Faszination Opfer? Aula-Gespräch am 15. Juni 2005, Universität Zürich-Zentrum

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Faszination Opfer?

Aula-Gespräch am 15. Juni 2005,  Universität Zürich-Zentrum

 

Überlegungen zum Thema:

–    Das Gesprächsthema hat einen theologischen Impuls: Es ist die evangelisch-reformierte Landeskirche von Zürich, die dazu einlädt, vermutlich in Fortsetzung der Opfer-Disputation, die 2001 stattfand und die veröffentlicht wurde[1]. Interessant erscheint mir, dass 2001 gleichzeitig  auch die ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt begann, in deren Mitte wir uns nun, im Juni 2005, befinden[2].

Jede Art von Gewalt bewirkt Opfer, und jedes Opfer ist schwer tragbarem Leiden ausgesetzt, das nie gerechtfertigt werden kann oder darf, ob es sich um körperliches oder psychisches Leiden handle. Damit befasste sich die damalige Disputation kaum; es ging in erster Linie um eine Fortsetzung unterschiedlicher religiöser Begründung von Opferbereitschaft. Die Frage stellt sich, ob und wie eventuell das heutige Thema den Folgen von Gewalt – den Opfern von Gewalt – auf andere Weise nachgeht. Es wagt sich innerhalb des theologischen Impulses insofern weiter vor, indem die “Faszination Opfer” nicht einfach mehr behauptet, sondern in Frage stellt wird.

–    Das Gesprächsthema hat daher zugleich einen kritischen Impuls: es verbindet sich mit einem Fragezeichen. Theologie – auf welche Religion sich Theologie auch beziehe – und kritische Impulse sind in der Regel schwer vereinbar. Fragezeichen setzen, offiziellen Glaubenserklärungen gegenüber Skepsis manifestieren und sie kritisch hinterfragen wird kaum oder nicht geduldet. (Ein Beispiel ist die 2001 in der Opfer-Disputation öffentlich erfolgte Herabsetzung der kritischen feministischen Theologin Regula Strobel durch die professoralen Theologen Ingolf U. Dalferth, der an der aktuellen Diskussion teilnimmt, und Hans Weder).

Da mein Fachgebiet nicht die Theologie, sondern die Philosophie ist, auch die Psychoanalyse und die Traumatherapie steht mir die Skepsis zu. Kritisch denken und forschend nachfragen sowie  kritische Überlegungen aussprechen gehört zu meinem “Fach”. Ich erlaube mir daher, auf nicht-theologische Weise in zwei Schritten die Themen, die mit der Fragestellung einhergehen, zu untersuchen:

  • die Fragestellung selber mit der Hinterfragung der Begriffe “Faszination” und “Opfer”;
  • die Folgen der in den Religionen kaum oder nur schwer zugelassenen Skepsis gegenüber der durch religiöse Hierarchien erklärten Richtigkeit oder Notwendigkeit der Opfer und Opferbereitschaft bis zum Opfer- und Martyrerkult.

 

(1) Was geht einher in der Verbindung von “Opfer” mit “Faszination”?

Die Verbindung von “Opfer” mit “Faszination” weckte in mir zuerst Abwehr, gleichzeitig ein Bedürfnis zu klären, warum die Verbindung der zwei Begriffe diese Reaktion bewirkte. Es geht in erster Linie um sprachanalytische, psychische und erkenntnistheoretische Zusammenhänge, welche sich mit gesellschaftsanalytischen – mit historischen ebenso wie mit aktuellen – verbinden.

(1a) In sprachanalytischer Hinsicht geht es um die Bedeutung von “Faszination”, abgeleitet vom lateinischen Verb “fascinare”, das “verzaubern”, “blenden”, auch “betören” heisst. (In etymologischer Hinsicht werden mit “fascinare” auch Erinnerungen an die mussolinischen “fasces” geweckt, an die “Bündel”, welche als Zeichen der italienischen faschistischen Diktatur Millionen von Menschen “betörten”).  Faszination bedeutet somit menschliche “Blendung” und “Betörung”, ob in sinnlicher oder in emotionaler, in intellektueller oder in moralischer, in politischer oder in theologischer Hinsicht. Von der Bedeutung des Wortes her bewirkt Faszination menschliches Benommensein und dadurch Gefügigsein, Ausschaltung des kritischen Denkens und Mitläufertum. Tatsächlich besteht hierin der Zweck jeder Ideologie – ob es religiöse oder politische Ideologien seien. Jede Ideologie strebt an,  Menschen zu blenden, um sie benommen, hörig und gefügig zu machen resp. um hörige Zugehörigkeit zu bewirken. Gefügig sein entspricht einem Ideal, das zu erreichen angestrebt wird. Dabei wird die Tatsache, dass das Ideal fiktional ist, als Wirklichkeit vorgegeben. Die damit einhergehende Täuschung ist die verhängnisvolle Bedeutung von Faszination: es geht um die Idealisierung der Fiktion, welche sich von der Wirklichkeit des Lebens abwendet. Sie kann tödlich sein.

Der Täuschungszweck einer Ideologie wird auf vielfache Weise erreicht. Eine wichtige Tatsache ist, dass er sich mit der Macht – oder eher dem Herrschaftsanspruch – des als “göttlich” erklärten “logos” verbindet, mit in Worten verfassten und verkündeten Theorien, die als richtig oder als wahr erklärt werden. Ob es um Theologie oder um eine politische Ideologie gehe, es ist eine “Logokratie” damit verbunden, resp. ein “Herrschen” (gr. “kratein”) im Verfügen über den “logos”, sei es in Zusammenhang dessen, was unter dem Wort “Gott” (gr. “theos”) einhergeht oder unter dem Wort “Idee”, (gr. idea” – Aussehen, Erscheinung, “idein” – sehen, erblicken, immer auf subjektive Weise). Theologie als Logokratie lässt Skepsis nicht zu, da mit jeder Logokratie eine Alleinrichtigkeit in der Deutung des “logos” einhergeht.

Dass trotzdem das heutige Gespräch stattfindet, ist eine Chance, die ich hoch schätze.

Es gilt zu klären, ob und warum Menschen sich durch das, was “Opfer” bedeutet, blenden und betören lassen. Ist diese Tatsache nicht von unverständlicher Absurdität, da es dabei um Leben geht und da Leben nicht fiktional ist?[3]

Wieder gehe ich zuerst sprachanalytisch vor:

(1b) Das deutsche Wort “Opfer” ist ein Neutrum: “d a s”  Opfer. Jedes Opfer ist Gegenstand oder Ding resp. Objekt von “Opferung”, selbst wenn “es” in grammatikalischer Hinsicht als Subjekt erscheint. Das Opfer ist immer ein “es”, d.h. ein nicht-menschliches Ding, so wie in der deutschen Sprache auch “das” Leben nicht in Verbindung mit einem menschlichen Genus steht. Gleichzeitig gilt festzuhalten, dass “Mensch” in den Sprachen, welche die europäische Kultur- und Religionsgeschichte prägen, ausschliesslich männlich artikuliert wird (gr. “aner, Gen. andros”, lat. “homo, Gen. hominis” etc.). Diese Tatsache geht in der deutschen Sprache mit dem Neutrum resp. der Dingerklärung von “Kind”, “Mädchen”, “Weib” u.a.m. einher.

Der Unwerterklärung, die sich darin verankert, entspricht auch die Tatsache, dass das lateinische Wort “victima” (zugleich “Opfer” und “Opfertier”) im Lateinischen in sprachlicher Hinsicht nicht Neutrum, sondern feminini generis ist, d.h. rechtlos gemäss dem patriarchalen römischen System. Das lateinische “victima” hat sich in allen europäischen Sprachen weiter erhalten (la victime, la vitima, the victim etc.), in der deutschen Sprache u.a. im Begriff “Viktimologie”, einem Teil der Kriminologie, in welchem es um die Beziehung zwischen Verbrecher und Opfer geht. (In etymologischer Hinsicht findet sich die lateinische Ableitung von “victis”/ “victus” – “geweiht” / das “geweihte Tier” im gotischen Wort “weihs” sowie im germanischen “wiha”, die beide “heilig” bedeuten, noch immer in dem, was unter “Weihe”, “Einweihung”, “Weihrauch” etc. verstanden wird).

Auch das lat. Wort “sacrificium”, das in den christlichen Religionen meist gebraucht wird, bedeutet zugleich “Opfer” und “Opfertier” (abgleitet von “sacer” – “einer Gottheit geweiht, heilig” und “facere, ficere” – “machen”, “ficiens/ficium” – machend). In der Form des neutralen Partizip praesens “-ficium” wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass jemand/etwas als Objekt der Opferung  ausgesetzt ist: “sacri-ficium” heisst, dieses durch die Opferung als Opfer “heilig machend”.

Interessant scheint mir, dass auch die etymologische Untersuchung des deutschen Wortes “Opfer” und “opfern” über das mittelhochdeutsche “opper” und “oppern” auf das lateinische “operari” (sinngemäss mit “facere” verwandt) verweist[4], was ursprünglich zugleich die Bedeutung hatte von “beschäftigt sein” und “ein Opfer verrichten”. Nachgewiesenermassen ging “operari” in diesem Sinn ins Kirchenlatein ein, wurde so u.a. auch durch Augustinus verwendet, sowohl in der Bedeutung von “Opfer bringen, opfern” wie von “Almosen spenden”. (Erwähnenswert erscheint mir im Zusammenhang der deutschen Bedeutung von “Opfer, opfern”, dass die Germanen dafür ein weiteres Wort brauchten: das aus dem Gotischen abgeleitete “blôtan”, althochdeutsch “bloathan”, das in “Blut, bluten” erhalten ist).

In der ursprünglichen Wortbedeutung von “victima” und “sacrificium” – auch von “Opfer” – findet sich ein Unterschied höchstens im Genus, wobei Weiblichsein und Neutrumsein in rechtlicher Hinsicht in der römischen Kultur sowie in den daraus abgeleiteten europäischen Kulturen bis in die jüngste Zeit von gleicher Bedeutung waren (zum Teil leider noch sind). Frauen stand ebenso wenig Recht zu wie Dingen. Dass der kirchlich geschaffene Aspekt von “sacer” sich in “sacrificium” ausgesagt findet, verstärkte/verstärkt die moralische Bedeutungsmacht von “Opfer” Gläubigen gegenüber.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in  sprachanalytischer Hinsicht keine positive Bedeutung von “Opfer” findet. Immer geht “Opferung” damit einher, sei es eine blutige Opferung, sei es eine stellvertretende – psychische, existentielle, materielle – Opferung, immer gemäss “hierarchischen” Macht- und Herrschaftskriterien (gr. “hieros” – “heilig”, lat. sacer”), die weder hinterfragt noch in Frage gestellt werden dürfen. Bei jeder “Opferung” geht es somit um die Benutzung von lebendigem Leben (von Tieren, von Menschen) zu einem als notwendig oder als “heilig” erklärten Tötungszweck(cf. *). Lebendiges Leben wird zum Objekt gemacht, um geschlachtet, verspiesen (ev. wird das Blut getrunken), verbrannt, auf irgend eine Weise “getötet” zu werden (körperlich, psychisch, existentiell) etc. – all dies zu “heiligen” Zwecken.

Zu ergänzen: Die Verwendung von “Opfer” im Sinn von Almosen verweist auf eine stellvertretende Verschiebung der Opfergabe von Leben auf Geld. Indem die fürsorgliche Gabe als “Opfer” bezeichnet wird, geht das selbstverständliche Weitergeben dessen, was zu viel ist an jene, welche zu wenig haben, in der ursprünglichen, letztlich primärsozialistischen Bedeutung von ” Almosen” als mitleidvolle Wohltätigkeit (gr. “eleemosyne”, aus “eleemon” – mitleidig, wohltätig), resp. von tätiger Gerechtigkeit verlustig. Es wundert nicht, dass Jesus, der diese primärsozialistische Haltung vertrat, gegenüber der religiösen Macht der Rabbiner ebenso wie gegenüber der politischen Macht der römischen Besetzer als gefährliches Element eingeschätzt wurde, das nach den hierarchischen Kriterien selber dem System der Opferung resp. der Tötung ausgesetzt werden musste.

Es ist ein entsetzliches Erbe von Gewalt, das mit dem Wort “Opfer” einhergeht.

Welche Art von Geistesprägung wirkt sich mit diesem sprachlichen Erbe aus, das über Jahrhunderte und Jahrtausende bis in die heutige Zeit durch die Religionen und religionsähnliche Ideologien benutzt wurde? Es ist offensichtlich,

  • dass Lebensverachtung damit einhergeht, eine Verachtung menschlichen Lebens und menschlichen Leidens,
  • dass die Verachtung menschlichen Lebens nicht für jedes menschliche Leben galt/gilt, sondern von hierarchischen Machtinstanzen – religiösen, staatlichen etc. – und deren Entscheid abhing/abhängt,
  • dass auf Grund dieser Entscheide Menschen bedenkenlos zu Opfern gemacht resp. getötet wurden/werden, mit unterschiedlicher Beurteilung ihres Todes: falls die “Opfer” in Übereinstimmung mit ihrer Religion waren/sind, wurden/werden sie – entsprechend der Bedeutung des griechischen “hieros” als “heilig” (oder als “heldenhaft”, “Held/Heldin”) erklärt, falls sie nicht mit der Religion übereinstimmten/übereinstimmen oder davon abwichen/abweichen, wird deren Tötung als selbstverschuldet resp. als gerechte Strafe oder als notwendig im Zusammenhang eines “heiligen” Kriegs oder einer “Säuberung” bezeichnet (kath. Inquisition, Kreuzzüge, “Heiliger” Krieg, amerikanische u.a. Todesurteile, ethnische “Säuberungen”, amerikanischer Krieg “gegen das Böse” etc).

 

(1c) Eine der dringlichsten Fragen ist, warum und wie es dazu kam, dass die Tötung von lebendem Leben, die Tötung von Menschen durch Menschen die Opfer mit dem “positiven”, ev. erstrebenswerten Rang von “heilig” oder “heldenhaft” verband.

Die sorgfältige Untersuchung der erhalten gebliebenen Dokumente zeigt auf, dass schon in den alten Kulturen Wahlmöglichkeiten in den menschlichen Verhaltensweisen dem Unerklärbaren gegenüber bestanden, das als “göttlich” oder als “heilig” erklärt wurde. Zu beachten ist beispielweise der Unterschied zwischen der gewaltfreien orphischen Lehre, gemäss welcher die Tötung von Tieren nicht zugelassen war, und der Thora, welche noch immer sowohl der jüdischen wie auch der christlichen Religion als Ursprung gilt und für welche die animalisch anmutenden “Opferungen” als religiöse Handlung galten, selbst wenn sie in Schlächtereien ausarteten. Die religiösen Rituale gingen einher mit der Bändigung  des Unbekannten und Fremden sowie mit der “Beherrschung” dessen, was als Besitz angestrebt wurde: es ging um Land und um Menschen. Die Tötungen von Menschen in Eroberungen und Schlachten wurde ebenso wie die Tötung von Tieren in religiösen Ritualen als “notwendig” oder als “gerecht”, häufig sogar als “gottgewollt” erklärt und bei Siegen entsprechend gefeiert.

Worum ging es dabei?

  • Beherrschung dessen, was als Besitz angestrebt wurde, war der eine Zweck dessen, was mit dem als “heilig” erklärten Tun resp. “facere” der Opferungen einherging. Ein weiterer Zweck der Opferungen war die Bändigung der Angst vor den nicht erklärbaren Katastrophen der Natur (cf. **), die während Jahrhunderten als Zorn der Götter; Jahwes etc. sowie als erforderte Wiedergutmachung ungenügender Befolgung von Geboten oder Verboten resp. von “Sünden” (cf. ***) etc. erklärt wurde.
  • Gleichzeitig aber ging/geht es – vermutlich in allen Zusammenhängen, in welchen Menschen und Tiere als Opfer benutzt werden, um Befriedung der Triebhaftigkeit, um Demonstration von Potenz, von Stärke und Macht, von Beherrschung anderer Lebewesen – Tiere und Menschen – bis zu deren Tod. Was in der analytischen Diagnose menschlicher Brutalität mit nicht kontrollierbarer Triebhaftigkeit einhergeht, mit individueller, die sich in kollektive ausweiten kann, wird von den Religionen in fundamentalistischen Zusammenhängen als notwendig bezeichnet, wenn es eigenen Zwecken dient, wenn es dagegen nicht eigenen Zwecken dient als “Sünde”, für deren Gutmachung wiederum “Opfer” resp. “Tötungen” gefordert werden.

Nach der tödlichen Folter, die Jesu durch die römische Besetzungsmacht – mit dem Einverständnis der Rabbiner – angetan worden war, wurde in der Anhängerschaft, die nach einiger Zeit zur anderen – zur christlichen – römischen Herrschaft wurde, offenbar jede Art von Gewalt und jedes Leiden, das Menschen angetan wird, als notwendig erklärt, um gottähnlich zu sein. Warum kam es nicht zum Aufbegehren gegen Gewalt? Sollten die Täter entlastet werden, indem den Opfern Heiligkeit oder Heldenrang versprochen wurde? Wieder stellt sich die Frage: Was ist der Zweck der ideologischen Betörung von Menschen? Führt nicht diese zur qualvollen Tatsache des auch heute wieder zunehmenden Opfer- und Heldenkults (durch selbstgefährdende Sportleistungen, durch Selbstmord-Martyrerattentate, die sich seit den japanischen Kamikaze  Ende des Zweiten Weltkriegs überall in der Welt fortgesetzt haben etc.)?

Was bedeuten Worte?

Worte, welche die Tatsache von unmenschlicher Gewalt wiedergeben sollen, dienen zumeist der schönigenden Täuschung resp. Blendung oder Betörung. Ein aufwühlendes Beispiel geht mit der Bezeichnung der durch den Nationalsozialismus bewusst geplanten und durchgeführten Tötung von Millionen von Menschen einher, deren Leben durch die politische Ideologie als “unwert” erklärt wurde:

  • (zu *) Mit der Bezeichnung “Holocaust” wird das griechische Verb “holokautein” – “ein Brandopfer bringen” verwendet. Durch das Wort “Holocaust” wird, was jedem einzelnen Menschen gegenüber Mord und Verbrechen war und was im Zweiten Weltkrieg daher ein millionenfaches Verbrechen war, sprachlich mit religiös legitimierter “Opferung” bezeichnet.

Die Frage drängt sich auf, ob “Faszination” im Sinn von “Blendung” vom Wort ausgeht, sobald damit etwas bezeichnet wird, das in Verbindung mit etwas sog. “Heiligem” steht?  Ob das Wort “Mord” und “Verbrechen”, wenn es um “Opferung” und “Opfer” geht, als “Blasphemie” resp. “Lästerung von etwas Heiligem” (gr. phanai” – “sagen, reden, aussprechen”, “phemi” – “ich sage”) erklärt wird?  Doch durch wen und zu welchem Zweck?  Warum wird ein Wort wie “Holocaust” kritiklos angenommen, verwendet, wiederholt und als “richtig” erklärt?

  • (zu **) Ebenso befremdlich ist die Bezeichnung der millionenfachen Leiden, Erniedrigung und Ermordung von Mensch und Mensch und Mensch als “Shoa”. Die hebräische Bedeutung von “shoa” ist jene für “Naturkatastrophen” (z.B. Unwetter resp. Wolkenbruch mit Verwüstung des Landes, Vulkanausbruch, Überschwemmung etc.).

Wieder gilt zu fragen: Zu welchem Zweck wird die Tatsache der bewussten und gewollten, verbrecherischen Tötung von Menschen durch Menschen durch ein Wort “abgeblendet”, das sich auf die Unausweichlichkeit  eines Naturereignisses bezieht? Was geht damit einher?

 

  • Warum lösen religiöse Opferforderungen Faszination statt Skepsis aus? – resp. Wer lässt sich warum betören?

In analytischer Hinsicht steht fest, dass ein sich fortsetzender Mangel in der Erfüllung von Grundbedürfnissen, welche Menschen von der frühen Kindheit an erleben, vielfältige prägende Folgen bewirkt. Bei den Grundbedürfnissen geht es um zentrale Werte menschlichen Lebens, deren Erfüllung zu den Grundrechten jedes Menschen zählen, unabhängig von kultureller Herkunft und Religion, unabhängig von gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Status, unabhängig von Geschlecht und Alter, von Gesundheitszustand oder Hautfarbe: es geht um das Bedürfnis und das Recht, das Leben als unvergleichbaren und unaustauschbaren Wert in Sicherheit und liebevoller Achtung zu erleben, ebenso um das Bedürfnis und das Recht, Freiheit im Fragen und Lernen, im Entscheiden und Handeln umsetzen zu dürfen, ohne Erniedrigung und ohne Zwang, letztlich ohne Angstbesetztheit, in einer Reziprozität von Aufmerksamkeit und Respekt zwischen Erwachsenen und Kindern.

Sind die frühen Lebensbedingungen jedoch durch Mangel in der Erfüllung der Grundbedürfnisse geprägt, durch wenig Fürsorge und wenig Rücksicht, durch sich fortsetzende Furcht und Angst nicht zu genügen, entsteht ein Unwertgefühl, das zum psychischen Hunger wird, mit vielfachen Folgen. Zu den Folgen gehören einerseits widerstandslose Anpassung, Gehorsam, Unterwerfung, kritikloses Erfüllen von Forderungen, um endlich als Mensch Anerkennung zu erfahren, weniger wertlos zu sein, sondern “dazu zu gehören”. Das von den Religionen erlassene Tugendregister, in welchem Demut und Gehorsam an vorderster Stelle stehen, galt/gilt nie für die Mächtigen selber, sondern richtete sich an die  Machtlosen und Schwachen, an diejenigen, welche als minderwertig oder gar als rechtlos erklärt wurden/werden, insbesondere an Frauen und Kinder, an Fremde und Arme. Sich unterwerfen und dulden ist Ausdruck von vielfach geschwächtem Lebenswert, von mangelndem Selbstwertgefühl, von Resignation, Deprimation und Depression, von Ausweglosigkeit und Handlungsohnmacht.

Das durch psychische und existentielle Mangelerfahrung geprägte Unwertgefühl kann andererseits einen kämpferischen, aggressiven Widerstand wecken, ein Bedürfnis, den nicht anerkannten Lebenswert zu kompensieren, als Antwort auf das Geschlagenwerden zurückzuschlagen, auf nicht ertragbare Erniedrigung und Entwertung mit Rache zu antworten, sei es den Mächtigen – den Tätern – gegenüber, sei es gegenüber noch schwächeren Menschen die Stärke zu beweisen. Die psychoanalytische Untersuchung sog. “schwer erziehbarer” Kinder und aggressiver Jugendlicher eröffnet immer ein lange  Geschichte erlebter Erniedrigung und Gewalt, ebenso wie jene depressiver, anorektischer oder übergewichtiger, medikamenten- oder drogenabhängiger junger Menschen auf schwere Mangelbelastungen und Gefühle lähmender Ausweglosigkeit verweist.

Was im individuellen Leben der Menschen prägend ist, prägt das Zusammenleben und das kollektive Verhalten. Selbst wenn über Jahrhunderte von den Religionen menschliche Unterwerfung unter demütigende und entwertende hierarchische Strukturen sowie das Erdulden von Leiden als “gottgewollt”, daher als notwendig gepredigt wurde/wird, kann es nach generationenlangem , zunehmend lähmendem Ertragen zum Aufstand gegen die erzwungene Opferpflicht kommen. Frantz Fanon’s Buch “Les damnés de la terre”[5] ist eine sorgfältige Untersuchung der Tatsache von Aufstand und Widerstand, der zum Kampf um Freiheit und Rechte, um Unabhängigkeit und menschlichen Wert führen kann.

Eine andere Reaktion auf die nicht mehr ertragbare Fortsetzung von Entrechtung und Diskriminierung kann – vor allem unter dem Einfluss von Religionen – die Umkehrung von passiver in aktive Opferhaltung sein, in jene Märtyrerbereitschaft, die von Jeanne d’Arc über die japanischen Kamikaze bis zu den aktuellen Selbstmordattentäter und –attentäterinnen zu kultischer Verehrung führte, eine Verehrung, die nicht dem Leben gilt, sondern dem Tod[6]. Die Hintergründe der einerseits durch Fremdherrschaft und Entwertung, andererseits durch religiöse Betörung bewirkte aussichtslose Selbstaufopferung ist letztlich Resultat nicht zugelassener kritischer Hinterfragung religiös begründeter Forderungen sowie Ersatz für Selbstwert im gelebten Leben.

Opfersein ist  n i e  ein Grundbedürfnis.

 

 

Überlegungen als Anhang:

Was sind Religionen? Vom Standpunkt der Philosophie her können sie vieles sein:

– sinnstiftende Erklärungsversuche für das Absurde, für Entstehen und Vergehen, für Leben und Tod (ohne “condition humaine” keine Religionen);

– oder  betrügerische, aufs Jenseits projizierte Erlösungsangebote für die im Diesseits glücksbetrogene, leidende Menschheit, zur Zementierung ihrer Komplexitätstoleranz und zur Verhinderung ihres Aufbegehrens (ohne Sterblichkeit einerseits, ohne soziale Ungerechtigkeit andererseits keine Religionen);

– oder eine mächtig zementierte Über-Ich-Konstruktion zum Zweck der Aufrechterhaltung von Unmündigkeit und Verhaltenskontrolle (religiös begründete Verbote, Gebote, Sittlichkeitsnormen etc.);

– oder Versuche, den Bereich des Immateriellen, des Geistigen, der Transzendenz zu organisieren, zu hierarchisieren, zu bevölkern, mit Kausalität (Schöpfung) und Finalität (Himmel resp. Hölle) zu verbinden, zu verwalten (Kirchen, religiöse resp. kirchliche Funktionäre) etc. und eine Zugehörigkeit zu vermitteln (lat. “religio” – “re-ligare” – “re-legere” enthält vielfache Bedeutung, sowohl “gewissenhafte Beachtung von Heiligem” wie auch  “verbunden/angebunden sein”, ev. auch “wieder lesen”).

“Religion” ist zu unterscheiden von “Religiosität” resp. Glaube / Gläubigkeit. Letzteres geht  einher mit einem emotional geprägten Bedürfnis

  • nach persönlicher Beziehung zu einer transzendenten göttlichen Allmacht,
  • nach Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, das sich im gleichen Bedürfnis zusammenfindet und das sich hierarchisch definierten Geboten und Verboten als Bedingung der Zugehörigkeit und Gefolgschaft unterwirft,
  • nach Ritualen, welche den Geheimnissen sowie den Stationen von Leben und Tod eine Struktur geben,
  • nach Verbindung von Gefügigkeit und Gehorsam mit innerer Sicherheit sowie nach Tugendhaftigkeit im Verzicht auf kritische Hinterfragung dessen, was als religiöse Wahrheit von hierarchischer Seite erklärt wird.

 

Die wesentliche Frage bleibt: Wie können Religionen sich von Ideologien unterscheiden resp. sich vom Faszinationskult des Ideologischen befreien, so dass sie sich gegen Verblendung und Opferkult entscheiden? Ist dies bei monotheistischen Religionen überhaupt möglich?

 

 

[1] Hans Jürgen Luibl / Sabine Scheuter (Hrsg.). Opfer. Verschenktes Leben. Pano Verlag, 2001 Zürich

[2] Beginn der Dekade war am 26. April 2001.

[3] Interessante Überlegungen dazu bei Connie Palmen. Idole und ihre Mörder. (Niederländisch 2004 bei Stichting Maandvan de Filosofie, amsterdam), deutsch: Diogenes Verlag, Zürich 2005.

[5] Paris 1961 (Edition François Maspero); dt. Frankfurt a.M. 1966 (Die Verdammten der Erde, Verlag Suhrkamp)

[6] beachtenswert sind die Untersuchungen von Joseph Croitoru. Der Märtyrer als Waffe. Carl Hanser Verlag,  München/Wien 2003.

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