Zivilcourage – Salongespräche

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

 

 

Zivilcourage

 

Salongespräche

des Zentrums für universitäre Weiterbildung ZUW, Universität Bern

vom 21. Oktober bis 25. November 2013, Montagabend, 19:00 – 21:00 Uhr

sowie vom 22. Oktober bis 26. November 2013, Dienstagabend, 19:00 – 21:00 Uhr

 

„Wir sind auf die Strasse gegangen. Hatten keine Angst. Das ist das Wichtigste … das ist das Allerwichtigste.“

Am 29. September 2013 erschien in der NZZ am Sonntag die Besprechung eines Buchs von Swetlana Alexijewitsch[1], in welchem diese weissrussische Journalistin Gespräche mit unterschiedlichen jüngeren und älteren Menschen aus ihrer Heimat widergibt, unter anderen mit einer Architekturstudentin aus Minsk, die an einer politischen Kundgebung gegen Aljaksandr Lukaschenka anlässlich der jüngsten präsidialen Widerwahl von 2010 teilgenommen hat und verhaftet wurde. Nicht Gefangennahme und Kerkerhaft habe sie als einschneidende Erfahrung erlebt, sondern „den Mut, die inneren Fesseln zu sprengen“.

Dieser Mut, der junge – und ältere –  Menschen angstfrei werden lässt gegenüber Diktatur und Polizeigewalt, gegenüber Folter und Tod, der sie befähigt, gerade zu stehen und sich nicht zu ducken, sondern „laut zu sagen, was ist“, wie Rosa Luxemburg aufs knappeste zusammenfasste, bewegt uns immer wieder neu, gerade in jüngster Zeit bei den von jungen Menschen getragenen und fortgesetzten Widerstandsbewegungen in Tunesien und in Libyen, in Ägypten und in Syrien, in Iran und in Jemen, in Pakistan und in Indien, in Afghanistan und in China, in der westlichen Türkei  und in den kurdischen Gebieten, in den palästinensischen Dörfern, Städten und Flüchtlingslagern, in Eritrea und in Bahrain, in den verschiedenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und  in zahlreichen weiteren Ländern, selbst hier in der Schweiz.

Zivilcourage ist ein gewaltfreier, sich in Momenten der Dringlichkeit manifestierender Widerstand gegen Machtmissbrauch im Bereich  der „zivilen“ Zugehörigkeit und Mitverantwortung, gegen Gefährdung des persönlichen Lebenswertes, gegen Gefährdung anderer einzelner Menschen oder wichtiger kollektiver Werte wie der Denkfreiheit und Bewegungsfreiheit, des Schutzes Wehrloser, der Achtung vor Fremden, letztlich der Menschenrechte. Zivilcourage ist eine moralische Triebkraft, die zum klaren Aufbegehren gegen Unrecht antreibt. Sie wächst aus der Verbindung von Denken, Fühlen und Verantwortung, aus der vom Gewissen gesteuerten Dringlichkeit der Entscheidungskraft zu Gunsten wichtiger Werte.

Der Mut, dieser Dringlichkeit gerecht zu werden, stärkt  und bewirkt ein Wohlbefinden mit sich selbst. Keine und keiner der Überlebenden schwerster Folter und jahrelanger Einkerkerung auf Grund politischen Widerstandes in den jüngsten Jahrzehnten – zum Beispiel im kurdisch-türkischen Gebiet oder in Afghanistan oder in Sri Lanka -, die meistens als MittelschülerInnen oder zu Beginn des Universitätsstudiums gefangen genommen worden waren, hatten ihren Einsatz für Freiheit und für Gerechtigkeit bedauert. Die meisten fühlten sich gewissermassen „nobilitiert“, trotz der vielen erlebten Widrigkeiten und Leiden, trotz der Folgen von durchgestandener Gewalt, die sich in körperlichen Schäden, oft auch in nächtlichen Albträumen und angstbesetztem Erwachen fortsetzte, nachdem sie als Flüchtlinge in die Schweiz kommen konnten und mich  während einiger Zeit für traumatherapeutische Hilfe brauchten. Eigentlich nie war ein Bedauern zu spüren über den Mut, der sie bewogen hatte, sich zum politischen Widerstand zu bekennen, Flugblätter zu verfassen und zu verteilen oder sich für andere Gefangene und deren Familien einzusetzen, in grossem Gegensatz zu den Folgen, die auf Tätern und Täterinnen von begangenem Unrecht und von ausgeübter Gewalt lasten, vor allem wenn sie diese als Tabu mit sich schleppen.

Die Tatsache der Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen, die aus dem mutigen Entscheid wächst, sich nicht unter Befehle und Verbote zu ducken, sondern aus einem Gefühl persönlicher Verantwortung anders zu handeln, findet sich auch in den Aufzeichnungen, die aus dem Widerstand gegen die stalinistische oder die nationalsozialistische Diktatur geblieben sind. In einzelnen Fällen war ein Wandel vorangegangen, eine Veränderung von Anpassung und Mitläufertum in Erschrecken, Ekel und schliesslich in Widerstand. In anderen Fällen setzte ein frühes Erkennen und Entscheiden der inneren Notwendigkeit ein, in keiner Weise dem gesellschaftlichen Zwang zur Unterwerfung unter ein politisches Diktat zu gehorchen, das Unrecht bedeutete.

Die knappen  Auszüge aus zwei verschiedenen Widerstandsbewegungen in Deutschland, die Ihnen vorliegen, dienen als Beispiel. Es lohnt sich, etwas näher darauf einzugehen. Sie mögen als Ergänzung zu den Beispielen aus der gleichzeitig in Frankreich oder in Holland erfolgten Furchtlosigkeit einzelner Frauen und Männer von Bedeutung sein wie zu jenen, die uns aus früheren Zeiten bekannt sind. Zur Zivilcourage, die sich heute, hier und jetzt manifestiert, bietet sich das Gespräch in unserem Kreis an.

Dietrich Bonhoeffer

„Die Rede vom heroischen Untergang angesichts einer unausweichlichen Niederlage ist im Grunde sehr unheroisch, weil sie nämlich den Blick in die Zukunft nicht wagt. Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affaire ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen. Kurz, es ist sehr viel leichter, eine Sache prinzipiell als in konkreter Verantwortung durchzuhalten. .“[2]

Dietrich Bonhoeffer, der 1906 in Breslau geborene lutherische Theologe, war 27 Jahre alt, als Hitler nach seiner Machtübernahme 1933 innerhalb kürzester Zeit einen Arierparagraphen erliess, der alle Schikanen gegen jüdische Erwachsene, Jugendliche und Kinder wie gegen Roma und weitere „Andersrassische“ rechtfertigte und der mit den Nürnberger Rassengesetzten vom 15. September 1935 noch verschärft wurde. Da die – ebenfalls lutherischen – „Deutschen Christen“ sich nach Hitlers Machtübernahme vollumfänglich zu ihm als „Führer“ und zur NSDAP bekannten und in öffentlichen Kundgebungen, in Fahnen und in theologischen Begründungen ihre Anhängerschaft bekundeten, spaltete sich am 31. Mai 1934 eine Gruppe von Gläubigen von diesen ab, die sich als „Bekennende Kirche“ bezeichneten. Die damals verfasste „Barmer Theologische Erklärung“ wurde von 139 Vertretern aus 18 Landeskirchen des damaligen Deutschland unterzeichnet, unter ihnen der Pfarrer von Berlin-Dahlem Martin Niemöller, der Schweizer Theologe Karl Barth, der damals an der Universität in Bonn eine Professur innehatte und der rechtzeitig nach Basel ausweichen konnte, Helmut Gollwitzer, der 1937 von Barth in Basel aufgenommen wurde, und Dietrich Bonhoeffer, der in Deutschland blieb.

Im Hintergrund hatte eine mutige Frau mitgewirkt, Elisabeth Schmitz aus Hanau, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde. 1935 verteilte sie an etwa 200 Bekannte den aufwühlend klaren Aufruf „Zur Lage der deutschen Nichtarier“. Sie anerkannte in Jesu den Ursprung des christlichen Glaubens als jüdischen und erklärte das Judentum daher als unbestreitbare Grundlage des Christentums. Jede Art der Verachtung und Diskriminierung jüdischer Menschen war für sie unakzeptierbar und sie forderte zum Widerstand gegen die Arierparagraphen und deren Verschärfung auf. Während die „Bekennende Kirche“ insbesondere die getauften Jüdinnen und Juden schützen wollte, hatte Elisabeth Schmitz während der ganzen nationalsozialistischen Zeit jüdische Verfolgte, unabhängig von Taufe oder Nicht-Taufe, versteckt, unterstützt und viele von ihnen gerettet.

Diese politische Klarheit, die Elisabeth Schmitz gegen jede Art von rassentheoretischer Verfemung von Menschen, damit gegen jede Rechtfertigung von Antisemitismus vertrat, wurde von den Befürwortern und Anhängern der „Bekennenden Kirche“ weniger vertreten. Viele von ihnen waren in ihrer Grundhaltung nationalkonservativ. Sie vertraten weiter Hitlers NSDAP – u. a. Martin Niemöller oder Friedrich von Bodelschwingh -, ertrugen aber die Vermischung von christlicher Lehre und politischer Ideologie nicht, wie sie vom Nazi-Chefideologen Alfred Rosenberg gefordert und von den „Deutschen Christen“ vertreten wurde.

Die ideologisch-rassistisch propagierte und gesetzlich legitimierte Entrechtung von Menschen, mit jeder Art von Entwürdigung und von Beraubung, von Gefangennahme, Abtransport und Tötung, versetzte Dietrich Bonhoeffer von Anfang an in die Pflicht, dagegen zu opponieren. Sowohl im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen wie im Predigerseminar, das er von 1935 bis 1937 in Finkenwalde, dann bis 1938 in Gross Schlönwitz, einem noch kleineren Dorf in Pommern, leitete, wagte er, öffentlich auszusprechen, dass die Grundsätze des Christentums, insbesondere die Gestalt Jesu und der Inhalt der Bergpredigt keinerlei Unterwerfung unter diese gesetzlichen Bestimmungen zuliessen. Die „konkrete Verantwortung“ war für ihn ausschlaggebend, und er schränkte seine klare  Stellungnahme auch nach dem 1940 gegen ihn erlassenen Verbot öffentlicher Rede und Publikation nicht ein.

Bonhoeffer stand vermutlich in Opposition nicht allein gegen den „Führerstaat“, sondern innerlich auch gegen seinen Vater, ohne dass sich in seinen Briefen aus dem Gefängnis eine offen ausgesprochene Auseinandersetzung mit dem Vater fände. Dieser hatte als Neurologe und Psychiater in der Berliner Klinik „Charité“ Dutzende von Gutachten für Zwangssterilisation unterschrieben und betreffend der Euthanasie-Gesetze, die seit 1939 umgesetzt wurden, kaum Auflehnung deutlich werden lassen.  Ebenso wenig hatte er sich aktiv gegen die Entlassung der jüdischen Ärzte aus seiner Klinik zur Wehr gesetzt.

Zusätzlich zum protestantisch-religiösen Widerstand, wie er sich im Rahmen der „Bekennenden Kirche“ auf eher passive Weise in der Nichtübereinstimmung mit den „Deutschen Christen“ zeigte, gab es in Deutschland mehrere weitere Widerstandskreise, von denen lediglich der kommunistische mit dem „Spartakusbund“ sich schon zur Zeit der Weimarer Republik gegen die sich schnell verstärkende NSDAP richtete, dann ab 1933 auch ein lockerer Bund von linken, vor allem kommunistischen Intellektuellen (z.B. Arvid und Mildred Harnack, Greta und Adam Kuckhoff, Harro Schulze-Boyse u.a.m.) sowie von Frauen und Männern aus Arbeiterkreisen (z.B. Carlo Mierendorf, Theodor Hombach u.a.m.) – beinah die Hälfte Frauen -, die Verfolgten halfen, Flugblätter und Klebezettel herstellten, Informationen an Auslandvertreter vermittelten und mit Kriegsbeginn zunehmend innerhalb der Wehrmacht versuchten, über die Funkabwehr Widerstand zu leisten. Sie wurden als „Rote Kapelle“ von der Gestapo verfolgt.

Ferner gab es die adligen Kreise resp. die Monarchisten (z.B. Helmuth Graf James von Moltke, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Claus Schenk von Stauffenberg, der u.a.m.am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler versucht hatte) wie Vertreter wirtschaftlicher Interessen (z.B.  Carl Friedrich Goerdeler, Ludwig Beck u.a.m.) und katholische Würdenträger (Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, ferner Jesuiten wie Augustin Rösch, Alfred Delp, Lothar König u.a.m.), von denen jedoch die meisten die am 30. Januar 1933 erfolgte Ernennung von Hitler als Parteichef der NSDAP zum Reichskanzler durch den greisen Reichspräsidenten Hindenburg begrüsst und unterstützt hatten. Gegen die rassistisch-völkische Ideologie, gegen die Judenverfolgungen und die extremen Einschränkungen der Gedankenfreiheit zeigten sie erst kaum Opposition, stellten sich aber mit den wachsenden Kriegsverlusten an der Ostfront zunehmend in Opposition gegen Hitler und begannen im „Kreisauer Kreis“ einen   Regierungswechsel zu entwerfen . Sie standen in Verbindung mit dem militärischen Widerstand innerhalb der Reichswehr, der ebenfalls erst im Lauf der grössenwahnsinnigen Eroberungspläne Hitlers angewachsenen war und der sich vor allem unter Admiral Wilhelm Franz Canaris, dem Chef der Abwehr Ausland, bündelte. Bonhoeffer stand  seit 1938 durch Vermittlung von Hans von Donanyi auch mit Canaris in Verbindung.

So ergaben sich im Lauf der Jahre unter den Millionen von Mitläufern und Mitläuferinnen einige hundert Oppositionelle, die allerdings vorweg in die Fänge der Gestapo gerieten, verhaftet und getötet wurden. Mit der Bedeutung der Widerstandsgruppe der „Weissen Rose“, die von Studenten und Studentinnen aus München auf Hamburg und auf Berlin über ging, werden wir uns separat befassen.

Dietrich Bonhoeffer verfügte über einen starken Freundes- und Geschwisterkreis. Hans von Donanyi war ein Schulfreund von ihm, gleichzeitig ein Schwager, da er seit 1925 mit seiner nächst-älteren Schwester Christine verheiratet und Vater ihrer drei Kinder war, ein Jurist, der beim Reichsjustizministerium als Staatsanwalt arbeitete und der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs über Hans Oster, einen hohen Offizier der Wehrmacht und gleichzeitig eine zentrale Gestalt der militärischen Opposition, von Canaris angestellt  worden war. Um 1940 hatte Dohnanyi auch Klaus Bonhoeffer, den Drittältesten der acht Bonhoeffer-Geschwister, ebenfalls ein Jurist, für den militärischen Widerstand gewinnen können, ebenso Rüdiger Schleicher, den Ehemann von Ursula Bonhoeffer, der Viertältesten unter den Geschwistern. Sabine Bonhoeffer schliesslich, die Zwillingsschwester Dietrich Bonhoeffers, war mit dem Juristen Gerhard Leibholz verheiratet, der wegen seiner jüdischen Herkunft  mit seiner Frau Deutschland verlassen musste und nach England emigrierte[3].

Hans von Dohnanyi gehörte zu den wachen, schon früh kritischen Oppositionellen. Er war gegenüber Hitler seit dem „Röhm-Putsch“[4] von Ende Juni/Anfang Juli 1934 zunehmend skeptisch eingestellt, da die schlaue Berechnung und die masslose Gewalt, die mit den Machtansprüchen des Reichskanzlers einhergingen, nicht mehr zu übersehen waren. Dohnanyi hatte seit damals begonnen, mit aller Vorsicht geheime Kontakte zu anderen Oppositionellen zu suchen, wobei er gleichzeitig seine wechselnden Funktionen im Staatsdienst beibehielt, bis er 1941 entlassen und im April 1943 verhaftet wurde. Dazwischen hatte er vielfältige verbotene Hilfsaktionen geleistet, u. a. noch 1942 zwei jüdischen Rechtsanwälten und deren Familien, insgesamt 13 Personen, falsche Papiere besorgt sowie deren Ausreise aus Berlin und die Einreise in die Schweiz ermöglicht.  Es war in diesem Zusammenhang, dass den Behörden ein „Devisenvergehen“ auffiel, das schliesslich zu Dohnanyi’s Verhaftung führte. Der für ihn zuständige Richter war Hans Sachs, auch er ein Mitglied des militärischen Widerstands, der das Verfahren verzögerte. Als jedoch am 20. Juli 1944 der gegen Hitler geplante Anschlag scheiterte, wurde Dohnanyi als Mitbeteiligter bei der Vorbereitung in ein anderes Anklageverfahren einbezogen, ins KZ Sachsenhausen versetzt, als Hochverräter zum Tod verurteilt und am 9. April 1945 erhängt, wie gleichzeitig auch Hans Oster, Hans Sachs und weitere hochstehende Staatsanwälte und Militärs.

Wilhelm Canaris wiederum, um den sich ein grosser Teil des militärischen Widerstandes vernetzt hatte, war selber eine zwiespältige Person. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte er gleichzeitig als Agent und als Offizier gewirkt, hatte später die bewaffneten Massnahmen gegen die Anhänger des marxistischen Spartakusbundes organisiert und sich während der Weimarer Republik für die ideologische Verstärkung der rechtsradikalen Kräfte eingesetzt, dann auf massgebliche Weise die Unterstützung Francos durch die deutsche Armee organisiert. In seiner militärischen Funktion stand er noch 1939, zu Beginn des Kriegs, voll und ganz hinter Hitler und war auch für schwere Verbrechen in Polen mitverantwortlich, durchschaute aber vermutlich mit Beginn  des Russland-Feldzugs, das heisst ab dem 22. Juni 1941, den Grössenwahnsinn und die bedenkenlose Willkür dieses „Führers“. Er übte seine Admiralsfunktion weiter aus und unterstützte gleichzeitig den konservativen Widerstand gegen Hitler. Auch soll er einzelnen jüdischen Verfolgten, z. B. einem chassidischen polnischen Rabbiner, zur Flucht verholfen haben. Schon am 11. Februar 1944 wurde er seines Amtes enthoben, befand sich unter „Hausarrest“, blieb jedoch weiter in Kontakt mit seinen Vertrauten. Am Attentatsversuch auf Hitler vom 20. Juli 1944 war er nicht beteiligt, sondern hatte lediglich davon Kenntnis erhalten.

Am 23. Juli 1944 wurde Canaris verhaftet und ins Gestapo-Gefängnis an der Prinz-Albrecht-Strasse 8 in Berlin versetzt, in welches auch Dietrich Bonhoeffer 8. Oktober 1944 gebracht  wurde, nachdem er seit der Gefangennahme vom 5. April 1943 in der Militärabteilung des Gefängnisses von Berlin-Tegel noch unter einigermassen erträglichen Bedingungen gestanden hatte. In der Prinz-Albrecht-Strasse gab es kaum noch Kontakte. Dass Dietrich Bonhoeffer mit weiteren Verhafteten zuerst ins KZ  Buchenwald, dann am Abend des 3. April 1945, als von Westen her schon die amerikanischen Geschütze zu hören waren, von Buchenwald  weg über Schönberg ins KZ Flossenbürg gefahren wurde, konnte erst viel später  aufgelistet werden. Am 9. April 1945, am gleichen Tag, als in Sachsenhausen Hans von Dohnanyi umgebracht wurde, wurde Dietrich Bonhoeffer in Flossenbürg erhängt, gleichzeitig mit Wilhelm Canaris, Hans Osten, Karl Sack und Ludwig Gehre, d.h. mit Beteiligten am militärischen Widerstand, die nicht überleben sollten.[5]

Der Mut zum politischen Widerstand mag bei den jungen Mitgliedern der „Weissen Rose“ noch überzeugender gewirkt haben und weiter nachwirken als bei gesellschaftlich arrivierten Erwachsenen. Gleichzeitig lässt die Entwicklungsgeschichte dieser Studenten und Studentinnen deutlich werden, einerseits in welchem Mass der gesellschaftliche Trend eine Anpassung fordert, andererseits wie schwierig es ist, sich aus der Masse zu lösen und einen anderen Weg zu wählen, gleichzeitig wie sehr Freundschaft und gemeinsame, verbindende Zielsetzungen beim Widerstand unterstützend mitwirken.

Der 1918 geborene Hans Scholl und seine drei Jahre jüngere Schwester Sophie Scholl waren wie ihre älteren Schwestern Inge und Elisabeth und ihr jüngerer Bruder Werner als Kinder gesellschaftskritischer Eltern zuerst in Forchtenberg, dann in Ludwigsburg und schliesslich ab 1932 in Ulm aufgewachsen. Robert Scholl, der Vater der Kinder, hatte trotz ärmster Herkunftsverhältnisse eine Ausbildung als Buchhalter und Verwaltungsangestellter machen können, später als Treuhänder. Als überzeugter Pazifist hatte er schon im Ersten Weltkrieg den Mut gehabt, sich gegen den Wehrdienst zu stellen. Er wurde als Sanitäter eingesetzt und lernte in einem Lazarett seine zehn Jahre ältere Frau Magdalena kennen, die dort als Krankenschwester arbeitete, ursprünglich als Diakonissin in einem Heim für behinderte Kinder. Als während der Weimarer Republik mit der wachsenden Arbeitslosigkeit und Verelendung der Bevölkerung die Mitgliedschaft bei der Kommunistischen Partei anwuchs, jedoch noch viel stärker jene bei der NSDAP, hielt sich Robert Scholl von beiden fern und zog sich dadurch Misstrauen und Feindseligkeit zu. Er scheute sich nicht, seine liberale Gesinnung offen zu vertreten, sowohl als leitender Beamter in Forchtenberg wie als Sekretär einer Gewerkschaft in Ludwigsburg und später als Steuerberater in Ulm. Offen warnte er vor der Machtübernahme Adolf Hitlers, die am 30. Januar 1933 Realität wurde. Schon vorher hatte er seinen jüdischen Kunden geraten, rechtzeitig Deutschland zu verlassen.

Doch die Kinder Scholl – Inge und Hans, bald auch Elisabeth, Sophie und Werner – liessen sich von der Betörungskraft der Uniformen und Fahnen, der Marschmusik und der Fackelzüge begeistern. Gegen den strikten Willen ihres Vaters traten die damals 16jährige Inge und der 15jährige Hans am 1. Mai 1933 der „Hitlerjugend“ – „HJ“ bei. Werner wurde schon als Zehnjähriger Mitglied der „Freischar junger Nation“, die vollumfänglich nationalsozialistisch ausgerichtet war. Die Gruppe wurde von einem Mitschüler von Hans geleitet, der auch ihn dafür gewinnen wollte. Hans aber liess sich von der „dj.1.11“ begeistern, einer von Eberhard Köbel am 1. November 1929 gegründeten „bündischen“ Gruppe, die sich in eine „blaue Kluft“ kleidete, eine andere Fahne trug, sich jedoch voll und ganz zu Adolf Hitler bekannte und sich als Teil der „HJ“ verstand. Als 1934 auch „Jungmädelschaften“ gegründet wurden, traten Elisabeth als Vierzehnjährige und Sophie als Dreizehnjährige sofort bei.

So wie die nationalsozialistische Ideologie die Jugendgruppen lenkte, erfüllte sie das ganze Schulsystem und bestimmte in den einzelnen Fächern, insbesondere in  Biologie und Geschichte, in Deutsch und in „Heimatkunde“ den Stoff. Die Scholl-Kinder gingen  mit Tausenden anderer Kinder im „Ulmer Jungvolk“ als „Volkszugehörige“ auf und strebten Führungsrollen in ihren Gruppen an, versammelten sich in der Schule als „arische“ Kinder zu einem „Flaggenappell“, von dem die jüdischen Mitschülerinnen ausgeschlossen waren, nahmen im Donaubad in Kauf, dass „Hunden und Juden kein Zutritt“ zustand. Gleichzeitig erlebten sie zu Hause die warnenden Kommentare ihres Vaters, der auf die Errichtung der Konzentrationslager und Volksgerichtshöfe, auf die Abschaffung der demokratischen Rechte wie auf die Verfemung und Vertreibung der jüdischen Mitbewohner hinwies, auch auf  die unverhüllten Kriegsabsichten Hitlers, doch sie erachteten ihn als „reaktionär“, als „zurückgeblieben“ und unfähig, die Bedeutung des „Führers“ zu verstehen. Hans wurde für seine Schwestern und für seinen Bruder zum bewunderten Vorbild, alle wollten wie er in Führungsfunktionen aufsteigen.

Zu einer ersten Veränderung im Gefühl bedenkenloser Zugehörigkeit kam es, als 1935 die „bündischen“ Gruppen verboten wurden, so auch die „dj.1.11“, der Hans in Ulm vorstand. Die eigene Fahne, das Symbol der Besonderheit, wurde der Gruppe entzogen. Eberhard Köpel wurde von der Gestapo gefangengenommen und gefoltert, wurde später frei gelassen und konnte nach England entkommen. Etwa gleichzeitig wurde erlebt, wie ein junger Lehrer auf dem Weg zur Schule von der SA angespuckt, dann abgeführt und ins Konzentrationslager „versetzt“ wurde. Hatte er ein Verbrechen begangen? Dazu kam für Hans im September 1936, als er 18 Jahre alt war, die Teilnahme am  Reichsparteitag in Nürnberg mit den Erfahrungen  der masslosen Propaganda und Macht der Partei, mit stundenlangem Anhörenmüssen von Reden, mit dem Vorbeimarschieren von 14‘000 Soldaten aller Armeegattungen, begleitet von schweren Panzern und Flugzeugen, kurz, die Erfahrung, Teil einer uniformierten, überwachten, dem „Führer“ ergebenen Masse zu sein. Er konnte nach der Rückkehr kaum darüber sprechen, ausser zu einem vier Jahre älteren Freund, Ernst Reden aus Köln, der in Ulm Militärdienst leistete. Dieser teilte ihm auch seine kritischen Überlegungen mit, auch die Tatsache seiner Homosexualität.

Die Situation verschlimmerte sich ab Spätherbst 1937. Hans hatte den Arbeitsdienst hinter sich und wurde als Rekrut ins Reiterregiment von Bad Cannstadt eingezogen, während Ernst Redens Militärdienst in Ulm zu Ende ging und er wieder nach Köln zog. Er war inzwischen auch ein guter Freund von Werner geworden und hatte gleichzeitig den Briefwechsel mit Hans fortgesetzt. Im November stand frühmorgens die Gestapo vor der Tür bei Scholls, forderte eine Hausdurchsuchung, packte die Tagebücher der Kinder ein und nahm Inge, Sophie und Werner gefangen. Gleichzeitig wurden die Haushalte aller Jungen durchsucht, die Mitglieder von Hans‘ Jugendgruppe waren und auch diese wurden gefangen genommen. Sophie wurde nach wenigen Stunden wieder freigelassen, ebenso Inge, doch der fünfzehnjährige Werner kam am selben Abend ins Polizeigefängnis von Stuttgart und wurde so lange in die Mange genommen, bis er die Freundschaft mit Ernst Reden nicht mehr verschweigen konnte. Dieser wurde ebenfalls verhaftet, wurde zu drei Wochen Gefängnis verurteilt und anschliessend ins Konzentrationslager Welzheim  versetzt. Hans wurde Mitte Dezember aus dem Militärdienst heraus verhaftet und ebenfalls in Stuttgart verhört. Er wurde der „bündischen Geisteshaltung“ und der erotischen Beziehung zu Jungen aus seiner Jugendgruppe angeklagt. Robert Scholl fuhr sofort nach Stuttgart, nahm Kontakt mit seinem Kompaniechef auf und setzte sich für die Freilassung seines Sohnes ein. Er wurde tatsächlich Anfang 1938 frei gelassen, doch die Akte von Ernst, Hans und Werner blieben bei der Gestapo als offizielles Anklagematerial zurück. Als am 12. März 1938 Österreich ins Grossdeutsche Reich einverleibt wurde, erliess Hitler für kleinere Vergehen ein Straffreiheitsgesetz. Ernst Reden blieb trotzdem weiter verhaftet und Hans wurde nochmals wegen „bündischer Geisteshaltung“ verhört. Sophie selber, damals sechzehn Jahre alt, wurde durch die Gauführerin aus ihrer Leitungsfunktion bei der Mädchengruppe der „HJ“ ausgeschlossen, da sie die Werke von Heinrich Heine empfohlen hatte. Ihr wie der ganzen Familie  wurde bewusst, wie brüchig „Freiheit“ geworden war, auch dass die Warnung  des Vaters vor der verhängnisvollen Macht der NSDAP mehr als begründet war.

Die Lage verschlechterte sich weiter. Kriegsangst machte sich breit, da Hitler zusätzlich zum Saargebiet, das am 1. März 1935 als „Saarland“ „ins Reich zurückgekehrt war“ und zusätzlich zu Österreich auch das Sudentenland einverleiben wollte. Nachdem Ende September 1938 das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde, marschierte am 1. Oktober 1938 die Wehrmacht über die Grenze der Tschechoslowakei und besetzte das Gebiet als „Protektorat Böhmen und Mähren“. Eine Freundin Sophies, die in einem kleinen Kreis ihre Bedenken darüber äusserte, wurde von einer Mitschülerin verpetzt und aus der „HJ“ gefeuert.  Angst und Misstrauen verunsicherten Sophie zutiefst. Auch die anwachsende Gewalt gegen Juden beunruhigte sie. In Ulm wie in allen deutschen Städten und Dörfern wurden in der Nacht vom 10. November 1938 von braunen Sturmtrupps Synagogen angezündet, Geschäfte und Wohnhäuser verwüstet, Menschen auf die Strasse gezerrt und misshandelt, auch der alte, in Ulm verehrte Rabbiner. Robert und Magdalena Scholl nahmen am nächsten Morgen Verletzte bei sich auf und kümmerten sich um weitere jüdische Bekannte, die sich versteckt hielten. Die Realität war erschütternd. Weil ein Junge in Paris einen Beamten der deutschen Botschaft erschossen hatte, um sich für das Leiden zu rächen, das seinen Eltern angetan worden war, wurde den Juden eine „kollektive Sühne“ von einer Milliarde Mark auferlegt, dazu die Kosten zur Behebung aller Schäden, die während des Novemberpogroms entstanden waren sowie die Abtretung der Versicherungsleistungen. Die Schikanen wuchsen ins Masslose an, Juden durften keine Verkehrsmittel und keine öffentlichen Bänke mehr benutzen, keine Zeitungen und Bücher mehr kaufen, nicht mehr Schulen, Universitäten und öffentliche Museen besuchen, keine Haustiere mehr halten, keine Autos und Fahrräder mehr besitzen, nur noch einen kleinen Bezirk in der Stadt begehen, nur noch während wenigen Stunden am Tag, schliesslich wurden sie in wenigen Häusern zusammengepfercht und durften nirgendwo sonst wohnen. 1933 hatten in Ulm noch 530 jüdische Menschen gelebt, im Mai 1939 noch 178. Sie wurden 1941 endgültig deportiert. Konnten sich junge Menschen gegen die zunehmenden Verschärfungen und Verbote wehren? Sophie hatte oft eine Schulkollegin nach Hause begleitet, die, im Gegensatz zu ihr mit ihrem dunkeln Haar,  blond und blauäugig, aber jüdisch war. Warum war der Wert der Menschen ungleich und nicht gleich?  Warum sollte der Überwert der „arischen Rasse“ wahr sein? Als am 16. März 1939 in Ulm der von Hitler neu angeordnete „Heldengedenktag“ gefeiert wurde,  brach plötzlich mit Krachen eine Knallkapsel los, die Werner Scholl frühmorgens auf dem Rednerpult versteckt hatte. Am nächsten Morgen hatte die „Justitia“-Skulptur vor dem Gerichtsgebäude die Augen mit einer Hakenkreuzbinde zugedeckt, auch dies eine nächtliche Mutprobe von Werner, von der nur die Familie wusste.

Am 1. September 1939 griff die Wehrmacht Polen an, nachdem am 23. August zwischen Hitler und Stalin ein Nichtangriffspakt abgeschlossen worden war. Zwei Tage später erklärten England und Frankreich, die zur Unterstützung Polens verpflichtet waren, Deutschland den Krieg. Hans hatte während der Sommermonate einen Ernteeinsatz in den Masuren leisten müssen und war mit dem letzten Schiff über die Ostsee nach Deutschland zurückgekehrt. Er hatte sein Medizinstudium in München begonnen, musste sich aber für die Einberufung in die Wehrmacht bereit halten. Sophie war entsetzt über diesen Krieg, der ihr völlig sinnlos erschien, da er von Deutschland zum Zweck der Eroberung fremder Landgebiete begonnen wurde. Die eigenen Soldaten, vielleicht ihr Bruder und ihre Freunde, würden getötet werden, nicht weil sie ihr Land „verteidigen mussten“, wie offiziell behauptet wurde. Sie stimmte dabei mit ihrem Vater überein und hörte mit ihm am Abend Radio Beromünster, obwohl das Abhören ausländischer Nachrichten untersagt und bestraft wurde, bald auch BBC und weitere verbotene Sender, dank eines zusätzlichen Ultrakurzwellen-Radios, um mehr Informationen zu haben. Seit Sophie wegen der Lektüre verbotener Literatur aus der „Jungmädel-HJ“ ausgeschlossen war, hatte sie sich mehr und mehr von ihren Gleichaltrigen abgesondert und wurde im Denken zur Oppositionellen.

Im Frühjahr 1940 machte Sophie ihr Abitur. Sie hatte beschlossen, einen Sozialberuf zu wählen und wie ihre Schwester Elisabeth die Ausbildung zur Kindergärtnerin am Fröbelseminar zu machen, um nicht als Bedingung fürs Studium ein halbes Jahr lang „Reichsarbeitsdienst“ leisten zu müssen. Sie wollte dies nicht tun. Doch bevor die Ausbildung begann, am 9. April 1940, wurde der Einmarsch der Wehrmacht in Dänemark und Norwegen bekannt gegeben, einen Monat später, am 10. Mai, hiess es, die Allierten hätten das deutsche Ruhrgebiet angreifen wollen, seien jedoch von der Wehrmacht abgefangen worden, die darauf Luxemburg besetzte, in Holland einmarschierte und bis Ende Mai auch Belgien besetzt hatte.

Die Nachrichten aus den deutschen und den ausländischen Radiosendern waren enorm unterschiedlich. Sophie teilte mit ihrem Vater das Entsetzen, dass Hitler neutrale Länder angriff, mit denen er ein Jahr zuvor Nichtangriffspakte unterschrieben hatte. Hans war als Meldefahrer bei der Eroberung Belgiens eingesetzt worden, Fritz, ein naher Freund von ihr, mit dem sie ebenfalls in Briefaustausch stand, in Holland. Sie wagte es, in ihrer Korrespondenz offen ihre Zweifel und ihre zunehmende Abkehr auszudrücken. Als sie das erste einmonatige Berufspraktikums in einem Kindergarten in Ulm leisten musste, das Mitte Juni 1940 begann, spürte sie, dass sie diesen Beruf auf die Dauer nicht ausüben mochte, was durch das zweite Praktikum in Bad Dürrheim mit Kindern aus „besseren Familien“ noch bestätigt wurde. Die Fortsetzung des Kriegs mit dem Angriff auf Frankreich beschäftigte ihr Denken und Gemüt viel stärker, am 17. Juni die Nachricht, dass Frankreich kapituliert habe. Gleichzeitig erfuhr sie erstmals von einer alten Kollegin ihrer Mutter, die in der Anstalt für Geisteskranke und Geistesschwache in Grafeneck bei Münsingen arbeitete, dass Bewohner und Bewohnerinnen mit der Begründung „unwerten Lebens“ getötet wurden. Das Entsetzen darüber ging mit einem anderen einher: auf dem Ulmer Marktplatz wurde ein gleichaltriges Mädchen, das sie vom Sehen kannte, vor einer johlenden Menge kahl geschoren, weil sie sich mit einem französischen Kriegsgefangenen eingelassen hatte.

Trotz Abschluss ihrer Berufsausbildung am Fröbelseminar im März 1941 kam für Sophie das Aufgebot für den halbjährigen Arbeitsdienst mit dem militärischen Tagesablauf und den strengen, parteikonformen  Verhaltensregeln, dem sie hatte ausweichen wollen. Gleichzeitig erfuhr sie vom Einmarsch der deutschen und österreichischen sowie „angefreundeter“  bulgarischer und rumänischer Truppen in Jugoslawien und in Griechenland, das trotz englischer Schutztruppen kapitulierte, ferner vom verstärkten deutschen Luftangriff auf England sowie vom Vorrücken der Wehrmacht, gemeinsam mit Mussolinis Truppen, in Nordafrika. Im gleichen Sommer, am 23. Juni 1941, erfolgte die Ankündigung des Kriegs gegen Russland. Für den Arbeitsdienst wurde Sophie nach den ersten Monaten im Lager an verschiedenen Orten eingesetzt, in wechselnden Bauernfamilien mit ungleichen Bedingungen, ab Oktober als Kindergärtnerin in Blumberg, einem Dorf nicht weit von der Schweizer Grenze, in welchem ein Erzvorkommen wieder genutzt werden sollte. Sie erlebte die Lebensbedingungen von Zwangsarbeitern und fühlte sich im Vergleich mit ihnen bevorzugt. Im Geheimen befasste sie sich mit Augustinus „Bekenntnissen“ und Theodor Haeckers „Was ist der Mensch“ und erlebte den zurückhaltenden, aber wachen Widerstand bei katholischen Gleichaltrigen, mit denen sie den Arbeitsdienst teilte.

Wenn Sophie ihren Bruder in Ulm treffen konnte, erzählte sie ihm davon. Bei ihm veränderte sich auf ähnliche Weise der Beziehungskreis. Er war in München mit Theodor Haeckers Freund und Verleger Carl Muth zusammengetroffen, der über siebzig Jahre alt war und der in seiner Zeitschrift „Hochland“ seit 1933 Kritik gegen die nationalsozialistische Ideologie wagte. Zwischen Carl Muth und Hans entstand ein intensiver Gedankenaustausch, der sein kritisches Denken verstärkte. Gleichzeitig bekamen beide Geschwister Kenntnis von der am 3. August 1941 erfolgten Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, die als Flugblatt in engem Schreibmaschinendruck im Briefkasten ihrer Eltern vorgefunden wurde und der öffentlich die „Euthanasie“ verurteilte, den Abtransport und die Tötung von Menschen, die vom Staat als „unproduktiv“ und daher als „lebensunwert“ erklärt wurden. Der konservativ-monarchische Geistliche, der schon 1936 die Frage von „Gehorsam und Gewissen“ thematisiert hatte, wirkte auf Sophie wie auf Hans zugleich ermutigend und verwirrend, begrüsste er doch in einer anderen Predigt vom 14. September 1941 den Russlandfeldzug als Angriff auf die „jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft“. Seit Ende September waren alle Juden verpflichtet, in der Öffentlichkeit auf erkennbare Weise einen gelben Stern zu tragen. Auch setzten die ersten offiziellen „Umsiedlungen“ in den Osten um, wobei die schrecklichen Zustände in Polen, die Erschiessungen, die Liquidation in Gaswagen, die Todesbedingungen in Ghettos und in Konzentrationslagern schon damals hinter der Hand bekannt waren,

Anfang Mai 1942 konnte Sophie mit dem Studium in München beginnen und erst mal bei Carl Muth wohnen, bis sie in der Nähe der Uni ein Zimmer finden konnte. Kurz vorher war ihr Vater von einer Büroangestellten bei der Gestapo wegen „Aufhetzung gegen den Führer“ angezeigt, verhaftet und befragt worden. Es war ein Glück, dass er wieder frei kam. Hans machte seiner Schwester gleich seine nächsten Freunde bekannt, die meisten von ihnen auch Medizinstudenten, die sich gegen die verhängnisvolle Doktrin des Nationalsozialismus stellten. Am nächsten stand ihm und bald auch Sophie Alexander Schmorell, der aus reichem, bürgerlichem Haus kam, in Russland zur Welt gekommen war, seine Mutter früh verloren hatte, jedoch dank seiner Kinderfrau fliessend Russisch sprach und künstlerisch hoch begabt war, ferner dessen alter Schulfreund Christoph Probst. Sein Vater hatte sich scheiden lassen und in zweiter Ehe eine jüdische Frau geheiratet, so dass auch er alle Schikanen durchstehen musste, Selbstmord beging und seinen Sohn sich selber überliess. Diese heiratete bald, noch zu Beginn des Studiums, und hatte schon zwei Kinder.

Sophie fühlte sich bei Christoph Probst’s Frau und den Kindern wohl, überhaupt im Kreis der Freunde ihres Bruders, auch bei Denkern und Künstlern aus dem Freundeskreis von Professor Muth, der die Geschwister zu Lesungen und zu Gesprächen einlud und bei denen die entsetzlichen Verbrechen, die vom deutschen Regime begangen wurden, offen besprochen werden konnten. Immer stärker wurde für die Freunde klar, dass im Verborgenen zum Widerstand aufgerufen werden musste, dass dies an Hand von Flugblättern am besten geschehen konnte, dass kein Aufschub mehr zu rechtfertigen war.

Von Bedeutung wurde insbesondere der Architekt Manfred Eikemeyer, der die Tatsachen in Polen aufs genaueste kannte und der sein grosses Atelier in Schwabing zur  Verfügung stellen wollte, um die Flugblätter herzustellen, ferner der in Chur geborene Philosoph und Psychologe Kurt Huber, bei dem Sophie studierte und der selber nach der Widerstandsarbeit drängte. Hans und sein Freund Schmorell begannen, einen ersten Aufruf zu verfassen, feilten aber lange daran herum, da sie als Medizinstudenten wenig Erfahrung mit publikationsreifem Schreiben hatten. Schliesslich war der Text auf Wachsmatritzen zu tippen, um vervielfältigt werden zu können. Als Überschrift einigten sich alle Mitverantwortlichen auf „Flugblätter der Weissen Rose“. Es kamen hundert Abschriften zustande, die in Briefumschläge verpackt, mit der Schreibmaschine an Freunde und nächste Bekannte adressiert und verschickt wurden. Der erste Satz auf dem ersten Flugblatt war: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren’ zu lassen“. Der Text endete mit dem Aufruf, dass alle sich ihrer „Verantwortung als Mitglieder der christlichen und abendländischen Kultur“ bewusst sein sollten.

Im zweiten Flugblatt hielten die jungen Verfasser fest, dass der Nationalsozialismus keine geistig-weltanschauliche Bewegung war, wie behauptet wurde, sondern eine „stete Lüge“ und ein „ständiger Betrug der Verbrecherclique“, von der es sich zu befreien galt. Dass alle,  die sich nicht dagegen auflehnten, mitschuldig seien an den Verbrechen, die mit der bestialischen Ermordung von Juden in Polen begangen würden.  Dann im dritten Flugblatt, dass „das Wohl aller das höchste Gesetz“ sein müsse, dass daher eine Staatsform zu schaffen sei, die der „civitate Dei “ – dem Gottesstaat“ – am nächsten komme, dass dagegen der aktuelle deutsche Staat eine „Diktatur des Bösen“ sei und dass es eine Feigheit wäre, diese nicht zu beseitigen. In allen Bereichen sei Sabotage dringlich.  Auch im vierten Flugblatt wurde im gleichen Stil und in fast missionarisch-theologischer Sprache der Aufruf fortgesetzt  und gefordert, „das Böse dort anzugreifen, wo es  am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers“. Sie würden nicht schweigen wie die meisten im Volk, „wir sind Euer böses Gewissen, die Weisse Rose lässt Euch keine Ruhe.“ Während einer Vorlesungspause wurde Sophie von einer Freundin eine Kopie des Flugblattes gezeigt, das sie in ihrem Briefkasten vorgefunden hatte. Am Abend drängte Sophie ihren Bruder, ihr zuzugestehen, dass er die Flugblätter verfasst habe, sie erkenne seine Sprache. Auch dass sie sich daran beteiligen wolle, dass sie sich ebenso verantwortlich fühle wie er.

Das Semester setzte sich offiziell mit allen gebotenen Verhaltensregeln fort, aber gleichzeitig mit geheimen Treffen im Atelier von Eikemeyer oder im Haus von Schmorell, auch in Anwesenheit von Huber, einmal von Haecker, der zu einer Lesung eingeladen worden war, obwohl er ein totales Verbot hatte, öffentlich aufzutreten. Ein weiterer Medizinstudent war zum kleinen Kreis der Verbündeten hinzu gekommen, Willi Graf, ein Katholik aus Saarbrücken, der in den Jugoslawien-Feldzug einbezogen worden war, ferner ein Oberschüler aus Ulm, Hans Hirzel, der sich am Vervielfältigen und Verteilen der Flugblätter beteiligen wollte.

Mit Abschluss des Sommersemester wurden die Medizinstudenten zur „Frontfamulatur“ an die Ostfront abkommandiert, während Sophie nach Ulm zurückkehrte, dort aber erfuhr, dass ihr Vater infolge der Anzeige bei der Gestapo durch seine Angestellte zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Werner war ebenfalls an die Ostfront abkommandiert werden, ebenso Sophie’s Freund Fritz.  Sie selber musste während zwei Monaten „Rüstungseinsatz“ in einer zugigen, dröhnenden Schraubenfabrik leisten, wurde „zur Maschine degradiert“, wie sie festhielt, nicht viel anders als die russischen Zwangsarbeiterinnen, die brutal zur Maximierung der Produktion angetrieben wurden. Sie bewunderte ihren Vater, der nach der Rückkehr aus dem Gefängnis unverändert war, ohne Hass gegenüber Menschen, die ihm so viel Erniedrigung angetan hatten. Wegen politischer Unzuverlässigkeit wurde ihm die Berufsausbildung verboten. Über dreissig seiner Kunden setzten sich für ihn ein, konnten aber nichts bewirken. Für Hans, der Ende Novembervon der Ostfront zurückkehrte, und für Sophie war die Fortsetzung des Studiums in Frage gestellt, doch vorderhand wurden sie von ihrem Vater ermutigt, nicht aufzugeben.

Anfang Dezember 1942 fanden sich Hans und Sophie Scholl,  Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf wieder in München an der Universität. Die Dringlichkeit, Widerstand zu leisten, hatte sich noch verstärkt. Eine Freundin von Hans, Traute Lafrenz, nahm zwei Flugblätter mit nach Hamburg, um sie dort in einem ähnlichen Freundeskreis zu verbreiten. Es wurde beschlossen, dass in allen deutschen Universitätsstädten studentische Zellen einzurichten seien, damit gleichzeitig Flugblattaktionen umgesetzt werden konnten. Alexander Schmorell nahm Kontakt mit Falk Harnack auf, dessen Bruder Arved Harnack sowohl mit Dietrich Bonhoeffer von der „Bekennenden Kirche“ wie mit der kommunistischen Widerstandsgruppe der „Roten Kapelle“ in Verbindung stand. Gegen Ende Dezember trafen Hans und Alexander sich mit  Arved Harnack zu einem Austausch in Chemnitz, ohne dass eine Vereinbarung getroffen werden konnte. Gleichzeitig bemühten sie sich, die intern erfolgte  Kritik, die Sprache der Flugblätter sei „elitär“ und „schwer verständlich“, ernst zu nehmen. Sie baten Professor Huber um Unterstützung in sprachlicher Hinsicht, gelangten auch mit der Bitte um finanzielle Hilfe an Eugen Grimminger, der während Robert Scholls Gefängnisaufenthalt die Familie unterstützt hatte. Ein Scheck von fünfhundert Mark wurde Hans ausgestellt, damit die Kosten für Vervielfältigung, Papier, Porto etc. gedeckt werden  konnten. Sophie wurde zur Verwalterin des Geldes erklärt. Die Bemühungen von Willi Graf, die katholischen Jugendorganisationen für die Verbreitung der Flugblätter einzubeziehen, scheiterten an der Angst  vor den herrschenden Gesetzen. Aktionen wie jene der „Weissen Rose“ wurden als Hochverrat mit Schauprozessen und Todesurteilen  beantwortet.

Der Russlandfeldzug erwies sich Ende Dezember 1942 mit der in Stalingrad eingeschlossenen 6. Armee als grosses Verhängnis. Sorgen um Werner, der sich in diesem Kessel befand, belasteten die Scholls. Für Hans und Alexander war es dringlich, ein sechstes Flugblatt zu verfassen. Sie machten je einen Entwurf und legten diese Kurt Huber vor, der daraus auswählte, den Text verkürzte und den Inhalt verdeutlichte. Nun stand auf der Kopflinie „Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland“, um die Vermutung zu wecken, dass im ganzen Land ein Aufstand gegen Hitler im Gang war. „Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestossene Volk sein? Nein! Darum trennt Euch von dem Nationalsozialistischen Untermenschentum! Beweist durch die Tat, dass Ihr anders denkt!“ Der Aufruf  endete mit der Forderung „Freiheit der Rede, Freiheit der Bekenntnisse, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten.“

Da alle Studenten als Soldaten einbezogen wurden, gab es viele, die verwundet oder mit amputierten Gliedern zurückgekommen waren. Ende Jahr erging der Aufruf, dass sich alle Studierenden am 13. Januar 1943 zu einer Festversammlung zum 470sten Bestehen der Universität einzufinden hatten, mit der Androhung des Studienentzugs bei Nichterscheinen. Hans und Sophie Scholl beschlossen, fern zu bleiben. Sie erfuhren noch am selben Tag von den Freunden, mit welch widerlicher Arroganz der Gauleiter in seiner Begrüssungsrede die Studenten als „Nutzniesser“ des Staates angegriffen hatte, wie er den Studentinnen vorwarf, „sich an der Universität herumzudrücken statt dem Führer ein Kind zu schenken“. Dass Proteste laut wurden, dass die Frauen empört aufstanden und den Saal verlassen wollten, jedoch von SS-Posten zurückgehalten und zum Teil gefangen genommen wurden. Dass die Kommilitonen dagegen  protestieren und die Freilassung der Studentinnen forderten. Das war neu! Hans und Sophie setzen die Vorbereitung des sechsten Flugblattes noch intensiver fort. Es sollten diesmal nicht hundert, sondern mehrere tausend Exemplare verteilt und verschickt werden. Dabei war es nicht einfach, genügend Briefumschläge einzukaufen, in kleinen Portionen überall in der ganzen Stadt, gleichzeitig mit der Vervielfältigung fortzufahren, in öffentlichen Telefonzellen schon Kopien liegen zu lassen und planmässig die Verteilung umzusetzen. Sophie warf eine grosse Anzahl Augsburg ein, fuhr mit einer weiteren Menge nach Ulm und vertraute dort Hans Hirzel diejenigen für Stuttgart und für die nächsten Umgebung an, während Alexander Schmorell damit nach Innsbruck, Linz und Wien fuhr und auch die Flugblätter für Strassburg einwarf, und Willi sich in Saarbrücken, Köln, Strassburg und Freiburg um die Verteilung kümmerte. Das Unterfangen war für alle hoch gefährlich, die Strassen waren verdunkelt und überall waren beim geringsten Verdacht Gestapo-Kontrollen zu befürchten.

Am 3. Februar 1943 wurde über die Rundfunksender mitgeteilt, die Sechste Armee – etwa dreihunderttausend Soldaten – sei „der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse in Stalingrad erlegen“. Diese verheerende Nachricht, bei nicht das kleinste Bedauern über das menschliche Leiden ausgesprochen wurde, ferner die Unverschämtheit des Gauleiters im Rahmen der Universitätsfeier veranlassten Hans und Alexander sowie Kurt Huber zum Verfassen des siebten Flugblattes. Sophie nahm wieder das Adressieren und Einpacken auf sich. Etwas tausend Stück wurden in verschiedenen Etappen auf die Post gebracht, die restlichen im Keller des Ateliers hinter den Kohlen versteckt.

Am Donnerstagmorgen, 18. Februar 1943, beschlossen Hans und Sophie, die restlichen Flugblätter, einen Koffer voll,  in der eigenen Universität während einer Vorlesungsstunde, wenn die Korridore leer waren, auf den Treppen und Simsen zu verteilen. Kurz vor elf Uhr, gerade als sich die Türen der Vorlesungsräume öffneten und die Studierenden herausströmten, warfen sie von de Brüstung im zweiten Stock die letzten hundert in den Lichtsaal. Sie bemerkten zu spät, dass der Hausdiener sie bemerkt hatte und auf sie zustürzte. Sie wurden zum Rektor geführt, der sofort die Gestapo avisierte. Die Universität wurde abgesperrt, Hans und Sophie wurden durchsucht, ebenso ihre Wohnräume, eine grosse Anzahl Briefmarken wurden gefunden, in Hans‘ Jackentasche Papierschnitzel von einem handschriftlichen Flugblattentwurf von Christoph Probst, den Hans ungeschickterweise mit sich trug. Christoph Probst’s drittes Kind war eben zur Welt gekommen. Er hatte sich wegen der Schwangerschaft seiner Frau in den letzten Monaten viel stärker distanziert. Doch sofort wurde er in Innsbruck gefangen genommen und nach München zum Verhör gebracht.

Sophie hatte sich zuerst herausreden wollen, doch wie sie feststellte, dass Hans sich zur Widerstandsarbeit voll bekannte, tat sie es auch, ja sie betonte, dass letztlich ihr die grösste Schuld zukomme. Sie war erschüttert, dass auch Christoph Probst gefangen genommen worden war. Die Befragungen dauerten bis Sonntag. Als der Beamte zum Schluss Sophie fast betörend fragte, ob sie ihre Handlungsweise nicht bedauere, sagte sie in aller Ruhe, das tue sie nicht. –„Von meinem Standpunkt aus muss ich die Frage verneinen. Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue daher meine Handlungsweise nicht und will die Folgen auf mich nehmen.“

Es erfolgte ein offizieller Haftbefehl wegen Hochverrats und Feindbegünstigung, die Todesstrafe stand fest, auch für ihren Bruder und für Christoph Probst. Sophie konnte noch Abschiedsbriefe an ihre Eltern schreiben, die nach Bekanntwerden der Verhaftung sofort nach München gefahren waren. Robert Scholl wollte seine Tochter und seinen Sohn verteidigen, doch es gab keine Verteidigung. Die Verhandlungen im Schwurgericht unter Roland Freisler waren zum Vornherein entschieden. Beim Verlassen des Saals sagte Hans laut: „Heute erhängt ihr uns, morgen werdet ihr es sein, die erhängt werden.“

Am 22. Februar 1943 um 17 h wurde Sophie Scholl durch das Fallbeil hingerichtet, wenig später Hans Scholl und Christoph Probst. Die Familienangehörigen erhielten zwei Tage nach der Hinrichtung die Erlaubnis, die getöteten Kinder und Geschwister im Perlacher Friedhof beizusetzen.

Robert und Magdalena Scholl, Inge und Elisabeth wurden fünf Tage später in Ulm verhaftet, die Mutter und die Töchter zu vier Monaten, der Vater zu neun Monaten Haft verurteilt und anschliessend mit einem neuen Prozess wegen Rundfunkverbrechen zu zwei Jahren Zuchthaus. Werner war kurz vor der Gefangennahme von Hans und Sophie aus Russland für einen kurzen Urlaub nach Ulm zurückgekommen, wurde aber bald an die Front zurückbeordert und kehrte nicht zurück. Wo und wie er starb konnte nie geklärt werden, er gilt als verschollen.

Auch die Freunde von Sophie und Hans blieben nicht verschont. Willi Graf wurde noch vor der Hinrichtung seiner Freunde von der Gestapo abgeführt, auch Alexander Schmorell, der zu fliehen versuchte, ebenso Kurt Huber. Alle drei wurden ebenfalls zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Der grössere Freundeskreis – Hans Hirzel und seine Schwester Susanne, weitere Ulmer Mitschüler, die beim Verteilen der Flugblätter geholfen hatten, Eugen Grimminger, der die Herstellung der Flugblätter mitfinanziert hatte, nahe Freundinnen von Hans und von Sophie wie Gisela Schertling, Traute Lafrenz und Katharina Schüddekopf, Falk Harnach so wie zusätzliche Freunde aus Hamburg und Berlin, mit denen die Erweiterung der „Weissen Rose“ geplant worden war, wurden festgenommen und zu längeren oder kürzeren Haftstrafen verurteilt.

Es gab in der Folge keine „Welle des Aufruhrs“ in Deutschland, keine breite Fortsetzung der Zivilcourage, wie Sophie und Hans Scholl sowie ihre nächsten Freunde es mit ihrem Beispiel erhofft hatten. Die Gewohnheit von Anpassung und Unterwerfung sowie die Macht der Angst waren stärker. Trotzdem wurde durch die „Weisse Rose“ deutlich, dass die Betörbarkeit der Jugend nicht etwas Endgültiges war, dass sie durchbrochen werden konnte. Unrecht, das zum Recht erklärt wurde, wurde durchschaut und verweigert. Der Mut zum Nein-Sagen, der Widerstand gegen das erzwungene Gehorchen, die Sprache als Gegenmacht im öffentlichen Raum waren für eine ganze Gruppe junger Menschen und für einzelne Erwachsene, die sie dabei unterstützten, zur kreativen Kraft geworden, die sie wie Sterne aufleuchten liess

 

 

Literaturhinweise:

Gewalt und Gewissen. Willi Graf und die „Weisse Rose“. Eine Dokumentation von Klaus Vielhaben in Zusammenarbeit mit Hubert Hanisch und Anneliese Knoop-Graf. 1964, Freiburg im Breisgau, Herder Verlag.

Briefe und Aufzeichnungen. Willi Graf, Inge Jens. 1988, Frankfurt am Main, Fischer Verlag.

Ulrich Herrmann. Vom HJ-Führer zur „Weissen Rose“. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht. 2012, Weinheim/Basel, Verlag Beltz Juventa

Barbara Leisner. Sophie Scholl. „Ich würde es genauso wieder machen“. 2000, München. Econ Ullstein List Verlag.

Christian Petry. Studenten aufs Schafott. Die „Weisse Rose“ und ihr Scheitern. 1968, München, R. Piper Verlag.

 

[1] Swetlana Alexijewitsch (geb. 1948). Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. 2013 Berlin, Hanser Verlag

[2] Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945). Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. Eberhard Bethge. 1990 München, Chr. Kaiser Verlag. S. 14

[3] Sabine Leibholz-Bonhoeffer. vergangen-erlebt-überwunden. Schicksale der Familie Bonhoeffer. 1983 Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus.

[4] Es handelt sich um das Massaker, das auf Befehl Hitlers von Hermann Göhring und der SS (der „Schutzstaffel“ der NSDAP, die als Sonderpolizei schon 1925 von Hitler gegründet worden war) gegenüber der Führungsspitze und etwa 200 Funktionären der SA vollzogen wurde (der paramilitärischen „Sturmabteilung“ der NSDAP, die sich in Gegenposition zur Hitlers Machtkalkül, somit gegen Reichswehr und Wirtschaft stellte).

[5] Zur verhängnisvollen Entwicklung von Hitlers Herrschaft in Deutschland und in Europa findet sich eine grosse Literatur, u. a. Michael Burleigh. Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung. 2000 Frankfurt am Main. – Hans Magnus Enzensberger. Hammerstein oder der Eigensinn. 2008 Frankfurt am Main. – Ian Kershaw. Hitler 1889-1936. 1988 Stuttgart. – Hitler 1936-1945. 2000 Stuttgart. – Der NS-Staat. Geschichtsinterpretation und Kontroversen im Überblick. 1999 Reinbek b. Hamburg

 

Write a Reply or Comment