Das Recht, Rechte zu haben – Frauenrechte – Menschenrechte

Das Recht, Rechte zu haben – Frauenrechte – Menschenrechte

 

Nachdiplomstudium Interkulturelle Kommunikation

Universität Luzern 28.Februar 2001 / 02. März 2001

 

“Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden”, schrieb Ulrike Meinhof 1962. Vierzehn Jahre später, am 8. Mai 1976, wurde sie in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, eine Philosophin, Pädagogin  und Journalistin, eine Atomwaffengegnerin, die zur RAF-Terroristin wurde, für die Mächtigen eine Staatsfeindin, die es zu jagen und einzusperren galt, für viele Sprach- und Machtlose eine Kämpferin für Demokratie und Menschenwürde, für viele ihrer linken Zeitgenossen und Zeitgenossinnen das tragische Opfer einer fundamentalistisch verhärteten und damit inhuman gewordenen eigenen Theorie des richtigen Handelns, einer Theorie, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte und damit selbst zum Instrument von Unrecht wurde.

 

Ulrike Meinhof war vierzehn Jahre alt gewesen, als das deutsche Grundgesetz und die UNO-Menschenrechtserklärung geschaffen wurden, vierzehn Jahre alt, als sie auch Vollwaise wurde, nachdem der Vater schon im Jahr des Kriegsbeginns gestorben war. Da stand sie, nach einer Kindheit, während der Deutschland von Aufhetzung und Krieg gezeichnet war, auf der Schwelle zum Erwachsenenleben und wollte an die hohen Ideale, die in dieser ersten Nachkriegsverfassung festgehalten waren, glauben. Sie wollte mitverantwortlich sein für den Frieden, das heisst, sie wollte sich kompromisslos für die Achtung der politischen und sozialen Rechte aller Menschen innerhalb der staaatlichen Gemeinschaft einsetzen, sie wollte für ein Menschenbild einstehen, das auf der gleichen Achtung vor dem gleichen Menschsein aller gegründet war – der Kinder und der Greise, der Fremden und der Einheimischen, der Schwachen, Kranken und der Starken. Sie wollte auf keinen Fall mit Mächtigen paktieren, die ihren Aufstieg durch Beihilfe im nationalsozialistischen System geschafft hatten und nach Kriegsende bloss das Hemd wechselten, um weiterhin an der Macht zu bleiben.

Als sie im Jahr 1962 für “konkret”, die Zeitschrift, für die sie als freie Journalistin und als Chefredaktorin gearbeitet hatte, den kurzen Text mit dem Titel “Die Würde des Menschen” schrieb, da war, stellte Ulrike Meinhof fest, der Verrat am Grundgesetz von 1948 schon eine – parlamentarisch abgesegnete – Tatsache, eine Tatsache, die sie nicht aktzeptieren wollte. Sie berief sich darauf, dass das Grundgesetz doch aus dem Wissen geschaffen worden war, dass alles Unrecht, das zwischen 1933 und 1945 in Deutschland getan und zugelassen wurde – die systematisch geplanten und durchgeführten, nie wieder gutmachbaren  Verbrechen von Antisemitismus, von Rassismus gemeinhin, von nationalsozialistischer Diktatur und Krieg, von grenzenloser Menschenverachtung und Gewalt  -, dass dies alles auf der Grundlage ursprünglich demokratisch geschaffener, gültiger Gesetze und durch die offene oder schweigende Zustimmung von Millionen von Menschen geschehen war.

Das Grundgesetz hätte eine unumstössliche Garantie gegen die Gefahr neu entstehender, institutionell abgesicherter Menschenverachtung sein sollen. Doch blosse 14 Jahre später, stellte Ulrike Meinhof voller Verzweiflung fest, blieb von dieser Garantie nicht mehr viel übrig: zuerst durch die 1956 beschlossenen “Wehrartikel”, die atomare Aufrüstung der BRD im Rahmen der NATO, wodurch das Bekenntnis zu einem unbedingten Frieden verraten wurde, dann wenige Jahre später durch die Notstandsartikel, die den Verrat an einer widerspruchsbereiten, veränderungsfähigen, politisch offenen Demokratie bedeuteten.

Es wurden zwar in Deutschland nicht wieder Tötungsfabriken und Verbrennungsöfen für Menschen gebaut, aber Deutschland war wieder Mitglied in einem Militärbündnis, das vor konventionellen, chemischen, biologischen und atomaren Waffen strotzte und bereit war, diese einzusetzen, um Menschen zu töten, erneut, wie im Krieg, der damals erst seit einem Jahrzehnt vorüber war, wie in jedem Krieg. Und, stellte sie fest, die Medien waren wieder Zudiener und Trabanten der Mächtigen, und aus Machtkalkül wurden wieder Feindbilder gezimmert, mit deren “Bekämpfung” , das heisst unter dem Vorwand “des Erhalts des Friedens und der Abwehr der kommunistischen Gefahr”, wie die Formel hiess, die Gesetze und die Waffen legitimiert wurden. Für Ulrike Meinhof stand fest, dass, wenn Menschen aus “Staatssicherheitsgründen”, ob aus Gründen der sogenannten “äusseren” oder der sogenannten “inneren Sicherheit” zu Feinden erklärt, verhaftet und gar zusammengeschossen werden dürfen, wenn der Staat sogar Gewalt gegen Menschen für legitim erklärt, die sich nach demokratischen Spielregeln organisieren, um nicht den Besitzstand einiger weniger, sondern das gerechte und friedliche Zusammenleben der vielen zu verteidigen, dass es dann keine institutionelle Garantie mehr gegen Menschenverachtung gibt. Denn letztlich benutzte der Staat die Hetze gegen die extremistische RAF, um die eigentliche Demokratiebewegung über Parteienverbote, Verbands- und Berufsverbote auszuschalten.

Die Würde der Menschen war wieder antastbar geworden.

Und das Perfide war, dass all dies unter dem Anschein der Rechtmässigkeit daherkam, unter dem Anschein der biederen  patriotischen Normalität.

Als Hannah Arendt im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess von 1960 von der “Banalität des Bösen” sprach, mit der sie das perfekte Funktionieren der grossen Todesmaschinerie Hitlers, mit der ein ganzes Volk ausgerottet werden sollte, durch die Beihilfe ungezählter Einzelner erklärte, durch den häufig unspektakulären Teil, den diese unter dem Titel von Pflichterfüllung und Beamtengehorsam dazu beitrugen, so meinte sie dies: die Angewöhnung an Scheinerklärungen und Lügen, an machtgestützte Deklarationen, was “normal” und was “nicht normal” sei, mit denen Machtmissbrauch erklärt, Gehorsam gefordert und Gewissensbisse ausgeschaltet werden, unmerklich, Schritt für Schritt – die Angewöhnung an die Antastbarkeit der Würde, dann an die widerstandslose Unterwerfung unter das Unrecht.

Was ist “die Würde” der Menschen?

Das Wort klingt formelhaft und abgenutzt. Es ist zur Hülse geraten. Warum?

Die Frage stellt sich zu Recht, welches Menschenbild mit dem Begriff „Menschenrechte“ verbunden wird. Geht es dabei tatsächlich um eine Aufhebung der Geschlechterdifferenz im Zusammenhang der Rechte? War das Menschenbild im Jahr 1948, dem Jahr der „Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte“, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den entsetzlichsten Menschenschlächtereien, tatsächlich eine Korrektur im Sinn der Kant’schen Maxime, dass jeder Mensch die ganze Menschheit darstellt?. Und wie ist es heute? Ist die Geschlechterdifferenz im Zusammenhang der menschlichen Rechte tatsächlich aufgehoben? Erleben Frauen keine sexistischen Herabsetzungen mehr? Erleben sie in jeder Hinsicht den gleichen Respekt als Mensch wie die Männer? Haben sie die gleichen Arbeitsmöglichkeiten und die gleichen Löhne?

Rechte beruhen auf der Tatsache, dass Menschen in Beziehungen leben, ja, dass es ohne die Tatsache der Beziehung zwischen Menschen keine Menschen gäbe. Wie aber spielen sich die Beziehungsverhältnisse im Zusammenhang der menschenrechtlichen Sicherheit aus? Hannah Arendt hielt fest, dass durch die Gegenseitigkeit ihrer Anerkennung als Mensch komme den Menschen das Recht zu, Rechte zu haben. Tatsache ist auch, dass unter Verletzung, Missachtung und gewaltsamer Zerstörung der menschlichen Würde in Beziehungen vor allem Frauen und Kinder zu leiden haben, mit schwerwiegenden Folgen. Nach wie vor haben die Religionen und hat die Sprache einen mächtigen Einfluss (Beispiele: Frau A., Tochter methodistischer Eltern aus der Schweiz, als ältestes Kind geboren nach zahlreichen Schwangerschaftsproblemen ihrer Mutter, nach knapp eineinhalb Jahren ein Sohn geboren, Folgen in der Entwicklung, Ehe und Kinder; Bosnienkrieg, z.B. E. / Prijedor mit Lager, Abortus und folgen; A. / Lager nach Tötung von Ehemann in Derventa, oder Sanija / Montenegro und innerschweiz. Kanton mit verlust der Mutterliebe und Wiederholung hier; so auch Kosovo-Krieg (A. / Drenica und schweiz. Psychiatrie; oder S., Mutter und Familie / Rahovac).

Bezüglich der Sprache ist im Deutschen, wie Sie wissen, erst von 1991 an die feministische Korrektur erfolgt, z.B. dass zugleich Studentinnen und Studenten, Ärztinnen und Ärzte, Kontrolleur und Kontrolleurinnen etc. in öffentlichen Darstellungen zu nennen waren. In welchem Ausmass im Deutschen die Tatsache der Neutrum-Geschlechtsform – das Mädchen, das Kind, das Fräulein etc. – die Minderrechtsgeschichte der Frauen beeinflusst, ist in meiner psychoanalytischen Arbeit immer wieder Thema der Erforschung (Beispiel: Frau A.B. mit ständigen Ich-Herbsetzzungen, Lehrerin, aus männermächtiger Familie, sowohl was den Vater wie was die Brüder betrifft).

Eine nach wie vor herabsetzende MRechtedifferenz zeigt sich betr. Löhne der Frauen im Vergleich zu den Löhnen der Männer, d.h. betreffend den Wert von geleisteter Arbeit resp. von Kraft und Zeit: s. Arbeiterinnenbuch (Photographieausstellung nun in Baden im Historischen Museum). Die extremste Zuspitzung in dieser Hinsicht betrifft die Striptease-Tänzerinnen (dreimonatlicher Aufenthalt in der CH in der totalen Rechtlosigkeit, Herumschiebung von Monat zu Monat wie eine Ware ohne Wahlmöglichkeit und ohne Schutz. Beispiel: Frau M. aus Puerto Rico, oder Frau G. aus den Philippinen).

Was wir heute als eine angstfreie, aktive Auflehnung gegen die geschlechtsbedingte Menschenrechts-Differenz feststellen, war schon so seit Jahrhunderten und führte zu jener historischen Linie, die zugleich mit der Frauenrechtsbewegung und der Menschenrechtserklärung einherging. Die Französische Menschenrechtserklärung von 1789 war ausschliesslich die „Déclaration des Droits des hommes“ und nicht „des Droits de la femme et de la citoyenne“, wie eine ganze Reihe von klugen und mutigen Frauen schon damals feststellte und unter Lebensgefährung zu korrigieren suchte, so z.B. Olympe de Gouges; ausser auf dem Schaffott gab es keine Gleichberechtigung, wie sie feststellte und wie ihr auferlegt wurde zu ertragen, weil sie mit der von ihr geschaffenen „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne“ zu korrigieren versuchte. Sie gehörte zu den Frauen, die schon vor zweihundert Jahren öffentlich gegen das Unrecht der vielfachen Diskriminierungen und Demütigungen ihres Geschlechts aufbegehrten. Eine knappe Schilderung ihrer Entwicklung soll dies deutlich machen.

Olympe de Gouges, deren Geburtsschein auf Marie Gouze lautete, war im Süden Frankreichs in armseligen Verhältnissen aufgewachsen. Sie konnte kaum ihren eigenen Namen fehlerfrei schreiben, als sie mit siebzehn Jahren nicht nur Mutter eines Sohnes, sondern auch schon Witwe war und beschloss, sich nicht mehr zu verheiraten, für sich selber einzustehen, nach Paris zu ziehen und sich eine Stimme zu geben. Je mehr sie sah und erlebte, desto stärker wuchs ihre Empörung über das vielfache Unrecht, und als sie 1780, mit 32 Jahren, zu publizieren begann, brannte ihr das Unrecht buchstäblich unter den Fingern: die Sklaverei, die Rechtlosigkeit der Frauen, die Schuldenhaft, die unbeschreiblichen Zustände in den Armenspitälern, Gebäranstalten und Waisenhäusern, das Elend und der Schmutz in den überbevölkerten Faubourgs, in allem der Skandal der menschlichen Entwürdigung durch Gewalt und Arroganz. Sie schrieb oder diktierte an die dreissig Theaterstücke, dazu ungezählte Streitschriften, Manifeste, öffentliche Briefe, Anklagen und Plädoyers, ohne sich durch Feindseligkeiten und Verfolgungen der durch sie angegriffenen Mächtigen, insbesondere Robespierres, einschüchtern zu lassen. Robespierre liess sie verhaften und gefangensetzen und veranlasste, dass sie schliesslich, am 3. November 1793, auf dem Schafott enthauptet wurde.

Olympe de Gouges war in ihrem Kampf nicht allein. Allein in den vier Jahren zwischen der Revolution von 1789 und ihrer Hinrichtung erschienen über hundert Druckschriften zur Frage der Frauenrechte, unter denen Olympes „Erklärung der Rechte der Frauen und Bürgerinnen“ von 1791 ohne Zweifel das bedeutendste Manifest ist, einerseits durch die Klarheit der Forderung gleicher ziviler und politischer Rechte für Männer und Frauen, andererseits durch die im Nachwort vorgenommene Analyse der Gründe für die Verachtung und Unterdrückung der Frauen, für deren Armut sowie für deren Abhängigkeit von Ehe- und anderen Männern. Sie kam darin zum Schluss, dass die politischen Grundrechte noch kein Leben in Würde garantieren, wenn nicht gleichzeitig die wichtigsten Persönlichkeitsrechte anerkannt und respektiert werden. Sie verlangte Ehe- und Konkubinatsverträge, in welchen die gleichen Bedingungen für die Frauen wie für die Männer festgehalten werden, Rechtsschutz für unverheiratete Mütter bei der Vaterschaftsermittlung, Rechtsanspruch von Frauen und Kindern auf die Zahlung von Alimenten, das Recht unehelicher Kinder auf die väterliche Erbschaftsfolge und vieles mehr.

In ihren Fussstapfen ging die 1803 geboren Flora Tristan weiter. Nach einer Kindheit und Jugend in grosser Armut heiratete sie mit achtzehn Jahren ihren Lehrmeister im Kupferstechen, der sich jedoch nicht nur zunehmend verschuldete, sondern auch immer gewalttätiger wurde, so dass sie sich von ihm nach vier Jahren trennte. Ihre drei Kinder vertraute sie der Obhut ihrer Mutter an, arbeitete als Hausangestellte, machte Reisen nach England und nach Peru, dem Herkunftsland ihres früh verstorbenen Vaters, verglich die Lebensbedingungen der Frauen und der Lohnabhängigen, doch kehrte sie wegen schwerer Depressionen wieder nach Frankreich zurück. In einer 1835 veröffentlichten Schrift stellte sie die Forderung auf, dass mit Hilfe des Staates Häuser für Frauen, die unterwegs sind, vor allem für fremde Frauen, gebaut würden, damit diese nicht belästigt würden, wie dies in den allgemeinen Herbergen der Fall sei. Sie trat in Kontakt mit Charles Fourier und anderen Frühsozialisten. Gleichzeitig wurde sie ständig von ihrem Ehemann verfolgt, wurde von ihm tätlich angegriffen und musste schliesslich erleben, dass dieser ihre damals zehnjährige Tochter entführte. Sie reiste ihm durch ganz Frankreich nach und holte sie wieder zurück, doch zwei Jahre später entführte er sie erneut und versuchte, sie zu vergewaltigen, worauf Flora Tristan ihn anklagte und vor Gericht brachte. Er wurde zur Galeere verurteilt, verletzte sie aber vorher noch mit einem Pistolenschuss unterhalb der Brust.

Flora Tristan kämpfte unentwegt weiter, nicht nur für sich und ihre Kinder, sondern für alle Frauen, die unter vergleichbaren Bedingungen der Armut und der Gewalt litten. „Der am meisten unterdrückte Mann kann noch ein anderes Wesen unterdrücken: seine Frau. Sie ist die Proletarierin ihres eigenen Proletariats“, schrieb sie  in ihrem grossen politischen Werk „Arbeiterunion“. Sie erkannte, dass es eine gemeinsame Ursache für die Brutalität den Frauen gegenüber und für die Ausbeutung der Arbeiter gibt, und dass dem Elend nur abzuhelfen ist, wenn der Menschenausbeutung und Menschenverachtung, die durch das kapitalistische System geschaffen und durch den kruden, ausschliesslichen Zweck  der Mehrwertsteigerung legitimiert wird, eine verbindliche Solidarität der Menschen untereinander – der Frauen im gleichen Mass wie der Männer – entgegengestellt werden kann. Dies war die Vision, die Flora Tristan mit der „Arbeiterunion“ verband, für welche sie unentwegt herumreiste und zu überzeugen versuchte. Sie erschöpfte sich dabei, litt zunehmend auch an den Folgen der durch den Ehemann zugefügten Schussverletzung und starb im Alter von fünfundvierzig Jahren in Bodeaux im Jahre 1848.

Auch Flora Tristan kämpfte zu ihrer Zeit nicht allein. Im Lauf der revolutionären Ereignisse von 1832, nach dem Sturz des Königs Charles X., formulierten zum Beispiel Arbeiterinnen aus den Pariser Manufakturen einen „Aufruf an die Frauen“, in welchem sie sich fragten, ob sie angesichts der „grossen Bewegung für die soziale Emanzipation passiv“ bleiben sollten. „Ist denn unser Los so glücklich, dass wir nicht auch etwas zu fordern hätten? Bis jetzt wurden die Frauen ausgebeutet und tyrannisiert. Diese Tyrannei und Ausbeutung müssen aufhören. Wir werden frei geboren wie der Mann, und die eine Hälfte der Menschheit kann nur  durch das Unrecht der anderen untergeordnet werden. Besinnen wir uns auf unsere Rechte, erkennen wir unsere Stärke (…). Lehnen wir jeden Mann als Ehemann ab, der nicht so grosszügig ist, freiwillig seine Macht zu teilen. Wir wollen nicht länger die Regel annehmen: Frau, sei deinem Mann untertan!“

Dieser Aufruf wurde in einer Zeitschrift veröffentlicht, die im gleichen Jahr von Frauen gegründet und von Frauen redigiert wurde, und die unter verschiedenen Namen – „La Femme libre“ oder „Tribune des Femmes“ etc. – bis 1834 erschien, in Auflehnung gegen ein Gesetz, das Frauen untersagte, ohne männliche Einwilligung Zeitschriften zu publizieren. Das Ziel der Veröffentlichungen war, über Schicht- und Standesunterschiede hinweg eine grosse Koalition aller Frauen zu erreichen, um die Gesellschaft im „privaten“ wie im „öffentlichen“ Bereich zu reorganisieren.

Noch jahrzehntelang kämpften die Frauen weiter für diese „Reorganisation“, jede Generation wieder von neuem, und noch heute können sie sich nicht zur Ruhe setzen. Weder der Missbrauch von Kindern noch die Herabsetzungen und Demütigungen von Frauen sind geringer geworden. Das Berner Frauenhaus ist weiterhin nötig. Wie Olympe de Gouges vorhersah, genügt es nicht, dass die politischen Grundrechte der Frauen innerhalb eines nationalen Systems anerkannt sind. Selbst die ausländischen Frauen, die in der Schweiz noch häufiger als einheimische Frauen Opfer von  männlicher Gewalt werden, haben in ihrem Herkunftsland das Wahl- und Stimmrecht, und die Tatsache, dass sie in der Schweiz in politischer Hinsicht in der Regel diskriminiert sind, genügt nicht, um das Ausmass von versteckter und offener Gewalt zu erklären, der viele von  ihnen ausgesetzt sind.

Jede Gewalt, die angetan wird, muss auf ihre Ursachen hin und damit auf die lange Geschichte vorangegangener Demütigungen und vorangegangenen Leidens an Gewalt befragt werden. Es gibt keine Unausweichlichkeit in der Geschichte, keinen unbedingten Zwang zur Wiederholung. Die individuellen wie die familiären wie die grösseren kollektiven Geschichten sind veränderbar. Sie können jedoch nur dann eine Veränderung finden und sich nicht weiter wiederholen, wenn die Geschichten mit Bedacht und Umsicht aufgearbeitet werden. Dazu bedarf es in persönlicher Hinsicht einer Bereitschaft zu verstehen, die häufig erst unter dem Druck des Leidens erwächst. Hierin liegt die therapeutische Chance für Opfer wie für Täter. Und in sozialer und kultureller Hinsicht bedarf es Bedingungen der Sorgfalt, damit eine „Heilung“ kranker Verhältnisse auf nachhaltige Weise möglich wird (nicht von ungefähr haben „Therapie“ und „Kultur“ etymologisch die gleiche Bedeutung).

Das Zusammenleben der Geschlechter und der Generationen kann allerdings nur dann angstfreier und gerechter werden, wenn Gewalt in keinem System mehr, auch nicht in jenem der Wirtschaft, zum „courant normal“ gehört oder gar verherrlicht wird. Menschen dürfen nicht austauschbar gemacht werden wie Ersatzteile einer Maschine, sie dürfen –  ob aus Gründen der Profitsteigerung, ob aus versicherungstechnischen Gründen oder ob aus irgend welchen anderen – weder für unnütz noch für überflüssig erklärt werden. Wenn Ethik überhaupt noch verbindliche Massstäbe setzen kann, muss diese Maxime allen anderen übergeordnet werden. Insofern ist Flora Tristans Einsicht über die gemeinsame Ursache der Brutalität gegen Frauen und der demütigenden Verunsicherung von Lohnabhängigen auch heute noch – oder gerade heute –  ernst zu nehmen. Ebenso scheint mir ihre Vision eines gemeinsamen Widerstandes von Frauen und Männern gegen die Unerträglichkeit systematischer Menschenverachtung und Menschenausbeutung nicht keineswegs unrealistisch. Der Leidensdruck ist, im Vergleich zu den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts, nicht nur gewachsen, sondern auch bewusster geworden.

Von der philosophischen Analyse her erscheint mir daher neben der Universalität die „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte die bedeutendste Errungenschaft. „Unteilbarkeit“ bedeutet, dass alle in der „Deklaration“ aufgeführten Menschenrechte in einer gleichrangigen Interdependenz Beachtung verlangen. Werden die Menschenrechte in einem Bereich verletzt, sind auch alle anderen Bereiche davon betroffen. Zum Beispiel: Wird das Recht auf Bildung (Art. 26), auf Arbeit (Art. 23) oder auf soziale Sicherheit (Art. 22) verletzt, so sind auch die bürgerlichen und politischen Rechte verletzt, da zum Beispiel die Teilnahme und Mitsprache an politischen Entscheidungen unter Bedingungen der Bildungsschwäche oder des prekären materiellen Überlebens nicht möglich ist. Ein anderes Beispiel: Von politischer Verfolgung, Ausgrenzung, in gewissen Ländern sogar von Folter sind oft Menschen betroffen, die sich für die Durchsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte einsetzen, etwa indem sie sich organisieren. So verhält es sich auch in der Schweiz. Internationale Übereinkommen, die sie ratifiziert hat, verletzt sie auf beschämende Art, so gerade durch die Ausschaffungspraxis von Flüchtlingen oder durch entwürdigende, von Feindseligkeit, Dissuasionsgeist und Minimalismus geprägte Aufnahme- und Unterbringungspraxis (grösste Einschränkung der Bewegungsfreiheit, keine Betätigungsmöglickeit, knappste Versorgung mit Geld, häufig monatelang keine Einschulung der Kinder etc.).

Die rassistischen Auswirkungen gegen Kinder, Jugendliche und Frauen (im gleichen Ausmass auch gegen hilflose Männer) sind folgenschwer. Ein Beispiel: Vor einigen Monaten meldete sich ein vierzehnjähriges Mädchen aus Albanien an einer der sog. Empfangsstellen. Am Tag zuvor war sie in die Schweiz eingereist, unbegleitet, allein. Sie hiess Leonita. Insgesamt sieben Tage verbrachte sie an diesem stacheldrahtumzäunten, unfreundlichen Ort, der von allen Flüchtlingen, die ich kenne und die mir von ihrem Aufenthalt dort erzählt haben, als Ort der Entmutigung, als ängstigend und einschüchternd geschildert wird. Bei jenen, die in ihrer Heimat in Lagern oder Gefängnissen waren, werden dort beklemmende Erinnerungen wach. Wie wirkt ein solcher Ort erst auf ein Kind? Während seines Aufenthalts in Kreuzlingen wurde Leonita einmal von einem Beamten oder einer Beamtin des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF) kurz befragt, vermutlich eher oberflächlich: denn die Befragungen werden nach einem pauschalen Muster vorgenommen.  Am 17. Februar erfolgte die Zuweisung an den Kanton Zürich, Leonita verbrachte die Nacht in einem Durchgangszentrum in der Stadt und wurde am nächsten Tag einem der Durchgangszentrem ausserhalb der Stadt zugeteilt, das auf die Betreuung unbegleiteter Jugendlicher spezialisiert ist. Leonita wurde in die Sonderklasse des Durchgangszentrums eingeteilt. Sie durfte, wie es ihrem Alter entspricht, zu lernen beginnen, zusammen mit Gleichaltrigen aus den verschiedensten Herkunftsländern. Vielleicht konnte dies wirklich einen Neuanfang bedeuten? Was sich jedoch als Hoffnung regte, was wie eine Chance aussah, dauerte kaum drei Wochen. Am 6. März teilte ihr das BFF per Post den negativen Asylentscheid mit, mit der Erklärung, Albanien gehöre zu den „save countries“, mit anderen Worten, dort lasse es sich „in Sicherheit und Würde“ leben. Dem Kind wurde eine Frist bis zum 20. März gesetzt, um sog. „freiwillig“ auszureisen. Aber wollte Leonita das? War das gut für sie? Hatte sie deswegen den Abschied von Zuhause auf sich genommen, ihre Angehörigen, Freundinnen, vielleicht ihre Tiere, mit denen sie gespielt hatte, hatte sie deswegen alles zurückgelassen? Hoffte sie, es würde vielleicht doch nicht wahr sein? Auf jeden Fall begann sie Mitte eines Frühlingsmonates an einem Projekt mitzuarbeiten, dessen Installation am 18. April in einem Dorf nahe der Stadt öffentlich begangen wurde. Das Projekt verbindet Tonaufzeichnungen von Asylsuchenden mit der künstlerischen Installation von Röhren auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Gebäuden, aus denen die Stimmen der Asylsuchenden zu hören sind. Doch am 30. März musste sie gemäss einer Weisung das Durchgangszentrum verlassen.

Sie wurde einer begleiteten albanischen Jugendwohngruppe in Zürich zugeteilt. Wieder ein Wechsel, wieder eine Entwurzelung. Wieder frage ich mich: wie viele Entwurzelungen erträgt ein Kind? Wie viele Entwurzelungen erträgt ein Mensch? Wie viel Infragestellung oder gar Zerstörung des eigenen inneren Wertes? Trotz der neuen Aufenthaltssituation wollte sie am Projekt weiterarbeiten, und zu diesem Zweck mehrmals wöchentlich nach dem Durchgangszentrum ausserhalb der Stadt zu fahren.  Jedoch am 2. April , nachts um zehn Uhr, tauchten im Haus, wo sie wohnte, drei zivil gekleidete Beamte der Fremdenpolizei auf. Sie verhafteten die Vierzehnjährigen, steckten sie in irgendeine Zelle, bis sie drei Tage später, am 5. April, per Flugzeug nach Tirana ausgeschafft wurde.

Die Frage ist, ob ein Unrecht, das im Namen des Gesetzes erfolgt, weniger Unrecht ist. Die Schweiz hat bekanntlich die Konvention über die Rechte der Frauen, auch über die Rechte des Kindes ratifiziert. Was Leonita angetan wurde, ist ein Hohn auf die Frauen- und Kinderrechtskonvention, ist ein Hohn auf die Glaubwürdigkeit jeder bundesrätlichen Unterschrift unter ein auf Humanität verpflichtendes Dokument. Dass das Recht eines Kindes auf Schutz seiner Grundbedürfnisse, dass zum Beispiel sein Recht auf einen Vormund, der die Würde seiner so ungeschützten Persönlichkeit verteidigt, mit Verachtung übergangen wird, und dies im Namen des Rechtsstaates Schweiz, ist ein offiziell begangenes Unrecht – unter vielen anderen, die erzählt werden könnten[1].

Eine letzte Frage betrifft die Behauptung, wir seien am Ende der Ideologien angelangt. Ist jedoch nicht gerade die überall aufkeimende und mit Gewalt durchgesetzte Ethnisierung eine der gefährlichsten Gegenbewegungen zum friedlichen Kampf um eine universale Umsetzung der Menschenrechte, insbesondere für Frauen? Wie viel klingt davon in den Slogans von Rechtsaussen nach, die „Schweiz gehöre den Schweizern“? Wie kann der weit verbreiteten Angst um den Verlust des herkömmlichen Eigenen in Kultur und Tradition entgegengewirkt werden, ohne dass sich neue Feindbilder, Ausgrenzungen, ja blutige Vernichtungsaktionen der Anderen durchsetzen? Mit anderen Worten: Wie können die Menschenrechte, nun über fünfzig Jahre nach ihrer Verkündigung, endlich zu einem weltweiten Instrument der Akzeptanz der multiples Differenz der Menschen, jedoch des gleichen Menschseins und daher der gleichen rechtlich gesicherten Lebens- du Entfaltungsmöglichkeit?

Und hier in der Schweiz? Was lässt sich tun? Kritische Urteilskraft aufbauen, Propaganda hinterfragen, Vorstellungskraft trainieren, d.h. sich an Stelle derjenigen Menschen setzen, um die es beim Abbau von Rechten geht, Koalitionen eingehen mit Menschen, die ebenfalls für eine tatsächliche Umsetzung der Menschenrechte kämpfen, vor allem für das Recht, dass Menschen – auch hier in der Schweiz – verschieden zu sein dürfen, und trotzdem den gleichen Anspruch auf Persönlichkeitsrechte, Sozialrechte, politische Mitbestimmungsrechte, kurz auf ein würdiges, angstsfreies Leben haben. *

 

[1] Die 1998 von Bundesrat A. Koller und von der Mehrheit des bürgerlichen Parlaments beschlossene Revision des Asylgesetzes – die 8. Revision seit dessen Einführung  im Jahre 1979 – sowie die dringlichen Massnahmen gegen sog. „papierlose Ausländer“ ist nochmals eine schwerwiegende Amputation des Menschenrechts auf Asyl (Art. 14 UNO-MR-Deklaration) sowie ein Verlust wichtiger rechtsstaatlicher Prinzipien. Tatsache ist, dass wirklich bedrohte Menschen aus repressiven Regimes nicht über Papiere verfügen (Frauen, Refraktäre, Deserteure usw.). Schnellverfahren in den Empfangsstellen, d.h. knappe, summarische Befragung, rasche, nur summarisch begründete Entscheide über das Nicht-eintreten, eine lediglich 24-stündige Frist für einen – in einer der Landessprachen abgefassten – Rekurs vor der Asylrekurskommission, sofortige Vollzugsmöglichkeit – all dies sind Komponenten eines unwürdigen Pseudo-Verfahrens, das Menschen zu Rechtlosen stempelt. Dazu kommt, dass per dringlichem Bundesbeschluss diese Massnahmen als Notrecht überstürzt eingeführt werden. – Als Reaktion darauf die zwei Referenden, die nun zustandegekommen sind.

 

Zunehmende Verhärtung der Asylfeindlichkeit: Einsatz der Armee an den Grenzen und bei der „Bewachung“ (unter dem Titel der „Betreuung“) der Asylsuchenden, nochmalige Reduktion der Betreuungs-Tagespauschale auf frs. 14.- (Rückerstattungspauschale des Bundes an die Kantone pro Person), „schamlose“ Aufhetzung der rechtsbürgerlichen Kreise – inkl. FDP – gegen die Asylsuchenden etc.

 

 

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