Der weibliche Blick auf den „oikos“

Der weibliche Blick auf den „oikos“

 

Seit der Antike galt Verfügungsmacht über Geld und Vermögen als patriarchales Vorrecht. Diese Verfügungsmacht war, unter anderem, Ausdruck von Freiheit. Der Raum der Freiheit war die „agora“, der „offene“ Platz, wo die Geschäfte der „polis“ durch ein Quorum „Gleicher“, d.h. einander gleichgestellter besitzender Männer verhandelt und beschlossen wurden. Freiheit war Bedingung für das, was als höchstes Gut anzustreben war: die „eudaimonia“, das „Glück“. Zur „eudaimonia“ gehörten Wohlhabenheit, Gesundheit und die Fähigkeit, mittels der Sprache das Geschick der „polis“ mitzubestimmen

„Eudaimonia“ war für die „Ungleichen“, für Frauen und Sklaven, zum vornherein unerreichbar. Von „polis“ und „agora“ ausgeschlossen, waren sie dem Haushaltbereich, dem „oikos“, zugewiesen. Der „oikos“ war gekennzeichnet durch Unfreiheit und Sprachlosigkeit. Seine Aufgabe und sein Zweck bestanden darin, das Lebensnotwendige sicherzustellen, um die Freiheit und die „eudaimonia“ jener zu gewährleisten, welche die Verfügungsmacht in der „polis“  ausübten. Das Funktionieren der „oikonomischen“ Versorgung der „Gleichen“ war mit der Aufrechterhaltung der Ungleichheit und Stummheit der Frauen und Sklaven verknüpft. Mit anderen Worten: deren Ausschluss aus dem öffentlichen Raum war die Bedingung für die Freiheit und die „eudaimonia“ der herrschenden Schicht der freien und gleichen Männer.

Zwar gab es auch in der griechischen und römischen Antike Frauen, die das Männerregime satt hatten und gegen dieses aufbegehrten. Sie wurden von dessen Vertretern mit Spott und Herablassung gezeichnet, so etwa Lysistrate (von Aristophanes in der gleichnamigen Komödie dargestellt), welche die athenischen und spartanischen Frauen zum Liebesstreick ermutigte, damit der Peloponnesische Krieg ein Ende nehme (auch die sexuelle „Versorgung“ war Sache des „oikos“).

(II) Gegen Spott und Herablassung, gegen alle diffamierenden männlichen Urteile über Frauen setzte sich im Spätmittelalter“ „Ich, Christine“ mit über fünfzehn Büchern zur Wehr, darunter mit dem „Buch von der Stadt der Frauen“. Dieses utopische Refugium, einen „Ort der Zuflucht“, eine „Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer“ und Verleumder des weiblichen Geschlechts baut die 1365 in Venedig geborene Christine de Pizan, die Tochter eines Astrologen und Arztes, der durch Karl V. nach Paris an dessen Hof gerufen wurde, in Begleitung von drei weisen Frauen, den Verkörperungen von Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit. Die „Stadt der Frauen“ wird nicht, wie andere Utopien, durch Ordnungs-, Hierarchie- und Machtprinzipien zusammengehalten, sondern durch die den Frauen eigenen „Tugenden“, durch ihre vielfältigen Stärken und Fähigkeiten.

Das 1404-05 entstandene Buch ist eine Wechselrede zwischen Christine und den drei „hohenBegleiterinnen“ über die angeblichen weiblichen Schwächen, die vorweg durch Beispiele weiblicher Grösse und Tüchtigkeit sowie durch Geschichten vorbildlicher Frauen widerlegt werden.

Zu den weiblichen Stärken gehört auch die Grosszügigkeit, entgegen aller verleumderischen Behauptungen der Männer vom weiblichen Geiz. Die „Rechtschaffenheit“ klärt Christine auf: „Auf der Erde werden weit mehr Übeltaten begangen, die auf den übergrossen Geiz verschiedener Männer als auf den von Frauen zurückzuführen sind. (…) Gewöhnlich werden die Frauen mit Geld derartig knapp gehalten, dass sie das wenige, über das sie verfügen, zusammenhalten, denn sie wissen nur allzu gut, wie schwierig es für sie ist, wieder an Geld zu kommen. (…) Solche Frauen wissen nur allzu gut, dass die gesamte Hausgemeinschaft Hunger leidet, und sie und ihre unglücklichen Kinder für die unsinnigen Ausgaben (verrückter, verschwenderischer und gefrässiger Ehemänner) büssen müssen. (…). Dass die Frauen keineswegs so sehr  von jenem Laster des Geizes heimgesucht werden, wie manche es glauben machen wollen, zeigt sich bei der Verteilung von Almosen. Und Gott weiss, wie viele Gefangene (selbst solche im Land der Sarazenen), wie viele Hungerleidende, wie viele in Not geratene Edelleute und andere es gegeben hat und auch heute noch gibt, die seit Bestehen der Welt alle Tage Trost und Hilfe durch Frauen und deren Geld und Gut erfahren.“

Interessant ist, dass mit diesem – wohl frühesten  feministischen – Lesebuch ein Modell des vernünftigen, rechtschaffenen und gerechten Zusammenlebens entworfen wird, in welchem der Massstab für das gute Handeln die Vermeidung von Leiden ist, nicht nur bei den „Gleichen“, sondern auch bei den „Gefangenen“ und bei den Fremden („im Land der Sarazenen“).

(III)  Mit der Moderne, im Umfeld der Französischen Revolution, wurden Stimmen von Frauen laut, die kämpferisch gegen die Ungleichheit an Rechten und Freiheiten aufbegehrten, ohne dass sie es bei der Auflehnung bewenden liessen. Sie entwarfen gegen das vielfache Unrecht Modelle der Rechtsgleichheit, der Mitbestimmung und des Respekts vor dem gleichen Menschsein der Frauen, welche das patriarchale System des ständig verfügbaren und männliche kontrollierten „oikos“ umzuwerfen (zu „revoltieren“) versuchten.

Olympe de Gouges, die für die Frauen nicht nur die gleichen politischen Rechte, sondern auch ein gerechtes Ehe- und Güterrecht verlangte, welche auch für die Abschaffung der Sklaverei kämpfte, musste dafür 1793 mit dem Tod auf  dem Schafott bezahlen, 45 Jahre alt, ohne dass es ihr gelungen wäre, die Frauen zu einer solidarischen Haltung zu bewegen. „Die Frauen wollen Frauen sein und haben keine grösseren Feinde als sich selber. Leider schliesst sich der grösste Teil von ihnen ungerührt der stärksten Partei an“, schrieb sie bedauernd, „der Partei der Machthabenden.“

Mary Wollstonecraft demaskierte, wie schon Christine de Pizan, die Behauptung eines weiblichen „Geschlechtscharakters“ als Herrschaftsinstrument der Männer. Indem sie eine  Erziehung zum selbständigen Urteilen und Handeln sowie eine hohe Bildung der Frauen als Voraussetzung nicht nur für deren Beteiligung an der Regierungsverantwortung, sondern auch für eine gerechte und respektvolle Ehegemeinschaft und Gesellschaft erklärte, die so wiederum Vorbildfunktion für die heranwachsende Jugend wahrnehmen konnte, musste sie  Verleumdungen und üble persönliche Angriffe über sich ergehen lassen. Sie starb 1798, mit 38 Jahren, bei der Geburt des zweiten Kindes.

Schliesslich Flora Tristan, mütterlicherseits Französin und väterlicherseits Peruanerin, war eine der ersten Frauen, die nach den gemeinsamen Ursachen der Frauen- und der Arbeiterunterdrückung fragte und gegen diese Ursachen ankämpfte. Sie kannte die unwürdigen, erbärmlichen Wohn- und Lebensverhältnisse des Proletariats aus der Nähe und sie trat öffentlich gegen deren Unzumutbarkeit auf. 1844 starb sie, 41 Jahre, an Erschöpfung und an den Folgen eines Pistolenschusses, mit welchem ihr jähzorniger und zügelloser Ehemann, den sie wegen des Versuchs der Vergewaltigung der gemeinsamen Tochter angeklagt und verlassen hatte, sich an ihr zu rächen versuchte.

Von Flora Tristan’s Hauptwerk, der „Union ouvrière“, wurde die Erstausgabe von 4000 Exemplaren im Erscheinungsjahr 1843, eine zweite Auflage von 10’000 Exemplaren in ihrem Todesjahr 1844 vollständig verkauft. Die „Union ouvrière“ ist zugleich ein Manifest gegen die Verachtung und Unterdrückung der Frauen durch die Männer, welche sich, wie sie nachweist, sowohl inder häuslichen Gewalt wie in der Ungleichheit der Löhne zeigt, und worin sie die Ursache „aller Übel dieser Welt“ sieht. Und sie ist ein Versuch, der Arbeiterschaft die Befähigung zur eigenen, selbständigen Veränderung ihrer Abhängigkeit und ihres materiellen Elends nahezubringen. Flora Tristan schlug die Bildung einer „Universalen Arbeiter- und Arbeiterinnenunion“ vor, innerhalb welcher sowohl Bildung und Weiterbildung der Arbeiterschaft, wie die geschützte Betreuung und Erziehung der Kinder, wie die Versorgung der nicht mehr arbeitsfähigen Frauen und Männer im Alter sichergestellt wäre – eine Veränderung des proletarischen Elends durch eigene Initiative, durch Solidarität und durch Bildung.

(IV) In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufen sich die Beispiele kapitalismuskritischer Gesellschaftsentwürfe von Frauen. Ich beschränke mich auf zwei, die sich in relevanter Weise unterscheiden. Alice Rühle-Gerstel, 1894 in Prag geboren, Philosophin, Pädagogin und Adler’sche Psychoanalytikerin, ging mit ihrer 1932 veröffentlichten Studie „Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz“ der Frage auf den Grund, warum die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit keine Chance habe, durchgesetzt zu werden. Sie kam zum Schluss, dass „der Lohnausgleich, wenn er erreicht wird, nicht durch einen Lohnzuwachs der Frauen herbeigeführt werden kann, sondern nur durch eine Lohnkürzung der Männer, bestenfalls durch einen Kompromiss zwischen den beiden Strebungen. Deshalb lehnten breite Kreise der Arbeiterschaft die freiheitliche Forderung ‚gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘ lange Zeit hindurch ab. (…) Auf dem Arbeitsmarkt behandeln die Männer die Frauen wie fremde Einwanderer.“

Alice Rühle-Gerstel verbindet die patriarchalisch definierte Geschlechterfrage mit der Arbeitsnot, mit den Überlebensängsten einer von Entlassung, Erwerbs-  und Arbeitslosigkeit genährten gegenseitigen Rivalisierung, die, wie sie feststellt, zu einer völligen Desolidarisierung führt, vor allem zu Lasten der Frauen. „Sie teilen nicht nur das proletarische Schicksal der Männer, sondern müssen es in doppelter Schwere ertragen.“ Sie geht auf diese Doppelbelastung durch – schlechter entlöhnte – Erwerbsarbeit und nicht entlöhnte Hausarbeit ausführlich ein. Dazu kommt, dass „die Unkollegialität der Männer, die Gegensätze zwischen Alten und Jungen, Verheirateten und Unverheirateten die Situation der Arbeiterin verschlechtern.“

Alice Rühle-Gerstel fragt sich, weshalb die Arbeiterinnen nicht aufbegehren. Als Marxistin geht sie davon aus, dass es zur Revolte der Arbeiterinnen des Bewusstseins der Ausbeutung bedarf. Aber „das Bewusstsein ihres Schicksals ist entweder überhaupt nicht vorhanden oder von Groll und Zorn, Hoffnungslosigkeit und Angst entstellt. So stellt sich die Beziehung der Arbeiterin zur ihrer Arbeit als eine müde, mutlose Resignation gegenüber einem verhärteten Schicksal.“

Als Marxistin und Jüdin wurde Alice Rühle-Gerstel mit ihrem Ehemann Otto Rühle durch die nationalsozialistische Verfolgung ins Exil nach Mexiko gezwungen. Nach dem Tod Otto Rühles im Jahr 1943 nahm sie sich das Leben, in „mutloser Resignation gegenüber einem verhärteten Schicksal.“

Im selben Jahr starb im Exil in England, in Ashford/Kent, die 1909 in Paris geborene Philosophin Simone Weil, und der Grund für die Todesursache – Mangelernährung und Tuberkulose – mag mit Alice Rühle-Gerstels knapper Feststellung ebefalls trefflich zusammengefasst sein. In den Dreissigerjahren hatte Simone Weil mit ihrem „Fabriktagebuch“ sowie mit ihren  anderen Schriften zum Industriesystem eine aufregende Analyse des entfremdeten und unwürdigen Daseins des Proletariats geschaffen. Nicht nur die schlechte Entlöhnung ist Indiz hierfür, sondern vor allem der unmenschliche Zeitdruck, die nicht abbrechende ständige Disziplin auch bei monotonster Arbeit, sowie eine fast mechanisch Gehorsamsleistung. Alle Faktoren zusammen schaffen das Gefühl äusserster Erschöpfung, ständiger Gehetzheit und  zwanghafter Abstumpfung.

Die von den Arbeiterinnen und Arbeitern geforderte Unterwerfung unter die Arbeitsdisziplin ist die Voraussetzung für die Erreichung des Produktionsziels. Dieses besteht in nichts anderem, als dass eine „maximale Anzahl von Produkten ausgestossen wird“, wie Simone Weil feststellt. Zu diesem Zweck werden die Arbeiterinnen und Arbeiter instrumentalisiert. Es sind mithin nicht die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, sondern es sind die Produktionsverhältnisse, durch welche die Ausbeutung zustande kommt und „legitimiert“ wird. Würden die Unternehmer verjagt und die Fabriken vergesellschaftet, würde sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter nichts ändern, solange das Ziel, die menschenverachtende Produktions- und Gewinnmaximierung, gleich bleibt. Sie bemerkt, dass die Verhältnisse in der damaligen Sowjetunion und in den angegliederten kommunistischen Ländern dies zur Genüge beweisen.

Simone Weil’s Kritik richtet sich auf die ausschliessliche Fremdbestimmung, Abhängigkeit und Instrumentalisierung der Arbeiter und Arbeiterinnen, ob diese im kapitalistischen oder sowjet-kommunistischen System stattfinde. Unabhängig von der Eigentumsfrage führt die systematische Instrumentalisierung zu einem Gefühl der dauernden Erniedrigung und der allmählichen Abstumpfung, das sich darin zeigt, dass man „soweit kommt, nicht mehr zu leiden“. Menschen, die soweit erniedrigt sind, werden völlig manipulierbar. Gegen dieses Unheil, mit dem  Simone Weil 1932/33 bei ihrem Deutschlandbesuch konfrontiert wurde, fordert sie die solidarische Rückgewinnung der Arbeiterinitiative durch Auflehnung und Streik. Das Sozialversicherungssystem war damals noch kaum ausgebaut, und bei Aussperrungen, Entlassungen und anhaltender Arbeitslsoigkeit waren Hunger und Verelendung  zumeist unabwendbar. Trotzdem wurden in Frankreich (und auch in der Schweiz) Streiks durchgeführt, wenn die Bedingungen untragbar wurden.

(V) Das System der systematischen Instrumentalisierung liess sich jedoch bis heute nicht verändern. Wie ist daher heute der weibliche Blick auf den „oikos“? Eine Vielzahl von Autorinnen stellt fest, mit Erstaunen und Zorn, dass das patriarchale System sich auch demokratischen Wohlfahrtsstaat weiter behauptet, ja dass durch Migration, Rationalisierung und verschärfte Wettbewerbsbedingungen neue „Unterschichtungen“ und „Überschichtungen“ entstehen, indem die Frauen trotz formaler nationalstaatlicher (und innerhalb der EU europaweiter) Gleichberechtigung wie eh und je durch die Männer auf die hinteren Ränge verwiesen werden, so wie die ausländischen Frauen durch die einheimischen Frauen, nach lange erprobten Mustern, wie sie schon von Flora Tristan oder Alice Rühle-Gerstel angeprangert wurden. Susanne Schunter-Kleemann spricht im 1992 von hier herausgegebenen Buch vom „Herrenhaus Europa“, nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt. Und die feministischen Ethikerinnen aus der Schweiz – Ina Praetorius, Lisa Schmuckli, Ursula Vock et aliae – stellen in ihrem 1994 erschienen Buch fest, dass die Nichtanerkennung der „Weiberwirtschaft“ als „Arbeit“ selbst bei einer Vielzahl von Frauen zu einer Internalisierung des weiblichen Minderwerts führt, obwohl bekannt ist, dass der sogenannnte „informelle Sektor“ in hohem Mass das Funktionieren der offiziellen (patriarchalen) Wirtschaft ermöglicht.

Also kein Fortschritt seit der Antike?

Immerhin: Es gibt Frauennetzwerke, auch internationale, und es gibt geschlechterübergreifende Arbeitsgruppen zur Neuformulierung und Neuverteilung von bezahlter und nicht-bezahlter Arbeit. Das Gefühl der Unerträglichkeit in Bezug auf die exponentiell wachsende Ungleichheit der Einkommen, der Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten sowie auf die ungerechte Verteilung von Lebensqualität spitzt sich zu. Es gibt aber zugleich eine wachsende Rivalisierung und Desolidarisierung, hier, jenseits unserer Grenzen, überall. Und all dies erfolgt auch heute, wie schon die Autorinnen seit dem Mittelalter festgestellt haben, über Diffamierung, Entwertung und Ausgrenzung, über patriarchalen Filz  und Rivalisierung zwischen Männern und Frauen, Einheimischen und Ausländern/Ausländerinnen, Jungen und Alten, leistungsfähigen „Gesunden“ und – gemäss mehrwertdefinierter Leistungskriterien – weniger „Gesunden“, zwischen immer weniger immer reicheren Reichen und immer mehr Armen.

Fazit: Gegen die zunehmende Resignation muss die Forderung formuliert werden dass der feministische Blick auf den „oikos“ sich nicht mehr bei der Analyse, schon gar nicht mehr bei der Klage aufhalten darf, sondern zur Auflehung führen muss, zu einem weltweiten solidarischen Frauenstreik!

 

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