine Zeit voller Kriege und politischer Wirren gewesen, voller Intrigen und gegenseitigem Betrug der Mächtigen und Machthungrigen, voller Ausdehnungs- und Beherrschungswünsche im Mittelmeerraum und weit darüber hinaus.  Platon hiess eigentlich Aristokles, Sohn seines Vaters Ariston und seiner Mutter Periktione, die von Solon (643-559 v. Chr.), dem Nachfolger Hesiods,  abstammte. Solon hatte sich gegen Machtwillkür sowie gegen Herabsetzung der einen Menschen durch andere eingesetzt, hatte den Wert der Arbeit, des Rechts und der Sittlichkeit vertreten, quasi als männlicher Verteidiger dessen, was in der Mythologie die Bedeutung der drei Horen  – Eunomia, Dike und Eirene – war, der Töchter des Zeus und der Themis (einer Tochter der Urmutter Gaia). Es waren diese drei Schwestern, welche je einzeln die Gesetzlichkeit, das Recht und den Frieden darstellten, zusammen die Zeit, die etwas reifen lässt und letztlich Reife und Schönheit selbst bedeutet.

Platon gehörte somit einer gesellschaftlich hoch stehenden und privilegierten, “von den Göttern” bevorzugten Familie an, deren Familienwert von seiner Mutter geprägt wurde. Sie stellte die kreative, gerechte und lebensschützende Kraft des Weiblichen dar. Anzunehmen ist, dass er von ihr so geliebt wurde und sie so sehr liebte, dass er keiner weiteren Frauenliebe mehr bedurfte oder keiner mehr fähig war, sondern, wie er in einigen seiner Texte festhielt, “die Knabenliebe vergöttlichte”. In seiner Funktion als Sohn aber wurde er von seinem Vater unter Druck gesetzt, dem väterlichen Vorbild in beruflicher  resp. karrieremässiger Hinsicht nachzukommen und Politiker zu werden. Platon, der nicht nur im Geistigen, sondern auch in seiner Körperlichkeit hingerissen war von allem, was er als “schön” erachtete – “Wenn es etwas gibt, wofür zu leben lohnt, dann ist es die Betrachtung der Schönheit” (Symposion  211 d) – hatte Mühe, dem ihm als Pflicht auferlegten Streben nach Erfolg nachzukommen. Er wäre gerne ein Dichter – ein Künstler – geworden, doch damit kam er in Konflikt mit sich selbst, mit seinem “daimonion”. Als Nachkomme Solons, als den er sich und sein eigenes Handeln beurteite, hätte er als Künstler wie als gesellschaftlicher und politischer Karrierist “Gewissensbisse” empfunden.

Dass er das Recht hatte – “Recht” im Sinn von Dike, der mittleren der drei Horen –, sowohl den weiblichen wie den männlichen Teil in sich zu akzeptieren und zu fördern, d.h. sowohl das Streben nach Schönheit wie nach Gerechtigkeit und Ordnung im Staat zu beachten, dass diese Teile in ihm nicht Widerspruch, sondern Ergänzung bedeuteten, ja dass in der Verbindung der unterschiedlichen Kräfte in ihm letztlich seine Identität, sein tiefstes Streben – jenes nach Wahrheit –  bestand, all dies wurde ihm klar, als er Sokrates (469 – 399 v.Chr.) begegnete und sich von dem, was “Philosophie” heisst – zugleich Wissbegierde und Liebe zur Weisheit –, so überzeugen liess, dass er sich der Philosophie verpflichtete und sich selber als “Philosophen” empfand. So begann er als junger Erwachsener, sich im praktischen Leben seiner Zeit, die der kritischen, sorgfältigen und bewussten Neuorientierung des Staates bedurfte, als Philosoph einzusetzen, auch auf den grossen und gefährlichen Reisen, die er unternahm, in der Verarbeitung menschlicher Enttäuschungen, jener von Betrug, Verlust von Freundschaft und Tod geliebter Menschen, insbesondere Sokrates’ Tod, letztlich über das Denken – über die Idee – in der Fortsetzung seines nicht von den Sinnen, sondern von der Vernunft, nicht von der blossen Natur, sondern von deren Abstraktion gesteuerten Suchens nach Erkenntnis des Seins all dessen, was ist.

Gewiss, Platons dialogische Vermittlung von Wissen bedurfte immer der Kunst der Sprache,  jedoch nicht gemäss der dichterischen Freiheit im Vermitteln der Affekte, sondern gemäss der kunstvollen Umsetzung der reinigenden und klärenden Abstraktionskraft des Denkens, unter Einbezug des Regelsystems der Grammatik. Allein die Herrschaft der Vernunft war für Platon Gewähr für die rechte Ordnung der Seele. Ich nehme an, dass eine Grundhaltung der Angst ihn bewegte, dass er daher heftige Erregtheit als schädlich zu erachtete, dass leidenschaftliche Emotionen für ihn eine Gefahr bedeuteten, die Erkenntnis des guten Lebens, die er mit der Philosophie verband, zu zerstören, eine Gefahr, die zu bannen er sich auferlegte.

Diese angstbesetzte Grundhaltung gegenüber der Kraft der Gefühle beherrscht auch die Menschen in der heutigen Zeit, bewegt sie zum Ausweichen – insbesondere zum digitalen Ausweichen – auf die Ebene der abstrakten Begrifflichkeit unter der Vorgabe wissenschaftlicher Richtigkeit. In der griechischen Denkepoche, in welche wir eingestiegen sind, bedurfte es des neuen Ansatzes von Aristoteles, der bei Platon studiert hatte, ohne sein eigentlicher Schüler zu sein. Immer bedarf es der Söhne resp. der Schüler, um das, was die Vaterfiguren als Wahrheit erklärten, neu zu hinterfragen und zu klären. Durch Aristoteles wurde der schöpferischen Bedeutung der Kunst – der Dichtung, der Musik und des Tanzes, ebenso der malerischen und bildhauerischen Kunst – den hohen Wert “kathartischer” Erfahrungen zugestanden, sowohl auf der aktiven wie auf der passiven Seite des Erlebens, den Wert “reinigender”, klärender und damit stärkende Erfahrungen des Menschen in der Kenntnis seiner selbst.

Die grossen menschlichen Bedürfnisse wurde damit erkannt, wie sie Jahrhunderte später vor allem durch die psychoanalytische Untersuchung Bedeutung erlangten. Doch schon 1794, ein gutes Jahrhundert vor Freud, hielt Friedrich Schiller in seinen  Briefen “Über die ästhetische Erziehung des Menschen” wichtige Erkenntnisse fest, fünf Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution, die sich zu einer Diktatur der ideologischen und menschlichen Gewalt entfesselt hatte und nicht zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung führte. Mir scheint, dass es die kunstschaffenden menschlichen “Triebe” sind, die Platon mit Angst erfüllt hatten und deren Nicht-Verdrängung für Aristoteles Bedingung der nicht-destruktiven Umsetzung menschlicher Gestaltungspotenzen bedeutete, die Schillers Verständnis von “Stofftrieb”, den er mit dem Drang nach immer neuen Erfahrungen verband, sowie von  “Formtrieb”, den er mit dem Streben nach persönlicher Identität in Verbindung brachte, nahe kommen, dass auch der “Spieltrieb” dazu gehört, den Schiller auf dialektische Weise in der Verbindung des einen menschlichen Grundtriebs mit dem anderen verstand. Der Spieltrieb strebt danach, Reziprozität zu erlangen, resp. mit Schiller’s Worten, “so zu empfangen, wie es der Mensch selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet”.  Die persönliche Freiheit, die sich darin manifestiert, bringt zustande, was Schiller als zeitenthobenen “ästhetischen Zustand” bezeichnete, letztlich was für uns in der heutigen Zeit “Kunst” bedeutet: einen hohen Wert gestalterischer Vermittlung und persönlicher Erfahrung von menschlichem Können.

 

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