Noch einmal leben – In der Schweiz nach Krieg und Folter

Noch einmal leben – In der Schweiz nach Krieg und Folter

Psychiatrischer Dienst , Regionalspital Emmental, 3400 Burgdorf

Weiterbildungszyklus 2005 / Migration und Gesundheit aus transdisziplinärer Perspektive

 

Sehr geehrte Damen und Herren

Es freut mich, mit einem Referat zu Ihrer Weiterbildung beitragen zu dürfen. Nicht über die Methode der traumatherapeutischen-analytischen Psychotherapie werde ich hauptsächlich sprechen, wozu ich häufig aufgefordert werde, auch nicht über philosophische gesellschaftsanalytische Fragen, sondern über den Psychostatus von Patientinnen und Patienten, die geprägt sind durch schwere Traumata in ihrer Heimat, durch Flucht und durch retraumatisierende Erfahrungen als Asylsuchende hier in der Schweiz, durch Erfahrungen des schwer belastenden Überlebens, des Fremdseins und der Isolation, jedoch auch der allmählich erlebbaren Genesung, womit eine Verarbeitung der Geschichte und allmählich eine neue Erfahrung des Ich- und Lebenswertes einsetzen kann.

Ich werde auf einzelne Beispiele meiner therapeutischen Erfahrung eingehen:

  • auf anamnestische und therapeutische Zusammenhänge von Frauen und Kindern, welche infolge des Jugoslawienkriegs in die Schweiz gelangten, sodann
  • auf die Fallgeschichte eines Kurden, der schwerste Folter durchgestanden hatte und der nicht an der politischen Sinnhaftigkeit seines Leidens zweifelt.

 

1a) Wie können Krieg, Gewalt und Emigration verarbeitet werden?

Immer wieder wurde ich in das stattliche Haus mit hohem Giebel gerufen, das Ende des 19. Jahrhunderts für zwei Zürcher Familien gebaut worden war, mit einem Garten in der Grösse eines zweiten Bauplatzes zur Seite, das sich hinter den Kronen der Bäume verbarg, die noch im Erstellungsjahr an dessen Umfriedung zum Schutz gegen Winde und Nachbarn gepflanzt worden waren, je eine Buche, eine Linde und eine Birke, gleich alt und gleich hoch wie das Haus. Anfang und Mitte des Bosnienkriegs schützten die Bäume die Nachbarn vor der einstigen Villa, die im Lauf der Zeit verwitterte und trotz ihrer Grösse verwahrlost wirkte. Mitten im bürgerlichen Quartier war sie wie ein fremder Kontinent. Jahrelang beherbergte sie Asylsuchende aus aller Welt, doch im Spätsommer 1992, nach dem Ausbruch des Krieges in Bosnien, wurde sie Frauen und Kindern zur Verfügung gestellt, die unter der Gewalt ethnischer Säuberung vertrieben worden waren, fünfzig Frauen und Kindern, welche die Schweiz erst für die Dauer von drei Monaten aufnahm, deren Aufenthalt aber infolge des andauernden Kriegs sich in einer mehrmals erneuerten Vorläufigkeit über mehrere Jahre erstreckte. Das Haus bebte vor Unruhe, vor zusammengedrängten Schicksalen und Spannungen. Durch die Wände und Korridore, von Stockwerk zu Stockwerk, drangen aus den Zimmern Stimmen, Frauenstimmen, Radiostimmen, Kinderstimmen, schrille, helle, geflüsterte, dunkle. Spät nachts ebbten die Stimmen ab, verstummten zeitweise, Säuglinge weinten in verzweifelten Stössen. Nach Mitternacht, besonders gegen Morgengrauen gellten manchmal Schreie auf, die Schlaflosen hielten den Atmen an, Frauenstimmen dann, Schluchzen, Stille. Omer S.[1] schrie fast Nacht für Nacht.

Er war neun Jahre alt gewesen, als in Brcko, der an der Sava gelegenen Brückenstadt, der Krieg losging. In der Strasse, wo sie wohnten, lebten fast lauter Verwandte, Onkel und Tanten sowie verschwägerte Onkel und Tanten und deren Kinder. Omer nennt ihre Namen wie eine Litanei. “Wir waren im Haus drin, wir alle, es war noch früh, fast noch dunkel. Draussen war plötzlich ein Geschrei, laut wurde gegen die Türe geschlagen, Männer in Uniformen stürmten herein, einen erkannte ich, er hatte in einer anderen Strasse nah bei uns gewohnt. Wir wurden aus dem Haus getrieben. Der Vater wurde furchtbar geschlagen, die Hände wurden ihm auf dem Rücken gefesselt “. Omer legt den Kopf auf den Tisch, verbirgt sein Gesicht in den Armen, er kann nicht weitersprechen.

Von Fatima S., der Mutter erfahre ich, dass Omer von zwei Uniformierten gepackt und in die Mitte genommen wurde, dass ihm eine Pistole in die Hand gedrückt wurde, dass er gezwungen wurde, die Pistole auf seinen Vater zu richten, der von den Schlägen aus dem Mund blutete. Auch Fatima mit den zwei weinenden kleinen Mädchen an der Hand habe geschrieen, sie habe Omer zu sich ziehen wollen, zum Vater der Kinder laufen wollen, um ihn zu schützen, doch sie sei von Uniformierten mit Gewalt zurückgehalten und gezwungen worden, zuzuschauen. Die Tortur habe entsetzlich lange gedauert, vielleicht auch nur Minuten, dann sei unter Hohngelächter Omer die Pistole aus der Hand gerissen worden. “Der Bub fiel wimmernd zu Boden, sprang plötzlich auf, wollte zum Vater rennen, doch dieser war schon weggetrieben worden, überall waren Uniformierte, es wurde geschrien, geschossen, ein schrecklicher Lärm, hinten in der Strasse brannte ein Haus, ein Camion fuhr vor, die Kinder und Frauen wurden hinaufgetrieben wie Schafe, immer noch mehr, brutal, mit Schlägen, alle weinten und schrien, dann fuhr der Camion los. Wir wussten nicht wohin. Alles blieb zurück.”

Der Weg in die Schweiz dauerte Monate, die Erfahrungen unterwegs waren nochmals traumatisierend, immer Teil einer Gruppe von Menschen in Wäldern, quer durch Ebenen und quer durch Berggebiete, Hunger und Durst, ständige Angst, Erschöpfung, Nächte ohne Schlaf. Von Slowenien aus mit einem Minibus durch Italien über die Schweizer Grenze. Über den Suchdienst des IKRK erfuhr Fatima nach etwa zwei Jahren, dass ihr Mann lebte, dass auch er nach Frau und Kindern geforscht hatte. Er war im Krieg eingesetzt worden, hatte ein Gefangenenlager überlebt, war den Schergen entkommen und hatte sich nach Kroatien, dann in die Schweiz durchgeschlagen. Eines Tages traf er im Durchgangszentrum ein. Frauen und Kinder feierten ein Fest. Während Wochen ging Omer kaum von der Seite des stillen, mageren Vaters. Er begleitete ihn, wohin er auch ging, lehrte ihn die deutschen Worte, die er gehört hatte. Allmählich wurden die nächtlichen Ängste des Kindes seltener.

Einige Monate später – das Dayton-Abkommen war eben signiert worden –  erhielt die kleine Familie den gefürchteten Brief aus Bern, ihr Aufenthalt in der Schweiz sei abgelaufen, sie müssten wieder zurück in ihre Heimat. “Ist Heimat dort, wo man vertrieben wurde?” fragte Fatima. Wohin sollten sie zurückkehren? Die Schrecken von damals wurden wieder wach und fielen über sie her wie Hunde. “Könnten wir doch nochmals leben, ohne Angst, leben mit der Gewissheit, dass das Leben sich lohnt, dass Sicherheit nicht ein Betrug ist. Doch wo, wenn wir hier nicht bleiben dürfen?  Wo können wir leben?”

Es galt, einen Anwalt zu finden, Geld aufzutreiben, Gutachten zu schreiben, wieder zu warten, die Angst zu verarbeiten, weiter zu warten. “Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben”, hat Walter Benjamin in einem seiner Essays geschrieben, Jahre bevor ihn die Nazis zum Flüchtling machten und bevor er Flucht und Angst nicht länger ertrug.

Es gibt ein Kontinuum  und eine Zuspitzung von Leiden, das nichts mit der menschlichen Sterblichkeit zu tun hat, die zu ertragen schwer genug ist, sondern mit der Perversion des Quälens. Die Geschichte der Gequälten ist jedoch zugleich die Geschichte des Widerstands gegen Menschenverachtung und Unterdrückung, ist auch die Geschichte der immer wieder versuchten Wiederherstellung verlässlicher Werte. Darin besteht die  vielleicht wichtigste Aufgabe der Therapie. Therapie soll ein Gegenmodell zum System der Unterdrückung sein – “Therapie” ein anderes Wort für “Kultur”[2].

 

1b) Wie können die Folgen von Gewalt, von eigenem Wertverlust und von Beziehungsverlust geheilt werden?

Seit Eniza Z. im Sommer 1993 mit ihrem damals zweijährigen Sohn und mit ihren Eltern aus Bratunac vertrieben worden war und durch das kriegsverwüstete Bosnien in die Schweiz gelangt, quälten die junge Frau Albträume und lähmende Traurigkeit. Schon im Durchgangslager an der slowenischen Grenze, wohin sie mit Hunderten von Frauen und Kindern getrieben worden war, hatte sie darunter gelitten, aber dort gab es eine Art stummen Zusammenhaltes in den erlebten Schrecken und in der Ratlosigkeit. Zugleich brannte damals noch ein kleines Licht in ihr, die Hoffnung, dass der Vater des Kindes lebte. In der Schweiz jedoch nahm das Gefühl der Verlorenheit überhand, obwohl es ihr hier, fern vom Krieg, eigentlich hätte besser gehen sollen. Das kleine Licht wärmte kaum mehr, wurde schwächer und immer dunkler. Die Therapeutin hörte zu, und indem sie zuhörte, erkannte Eniza zunehmend klarer, dass, was sie nicht aussprechen konnte, aber auszusprechen wünschte, die nicht heilende Wunde war, unter welcher sie litt.

Eines Morgens im  Herbst 1992 waren mit Gewehren bewaffnete Uniformierte ins Haus gestürmt, hatten sie, die Mutter und das Kind aus dem Keller gejagt, wo sie sich versteckt hielten, und so wie sie waren, ohne Schuhe an den Füssen und ohne  Milchflasche fürs Kind, wurden sie weitergetrieben in den Hangar, wo eng zusammengedrängt die anderen Frauen und Kinder des Ortes im Ungewissen ausharrten. Das war ein Weinen und eine Verzweiflung, kaum auszuhalten, zumal damals niemand wusste, was mit den Männern geschehen war.

Sowohl Enizas Vater wie ihr Ehemann waren von Soldaten gefangengenommen worden. Mehr konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Wo immer sie Fragen stellte, stiess sie auf eine Mauer des Schweigens. Einige Monate später kam ihr Vater aus einem der Gefangenenlager frei, nachdem das IKRK Zutritt erhalten und die Weltpresse über die darin verübten Torturen zu berichten begonnen hatte.

Der Vater wurde mit seiner engsten Familie – der Mutter, Eniza und deren kleinem Sohn – in der Schweiz als anerkannte Flüchtlinge aufgenommen. Über die Zeit im Lager schwieg er sich vor den Angehörigen aus. Wo war Enizas Ehemann? Warum war er nicht mit dem Vater aus dem Lager entlassen worden? Je länger das Unwissen andauerte, desto schwächer wurde Eniza’s Lebenskraft. Die Wirklichkeit zog sich immer mehr zurück, das Gefühl der Leere und beklemmende Angst beherrschten sie zunehmend. Die Angst ging einher mit einer ebenso beklemmenden inneren Last, die sie unter der Sorge um ihren Mann zu verdrängen versucht hatte. Doch verdrängen war nicht möglich, woran sie sich Nacht für Nacht mit Entsetzen und Ekel erinnerte. Nach vielen Gesprächen konnte sie stockend berichten, wie sie eines Nachts mit vier anderen jungen Frauen vom Hangar in einen Schuppen abgeführt worden war, vergewaltigt wurde, mehrmals, auf brutalste Weise, ohnmächtig wurde, zurück im Hangar kaum mehr gehen konnte, nicht mehr sprechen konnte, ihr Kind nicht mehr tragen konnte. Scham und Entsetzen beherrschten sie. Hing das Verschwinden ihres Mannes mit der geheimen, brutalen “Verunreinigung” zusammen, die ihr angetan worden war?

Wenige Wochen, nachdem Eniza die so lange verschwiegene Tortur zu schildern vermocht hatte und sie diese als Teil der vielfachen Brutalität des Kriegs zu verarbeiten begann, hatte sie eines Abends das Fernsehgerät eingeschaltet. Da wurden über den bosnischen Sender Namen getöteter Gefangener verlesen, Hunderte von Namen. So erfuhr Eniza, dass ihr Mann tot war.

Endlich hatten ihre Gefühle einen Namen. Es war Trauer, Trauer um ihren Mann, den sie geliebt hatte, Trauer um sie selber, die sie einmal gewesen war, abgrundtiefe Trauer. Auch Grauen, als sie allmählich vom Vater erfuhr, was sich im Lager zugetragen hatte. Auch er musste nicht länger schweigen. “Es ist nun möglich, Eniza, dass du es weisst”, habe er ihr gesagt. Ihr Mann war mit etwa fünfzig anderen Gefangenen in einen Raum eingepfercht worden. So eng war es, dass sie sich weder ausstrecken noch sich bewegen konnten. Als die Gefangenen protestierten und mehr Raum forderten, schlugen Dutzende von Soldaten mit Kolben und Eisenstangen auf die Gefangenen ein, sie schlugen sie zu Tode, alle fünfzig Gefangenen, ohne Ausnahme.

Eniza und ihr Kind, ihre Mutter und ihr Vater brauchten ein Ritual, um der Trauer einen Halt zu geben. Trauer darf nicht uferlos werden, darf nicht zur allein beherrschenden, inneren Macht werden. Trauer soll einen Heilungsprozess ermöglichen können. Heute weiss Eniza, wo ihr Platz ist. Sie will leben, auch hier in der Schweiz will sie nicht bloss überleben. Trauer und Verlust sind Teil der Geschichte, Teil des Lebens. Sie will sie weder vergessen noch davon beherrscht werden. Ihr Sohn soll ohne Hass aufwachsen. Die Spiele teilt er mit Kindern aus Bosnien, aus Kroatien und aus Serbien, die im gleichen Zentrum wohnen. Grosse Sorgfalt lässt Eniza allem angedeihen, was durch den Krieg entwertet oder zerstört worden war, ihrem Körper, dem Wert ihrer Kultur, dem Erlernen der neuen Sprache, der Gestaltung des Alltags, den Beziehungen zu den ihr nahestehenden Menschen, die wie sie überlebt haben. Da, wo sie Asyl gefunden hat, darf der Krieg nicht weitergehen.

Doch unversehens, ohne Vorwarnung, geschieht es immer wieder, dass Eniza davon eingeholt wird. In der Nacht erwacht sie schreiend aus Albträumen, meint voll Entsetzen, Schritte zu hören und abgeführt zu werden. Tagsüber kann eine banale Kleinigkeit sie in eine Situation des Schreckens zurückwerfen. Neulich, als ihre Mutter eine Suppe zubereitete, sah sie anstelle der Mutter eine der Nachbarinnen im Hangar vor einem leeren Topf stehen, um sie herum die weinenden Kinder. Nichts gab es, um den Hunger der Kinder zu stillen. Wie damals wurde Eniza von Panik ergriffen, in Hilflosigkeit und Ohnmacht dem Kinde gegenüber schuldig zu werden. Was erlebt wurde, ist in Bildern, in Gerüchen und Tönen angestaut. Um auch davon zu genesen, um keinen Flashbacks mehr ausgesetzt zu sein, welche das Vergangene aktualisieren, braucht es eine lange, heilende Zeit.

 

2) Wie findet ein Mensch vom politischen Opfermut zum Mut, als Mensch zu leben?

Viele Flüchtlinge, welche lange, qualvolle Jahre durchgestanden haben, fühlen sich jenen gegenüber in Schuld, die nicht mehr leben. Der Kurde Cemal M., der neun Jahre in türkischen Gefängnissen zubrachte,  bat mich eindringlich, vor allem die Namen jener aufzuschreiben, die für die Freiheit Kurdistans mit ihrem Leben bezahlt hatten. Er selbst starb mehrere Tode, scheint mir, obwohl er lebt. Wie fand er vom Opfermut zurück zum Mut zu leben? Heute kann er wieder gehen, langsam, schwankend. Die Füsse schiebt er dem Boden entlang, hebt sie behutsam über Unebenheiten hinweg, über Türschwellen und niedere Stufen. Kopf und Hände zittern, das Sprechen bereitet Mühe.

Cemal M. ist 36 Jahre alt, grossgewachsen und schmal. Im Gespräch lebt er auf. Er kann vermitteln, dass er fürsorglich sich selbst gegenüber wurde, dass er das Gespräch sucht, weil es ihm Wärme gebe, ebenso wie er seinen über Jahre gepeinigten Körper in warme, sorgfältig ausgewählte Kleider hüllt. Fürchtet er sich nicht, die Erinnerungen an die dunklen Jahre zu wecken? Fürchtet er nicht die Wiederbegegnung mit den Bildern der Peiniger? – mit den Bildern der eigenen Erniedrigung? – mit jenen seiner gequälten Angehörigen und Freunde? Er fürchtet sich nicht. “Das Leiden war ja nicht sinnlos. Ich konnte meine Seele dagegen abschirmen, es betraf nur den Körper. Ich fühlte mich den Folterern überlegen. Ich, aber nicht ich allein, wir alle erlitten die Torturen wegen der Freiheit. Es ging um die Freiheit unseres kolonisierten, unseres unterdrückten und gequälten Landes, es ging um Kurdistan”. Seine Augen blicken mich ruhig und aufmerksam an. Seine Menschlichkeit blieb ungebrochen, wenngleich sein Körper vielfach gebrochen wurde.

Damals, am 14. Januar 1984, als er und elf weitere politische Gefangene, darunter vier Frauen, im Militärgefängnis Nr. 5 von Diyarbakir mit dem Todesfasten begannen, hatte er schon drei Jahre Gefängnis hinter sich, Jahre ununterbrochener Folter. Hätten sie einen anderen Widerstand als jenen der Gewaltlosigkeit leisten können? fragt er und fährt fort zu berichten. „Es war nicht das erste Mal, dass sich die Gefangenen gegen die Menschenverachtung des Systems zur Wehr setzten. Etwas mehr als zwei Jahre zuvor, am 18. Mai 1982, hatten sich vier Mitgefangene aus Zelle 33 aus Protest selber angezündet.“ Er nennt ihre Namen[3], schildert mit dumpfer Stimme, wie die Schreie anderer in der Zelle 33 Miteingeschlossener auch in Zelle 27 drangen, wo er sich befand, dass sie durch alle Flure und alle Stockwerke des grossen Termitenbaus der Peinigung drangen. “Wir alle litten mit ihnen. Nichts anderes konnten wir tun. Es waren besondere, kostbare Menschen, Freunde. Ihr Tod vermochte, unseren Widerstandswillen zu stärken.”

Einundvierzig Tage lang hatte Cemal M. alle Nahrung verweigert, ausser ein paar Gläser Wasser. Dann fiel er ins Koma. Als er daraus erwachte, sei er gelähmt gewesen, habe auch nicht mehr sprechen können. Wegen einer offenen Tuberkulose sei er schliesslich ins Spital  eingeliefert worden, doch nach kurzer Zeit wieder in die Zelle zurückgeschafft worden, für weitere fünf Jahre.

Die Folgen des Todesfastens wirken sich bis heute aus, zittternde Hände, Artikulationsprobleme, Gleichgewichtsstörungen, anderes mehr, sagt Cemal M., doch nicht bei ihm allein. Ein Mitgefangener, der nach zehn Jahren Gefängnis in Deutschland Asyl erhalten habe, trage noch schwerere Schäden davon. Der Widerstand habe alle geprägt.

Cemal M. war im April 1981 in Diyarbakir von der türkischen Polizei verhaftet worden, einer der rund 200’000 kurdischen Männer und Frauen, die zwischen dem Militärputsch vom 12. September 1980 und den Wahlen vom 7. November 1983 erst in Polizeihaft genommen, dann in die überfüllten Gefängnisse eingekerkert wurden. Einige Monate zuvor hatte Cemal M. sein Ingenieurstudium in Ankara abgebrochen und war wegen des kurdischen Freiheitskampfes nach Diyarbakir zurückgekehrt. Der Vater betrieb eine kleine Bäckerei. “Diyarbakir ist schön. Wir hatten zu Hause zwei Zimmer, eines diente als Küche, das andere zum Schlafen. Wir waren weder arm noch reich”.  Im November 1981 wurde er gleichzeitig mit Hunderten anderer politischer Angeklagter vor ein militärisches Sondergericht gestellt, je zwanzig bis dreissig an eine Kette gefesselt. Für den Prozess waren sie in eine Uniformjacke eingepackt worden, Verteidiger hatten sie keine, der Richter war ein Militärkommandant, nach Sondergesetzen wurden sie abgeurteilt und verurteilt, Cemal M. zum Tod. Damals wurden 5’712 Anträge auf Todesstrafe gestellt, 259 Todesurteile wurden ausgesprochen, 49 vollstreckt[4]. Das über Cemal M. gesprochene Urteil wurde durch ein militärisches Kassationsgericht in zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.

Cemal M. nimmt an, dass jemand unter der Folter seinen Namen genannt hatte und dass er deswegen verurteilt wurde. In Polizeihaft sei auch er einen Monat lang gefoltert worden, damit er Namen von Verbündeten aus den kurdischen Organisationen preisgäbe, mit Stockhieben auf die Fusssohlen, mit Stromschlägen über Elektroden an den Zähnen, an den Fingern und am Penis. Er wurde an den auf dem Rücken gefesselten Händen in die Höhe gezogen, so dass die Schultergelenke aus den Gelenkpfannen brachen, wochenlang wurde er am Schlafen gehindert. Sein Vater wurde gleichzeitig verhaftet. “Die Alten wurden vor den Jungen gequält, sie wurden vor uns blutig geschlagen, Gummiknüppel wurden ihnen in den After getrieben, die Jungen, ja selbst Kinder mussten zusehen, um die Quälerei zu steigern, ein sadistisch ausgeklügeltes System. Viele brachen darunter zusammen”. Der Vater war 16 Monate lang gefoltert worden, dann erlag er einem Nierenversagen. Die Mutter wurde während sechs Wochen in Polizeihaft gehalten. Während Cemals M. Todesfasten im Februar 1984 wurde ihr zugetragen, ihr Sohn sei tot. Sie erlitt eine Herzkrise und starb wenige Wochen später. In all den Jahren überfielen Schläger aus den Kreisen der Polizei die kleine Bäckerei, die einer der Brüder weiterführte. Die Schwester verlor darob den Verstand. Langsam erzählt Cemal M., Erinnerung reiht sich an Erinnerung. Das Leiden der Angehörigen in ihm ist nicht heilbar, es bleibt ihm angehaftet mit Gefühlen der Schuld, ein sinnloses Leiden.

“Die Foltermethoden in den Gefängnissen hatten nicht mehr den Zweck, Informationen herauszupressen. Sie sollten die Menschen brechen, sie sollten den Stolz des kurdischen Widerstandes vernichten”.  Spezialeinheiten der Armee wurden dafür eigens ausgebildet. Drei Jahre lang hatten Cemal M. und seine Mitgefangenen die Peinigungen erdulden müssen, vom Mai 1981 an, bei Tag und bei Nacht, nie die geringste Entspannung. Hiebe und Schläge mit Eisenstangen, mit Militärgürteln und Holzstöcken, wo immer sie gingen und standen, militärischer Drill, Schmutz und Enge in den Zellen, verunreinigte und völlig ungenügende Nahrung. Was Cemal M. während der langen Stunden des Gesprächs schilderte, kann nicht wiedergegeben werden; der Peinigungen habe es noch unendlich mehr gegeben, sagt er. Infolge des Widerstandes in den Gefängnissen hätten sich die Bedingungen ab Ende 1983 ein wenig gebessert.

Zur psychischen Erniedrigung, zu den schwärenden Hautverletzungen durch die nie abbrechenden Schläge, zur Erschöpfung durch Schlaflosigkeit und Drill, durch Hunger und Krankheiten (Nierenschäden, Magentumore, Herzkrankheiten, geschwollene Füsse, Tuberkulose etc.), zu den unerträglichen hygienischen Verhältnissen in den überfüllten Zellen  kam die geistige Isolation. Bücher und Zeitungen, Papier und Schreibzeug waren verboten. “Nicht zuletzt deswegen drehten Menschen durch, das war beinah nicht auszuhalten, auch wenn über neunzig Prozent der Gefangenen Dörfler und Arbeiter waren, einfache Menschen, der kleinste Teil Intellektuelle oder führende Frauen und Männer des Widerstandes.” Dichter und Dichterinnen, Schriftsteller und Journalisten waren unter ihnen. “Ich schreibe mit den Fingernägeln”, hielt verzweifelt Izzet Harun Akcay, damals im Spezialgefängnis Bartin inhaftiert, fest[5]. Die völlige Isolation sollte das Zeitgefühl vernichten, sollte Verlorenheit schaffen und ein Gefühl der Endlosigkeit der Tortur.

In den ersten drei Jahren war eine wöchentliche Besuchszeit von dreissig Sekunden (bis höchstens eine Minute) eingeräumt, unter ständiger Präsenz von Soldaten. Cemal M. hält minutenlang inne, bevor er weiter spricht. “Unter Stockhieben wurden je zehn Gefangene in einen Raum getrieben, der durch eine Glaswand unterteilt war, auf deren anderen Seite die Angehörigen, die ebenfalls durch Soldaten drangsaliert wurden. Viele hatten tagelange Reisen hinter sich. Die kleinen Geschenke, die sie mitbrachten, vor allem dringend benötigte Kleider, wurden von den Soldaten konfisziert und vor aller Augen zerrissen”. Um gegen diese Verhöhnung ihrer Rechte zu protestieren, trat eine grosse Anzahl von Gefangnen ab September 1983 wieder für siebenundzwanzig Tage in einen Hungerstreik.

Als Cemal M. 1989 freigelassen wurde, befanden sich Tausende kurdischer politischer Gefangener weiterhin in den Gefängnissen, Hunderte heute noch. Cemal M. war körperlich kaum in der Lage, sich selbständig zu bewegen, doch er wollte leben, noch einmal leben. Der Einsatz und die Opfer aller, die für Kurdistan litten und kämpften, sollten nicht vergeblich sein, wiederholt er immer wieder. In Diyarbakir war seine Existenz erneut bedroht. Rechtsextreme Organisationen (sog. Konterguerilla) stellten mit Mordkommandos den entlassenen politischen Gefangenen nach. Viele wurden auf offener Strasse erschossen. Er beschloss, ins Ausland zu fliehen. Am 15. Juni 1992 begann seine Flucht, zuerst durch die Berge in den irakischen Teil Kurdistans, von dort nach Syrien. In Damaskus meldete er sich bei der UNO-Vertretung. Sein Name war bekannt. Er wurde medizinisch untersucht, bekam einen Ausweis und konnte einen Monat später in die Schweiz einreisen.

Wie lebt Cemal M. hier? Ist die Schweiz für Menschen, die so viel gelitten haben, ein geeigneter Ort? Wenn ich ihn frage, wie er sich fühlt, schaut er oft ohne Bitterkeit durchs Fenster, wie verloren. Wieder sei es die Isolation, die am schwierigsten zu ertragen sei, wenn gleich eine andere Isolation als im Gefängnis. Cemal M. lebt allein in einem kleinen Zimmer und versucht, Deutsch zu lernen. Über das Sozialamt erhält er monatlich ungefähr 900 Franken Unterstützung, was für alle Ausgaben reichen muss. Ab und zu trifft er andere kurdische Flüchtlinge, zweimal wöchentlich geht er in eine physiotherapeutische Behandlung, einmal in Psychotherapie. Mit grosser Aufmerksamkeit informiert er sich über die politische Entwicklung in der Türkei. Manchmal kommen Freunde ihn besuchen, die wie er überlebt haben. Zur Schweizer Bevölkerung hat er kaum Kontakt. Noch hat er keinen festen Platz in der Schweiz. Das aber wünscht er. Er möchte nützlich sein auch für andere Menschen, eine Arbeit leisten, die sinnvoll ist, und sei es nur während weniger Stunden am Tag. Denn hier, wo er nun ist, möchte er leben. Noch einmal leben. Überleben genügt nicht.

 

Damit schliesse ich ab. Die Fallbeispiele mögen deutlich machen, wie vielfältig und unterschiedlich die Auswirkungen erlebter Traumata sind, unabhängig von den diagnostischen Bezeichnungen und Bewertungen. Immer geht es um persönlich erlebtes und durchgestandenes, vielfaches Leiden, durch welches der Mensch – Kind, Frau, Mann – sich selber fremd wird: fremd hinsichtlich des eigenen Wertes zu leben; fremd im zerstörten Beziehungsgeflecht zum eigenen Ich wie in jenem zu anderen, vertrauten Menschen; fremd im sozialen Umfeld existentieller Sinnhaftigkeit.

Traumatherapie bedarf auf  vielfältige Weise der Genesung verletzter oder zerstörter, geraubter oder verlorener persönlicher Werte, durch welche des Menschen Vertrauen zu sich selbst wieder möglich wird; durch welche Zeitlichkeit ein wachsendes Geflecht des Lebens werden kann, in welchem die vergangene Geschichte die gegenwärtige und die bevorstehende nicht beherrscht, sondern allmählich sich mehr und mehr von ihr unterscheidet. Nur wenn die innere Zeit des Menschen dessen Zustimmung findet, ist er/sie sich selber nicht mehr fremd, sondern in seinem/ihrem “Hauthaus” bei sich und mit sich aufgehoben – mit allem, woraus dieses persönliche Lebensgeflecht verwurzelt und gewachsen ist, auch mit den seelischen und körperlichen Narben. Es bedarf der Erfahrung genügender zwischenmenschlicher Verlässlichkeit im Heilungsprozess, um zustimmen zu können, noch einmal zu leben und die Sinnhaftigkeit des Lebens zu realisieren. Damit diese innere Zustimmung möglich wird, muss Traumatherapie existentielle Rehabilitation bedeuten: Rehabilitation des Existenzwertes.

 

 

[1] Namen auf Wunsch der Flüchtlinge geändert

[2] nach Sigmund Freud, aus “Das Unbehagen in der Kultur”.  In: Studienausgabe, Bd. 9. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

[3] Sie hiessen Ferhat Kurtay, Esref Anyak, Necmi Öner und Mahmut Zengin.

[4] Nach “Cumhuriyet” vom 10. Juni 1983.

[5]“… ich schreibe mit den Fingernägeln” / “… tirnaklarimla yaziyorum”. Gedichte aus türkischen Gefängnissen 1980-85. Türkiye hapishanelerinden siirler 1980-85.  Zambon Verlag, Frankfurt a.M. 1986, S.91

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